Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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ab. Der Ausblick stimmte ohnehin schwermütig, da das graue Licht des Tages wie Blei auf abgeernteten Feldern und gelbbraunen Wiesen lag. Er musterte seine junge Frau unauffällig. Sie war bleich, die beschwerliche Fahrt bekam ihr nicht. Schützend lag ihre Hand auf ihrem Bauch. Hatte er ihr zu viel zugemutet? Die lange Reise auf schlechten Wegen, fremde Menschen dicht neben ihr in einer unbequemen Kutsche und als Ziel dieses unbekannte Dorf weitab von ihrer Heimat.

      „Es kann nicht mehr weit sein“, sagte er halblaut, bemüht, das Rauschen des Regens und das Knarren der gequälten Achsen zu übertönen, ohne dabei die beiden Mitreisenden zu wecken.

      Sie lächelte dankbar und deutete mit dem Kinn auf die Männer. „Ich muss mir immerzu vorstellen, wie es wäre, wenn ihnen die Köpfe abfielen!“, flüsterte sie.

      Die zwei Handelsleute aus Sondershausen waren trotz des starken Schaukelns auf den miserablen Straßen der preußischen Provinz eingeschlafen. Ihre Schädel wackelten im Takt der Schlaglöcher.

      Wilhelm grinste. Wenn Lenchen ihren Humor nicht verloren hatte, konnte es so schlimm nicht sein. Er fasste nach ihrer Hand, die auf den zerschlissenen Polstern lag.

      Das Unglück kam, nicht wie erwartet, in Form von Wasser durch das Dach, sondern als gewöhnlicher Karossenschaden. Ein harter Schlag fuhr in das Gefährt, es neigte sich bedrohlich zur rechten Seite. Die beiden Handelsreisenden rutschten von der Bank, wobei der eine mit dem Kopf in Magdalenas Schoß landete, während der andere sich reflexartig auf Wilhelms Knie abstützte. Ein erstickter Schrei ging unter im lauten Fluchen des Kutschers und im erschrockenen Wiehern der Pferde.

      Ein weiterer Ruck und der Wagen stand, wenn auch mit Schlagseite. Wilhelms Gegenüber rappelte sich auf, entschuldigte sich schlaftrunken und öffnete die Tür. Der andere Händler suchte mit hochrotem Kopf nach seinem Hut. Wilhelm sprang hinaus in den Regen. Die Gäule tänzelten nervös und verdrehten schnaubend die Hälse. Der Kutscher redete ihnen beruhigend zu, während er die Zügel am Kutschbock festband. Gewandt kletterte er herunter und beugte sich unter die schiefhängende Karosse.

      „Was ist passiert?“, fragte Wilhelm.

      „Ein Splint an der Aufhängung!“ Der Mann fluchte halblaut und schob seinen Regenhut in den Nacken. „Zum Glück ist es nicht die Achse. Wenn wir im nächsten Dorf einen Stellmacher finden, ist der Schaden schnell behoben!“

      „Im nächsten Dorf?“

      „Ja, wir sind kurz vor der Station Elende. Ich spanne ein Pferd aus und reite hin. In einer halben Stunde kann ich wieder hier sein.“

      „Wie weit ist es noch bis Friedrichslohra?“

      „Ein bis zwei Meilen, schätze ich. Es liegt am Berghang oberhalb von Elende. Aber bei dem Wetter und mit Ihrem Gepäck rate ich von einem Fußmarsch ab. Schon gar nicht in dieses Dorf.“ Der Mann begann, das vordere Kutschpferd abzuschirren.

      Bereits beim Einsteigen in Sangerhausen hatte der Kutscher ihn neugierig gemustert, als Wilhelm sein Reiseziel nannte.

      „Was ist mit diesem Dorf?“

      Der Mann antwortete nicht, das rechte Pferd drängte sich unruhig gegen ihn, als er versuchte, es auszuschirren. „Ruhig, Mose, ruhig. Alles in Ordnung.“

      Magdalena steckte den Kopf aus der Tür. „Wie lange wird es dauern?“ Ihre müden Augen flehten, er überlegte, wie er ihr sagen konnte, dass sie in dieser Schieflage ausharren mussten, bis sich ein Handwerker gefunden hatte.

      Einer der Händler antwortete ihr: „Geduld, gnädige Frau. Der Kutscher reitet los, jemanden aus dem Dorf zu holen.“ An Wilhelm gewandt, fuhr er fort: „Wir sollten uns ins Trockene setzen, mein Herr. Eine Erkältung ist sicher das Letzte, was wir von dieser Reise mitbringen wollen.“

      Schwere Hufschläge verklangen im nahen Wald. Das zurückgebliebene Pferd wieherte verstört und versuchte zu folgen. Ein kräftiger Ruck ging durch das Gefährt.

      „Brrr!“, rief Wilhelm. „Steigen Sie ruhig ein, ich gehe mal nach den Zügeln sehen.“

      Während er die Bremsen und Leinen überprüfte und dem braunen Hengst den Hals klopfte, vernahm er erneut Hufgetrappel, doch kamen die Geräusche aus der anderen Richtung. Eine leichte Anhöhe, die sie kurz vor ihrem Unglück überwunden hatten, versperrte die Sicht. Er kletterte auf den Kutschbock, was die instabile Karosse gehörig ins Schwanken brachte.

      „Wilhelm, was tust du?“, hörte er Magdalena ängstlich rufen.

      Von seinem Standpunkt aus konnte er den Weg besser einsehen. Was er erblickte, ließ ihn die Stirn runzeln. Über dem nahen Horizont schwankten bunte Stoffe im Regen, deren Farben sich gegen den tristen Herbsttag behaupteten. Sie wuchsen aus dem Nebelgrau des Tages heraus, wurden größer und farbenprächtiger. Gleichzeitig schwoll das Geräusch klopfender Hufe und knarrender Deichseln zu einer solchen Stärke an, dass selbst in der Kutsche das Regenprasseln übertönt wurde, denn er hörte Magdalena erneut rufen: „Wilhelm, was ist das?“

      Er hielt die Hand über die Augen, um das Wasser abzuhalten. Im selben Moment hob sich der erste bunte Stofffetzen vollends über den Wegkamm und wurde zur Plane eines von stämmigen Pferdchen gezogenen Wagens. Wilhelm musste lachen.

      „Zigeuner! Es sind Zigeunerwagen“, rief er in die Kutsche hinunter.

      Während er hinabkletterte, schwang die Tür auf und Magdalena sprang heraus, die Augen erwartungsvoll aufgerissen. Aus dem Dunkel des Wagens hörte er den Händler: „Seien Sie vernünftig, gnädige Frau. Sie werden sich den Tod holen, da draußen!“

      „Er hat recht. Du wirst nass und verdirbst dir die Schuhe“, ermahnte er sie.

      „Aber Wilhelm, Zigeuner! Sind wir nicht ihretwegen hierhergekommen?“

      „Nun ja, vielleicht nicht gerade wegen denen dort“, murmelte er und starrte dem bunten Gewirr von Stoffen, zottigen Pferdemähnen und dunklen Gesichtern entgegen. Er griff in die Kutsche und zog eine Decke heraus, die er seiner Frau um die Schultern legte.

      Als der erste Wagen heran war, rief der bärtige Mann auf dem Kutschbock ein lautes Kommando nach hinten und sprang herunter. Aus dem Wageninneren griff eine schmale Hand nach den Zügeln. An ihrem Gelenk klimperte eine Unzahl von glänzenden Armreifen. Sie gehörten einer jungen Frau mit einem roten Kopftuch, die behände auf den frei gewordenen Platz kletterte. Ihre Haut war dunkel wie Schokolade. Kohlenschwarze Augen musterten ihn ohne Scheu. In ihren Ohren baumelten goldene Scheiben, die auch in großer Menge an einer Schnur um ihren Hals hingen. Das Verwunderlichste an ihr aber war die kurze krumme Pfeife, die ihr im Mundwinkel hing und auf der sie unablässig kaute. Als sie sich nach vorn beugte, um die Zügel zu lockern, öffnete sich ihre nur liederlich um die Schultern gezurrte Bluse noch weiter und Wilhelm fühlte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Er wandte sich abrupt ab. Vor ihm stand der Mann, der eben vom Kutschbock gesprungen war. Er war groß und schlank, seine Haut glänzte dunkel. Volles Haar lugte unter einem kecken Filzhut hervor, an dem eine Pfauenfeder steckte. Ein schwarzer Bart ließ ihn wahrscheinlich älter aussehen, aber er mochte etwa in Wilhelms Alter sein.

      „Brauchst du Hilfe, Herr? Was ist mit deinem Wagen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte sich der Zigeuner unter die Kutsche.

      „Das ist nicht mein Wagen!“, sagte Wilhelm in Richtung der schiefen Achse, unter der der Mann verschwunden war. „Der Kutscher ist losgeritten, um einen Stellmacher zu holen.“

      Magdalena zog an seinem Ärmel. „Frag sie, ob sie aus Friedrichslohra sind.“

      „Warum?“

      „Sie könnten uns mitnehmen.“

      „Was?“ Sein Blick glitt über die abenteuerlich aussehenden Wagen und die ausgemergelten kleinen Pferde, die langsam an ihnen vorüberzogen. Dunkle Gestalten lugten neugierig hinter bunten Planen hervor, ein paar Kinder sprangen nackt durch den Regen, verfolgt von einer Meute graubrauner Hunde.

      „Warum nicht? Wozu hier im Regen stehen und warten?“ Magdalena zerrte bereits ihren Proviantkorb aus der Kutsche.

      Im Nu war sie von einem Dutzend