Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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sagte die Alte, „der alte Löschhorn macht den besten Schnaps weit und breit.“

      „Löschhorn?“, fragte Magdalena und rang nach Atem.

      „Mein Mann, der bulibasha“, verkündete die Alte stolz.

      Sie verstand nicht, was die Frau meinte, aber sie nickte.

      Der Wagen ruckelte eine lange Steigung hinauf. Die beiden jungen Frauen und die Kinder sprangen hinaus in den Regen, griffen in die Speichen und halfen dem keuchenden Pferd. Wilhelms Körper neben Magdalena wurde schwer, sein Kopf sank auf ihre Schulter. Er war eingeschlafen.

      „Sehr guter Schnaps“, sagte Magdalena und die Alte lachte und zeigte ihren zahnlosen Kiefer.

      Nach einer Weile drohten auch Magdalenas Augen zuzufallen, als die Alte sie an der Schulter fasste und vorn aus dem Wagen wies. Sie hielten an einer Wegscheide, links von ihnen streckte sich eine Häusergruppe an einem Bergrücken entlang wie ein sich rekelnder Kater. Erstaunt beugte sie sich nach vorn. Ein solch ordentlich angelegtes Dorf hatte sie noch nie gesehen. Die Gebäude reihten sich beidseitig des Weges, der weiter den Berg hinaufführte. Sie sahen alle gleich aus, wie die Holzquader aus einem Baukasten. Rote Ziegeldächer, darunter Fachwerk, zwei Fenster nach vorn zur Straße, zwischen den Häusern je ein Tor, durch das höchstens ein Ziegenfuhrwerk passte. Aus den parallel aufragenden Schornsteinen drängte heller Rauch dem Regen entgegen.

      „Ist das Friedrichslohra?“

      Die Alte nickte. „Die Leute hier nennen es das Neue Dorf. Sie benutzen den anderen Namen nicht.“

      Magdalena rüttelte Wilhelm an der Schulter wach. „Schau, unser Dorf!“

      Er blinzelte, sein Atem roch nach Schnaps.

      Die Wagen vor ihnen bogen vom Weg ab. Christoph Weiß steckte den Kopf in den Wagen. „Ihr müsst jetzt aussteigen. Meine Brüder werden euer Gepäck tragen.“

      Wilhelm taumelte, als er nach einem gewagten Sprung vom Wagen auf dem schlammigen Wegrand landete. Er half Magdalena herunter, die sich winkend von der alten Frau verabschiedete. Sie zog ihr Kopftuch fester, der Regen hatte nicht nachgelassen. Vier halbwüchsige Jungen standen barfuß am Weg und sahen ihnen abwartend entgegen. Aus ihren schwarzen Locken tropfte das Wasser. Wilhelm erinnerte sich plötzlich an die Warnung der Handelsreisenden und musterte hastig die Gepäckstücke. Zwei Kisten, ein Koffer, es schien nichts zu fehlen.

      „Wohin wollt ihr?“, fragte der größere der Jungen in klarem Deutsch.

      „Zum Pfarrhaus!“

      Sie griffen nach dem Gepäck und setzten sich in Bewegung. Magdalena und Wilhelm hatten Mühe, ihnen zu folgen. Als Magdalena über die Schulter zurückblickte, schwankte gerade der letzte bunte Planwagen den Feldweg entlang und verschwand hinter einer Reihe von Weißdornbüschen.

      Nach wenigen Minuten erreichten sie die schnurgerade Dorfstraße. Es ging bergauf, was die schwer schleppenden Zigeunerjungen nicht bremste. Sie trugen die Kisten zwischen sich und nahmen die gesamte Straßenbreite ein.

      Die kleinen Häuser blickten mit hohläugigen Gesichtern auf die Neuankömmlinge. Die Fachwerke waren schlicht und solide, aber ohne besondere Kunst angelegt, das Mauerwerk dazwischen war grob verputzt und an einigen Hausfronten frisch gekalkt. Vor einem auffallend schäbigen Haus setzten die Jungen das Gepäck ab und klopften an ein Fenster. Die Fassade war grau, von den Fachwerkbalken blätterte die Farbe. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Straßenschlamm vom Sockel abzuwaschen. Einer der Träger rief etwas und lachte. Dann zeigte er auf sie. Hinter der Fensterscheibe drängten sich mehrere dunkle Schöpfe, schwarze Augen starrten Wilhelm und seine Frau neugierig an.

      „Hier wohnen Zigeuner“, flüsterte Magdalena, als fürchte sie, die Häuser hätten Ohren.

      Wilhelm nickte. „Der Herr Gerichtsrat Göschel meinte, dass die Familien sich für den Winter bei den Dorfbewohnern einmieten.“

      Sie waren auf einer Hochfläche angelangt, wo sich die Straße zu einem Dorfanger weitete, bevor sie an dessen Ende erneut leicht anstieg. Rechts von ihnen stand ein etwas größeres Haus mit einer breiten Eingangstür in der Mitte. Eine Mauer aus großen, glatt behauenen Kalksteinen stützte den Sockel. Wilhelm kletterte hinauf und schaute durch ein Fenster.

      „Eine Schule!“, rief er begeistert.

      „Was tust du da?“, fragte Magdalena und sah sich beschämt um. „Du kannst doch nicht einfach …“

      „Hab ich doch gleich gesehen, dass das kein Wohnhaus ist“, beschwichtigte er und sprang von der Mauer.

      „Aber der Lehrer wohnt doch sicher hier?“, fragte Magdalena.

      Neben dem Schulhaus öffnete sich ein leicht ansteigender Platz mit einem kreisrund ummauerten Brunnen, dahinter duckte sich eine schäbige Kirche aus groben Feldsteinen an den Berg. Zwei Fensterscheiben fehlten, die Löcher waren provisorisch mit Werg oder Hanf zugestopft. Der runde Dachreiter hatte dem Gewicht der Glocke anscheinend nicht mehr standgehalten und war halb eingestürzt. Die Glocke lag seitlich auf dem First, verkeilt in zerbrochenen Ziegeln und gesplitterten Holzbalken. Eine mit grüner Patina überzogene Wetterfahne baumelte über dem Fiasko und zeigte anklagend nach unten.

      Gegenüber fiel der Anger steil ab und endete an einem größeren Fachwerkhaus, über dessen Eingang ein Wirtshausschild im Wind schaukelte. Das Nebengebäude, wohl das Backhaus, wurde von einem turmhohen Schornstein überragt.

      Die Zigeunerjungen bogen nach rechts ab und steuerten ein Haus an, das halb hinter der Kirche versteckt lag und aus den gleichen Kalksteinen errichtet war. Es befand sich in einem ähnlich schlechten Zustand wie die Kirche. Zwei Fenster schienen neu, allen anderen und der Haustür fehlte die Farbe, die Gartentür hing schief in den Angeln und quietschte erbärmlich. Aus der Dachtraufe lief das Regenwasser in mehreren dünnen Rinnsalen in den Vorgarten, an der Giebelseite waren einige Fachwerke bereits herausgefallen, und mit Lumpen zugestopft.

      Das Pfarramt, dachte Wilhelm. Er hatte plötzlich ein komisches Gefühl, doch bevor er darüber nachdenken konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Die wacklige Tür des Hauses sprang auf und ein kleiner dicker Mann in einem Anzug, der ihm schon längst zu eng geworden war, schoss heraus wie eine Kanonenkugel. Seine Jacke stand weit offen, die Hose wurde von derben Hosenträgern gehalten, es schien, dass der Hosenbund diese Aufgabe nicht mehr leisten konnte. Eben dieser wurde von einem überquellenden Bauch verdeckt, über dem sich die Falten eines schmutzigen Leinenhemdes bauschten.

      „Was wollt ihr schon wieder, Diebespack? In meinen Vorgarten scheißen, was?“, schrie der Mann und lief mit erstaunlicher Schnelligkeit auf die Jungen zu. „Verschwindet!“

      Die Jungen stellten seelenruhig Kisten und Koffer ab und wichen dem Hin und Her springenden Sonderling aus, als würden sie das alle Tage tun. „Was ist das für Zeug? Etwa Diebesbeute? Was wollt ihr damit bei mir?“ Er bückte sich und griff sich ein paar Steine. Nun erst drehten sich die Jungen um und stoben in verschiedene Richtungen davon. Das Gepäck stand verlassen im Regen.

      Wilhelm und Magdalena waren mit wenigen Schritten heran. Magdalena stellte sich schnaufend vor den Koffer und sah sich ratlos um. Der Dicke ließ die Arme sinken.

      „Und wer sind Sie?“, fragte er unfreundlich.

      Wilhelm trat auf ihn zu und deutete einen hastigen Diener an. Als er sich wieder aufrichtete, musste der Mann zu ihm heraufsehen, was seinen Blick noch etwas boshafter werden ließ. „Blankenburg ist mein Name, Wilhelm Blankenburg. Das ist meine Frau Magdalena.“ Wilhelm machte aus lauter Gewohnheit eine weitere Verbeugung, obwohl ihm dabei jedes Mal das Wasser in den Mantelkragen lief und der Mann so viel Ehrerbietung sicher nicht verdient hatte.

      „Ja und?“

      „Darf ich fragen, wer Sie sind, mein Herr? Pastor Blume erwartet mich. Ich bin der Missionar aus Naumburg. Er schrieb mir, wir könnten im Pfarrhaus wohnen.“

      „Blümchen?“ Der Mann musterte Wilhelm und lachte dann laut auf. „Na dann, viel Spaß beim Weitermarschieren. Das evangelische Pfarramt ist in Wenden.“