Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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krallte sich um seinen Hals. Die Bettdecke war nass von seinem Schweiß, seine Stirn glühte.

      „Lieber Gott, warum gerade jetzt?“, stöhnte er leise und schluckte krampfhaft. Es fühlte sich an, als hätte er heißen Sand im Kehlkopf. Im Untergeschoss rumorte es, er hörte eine Männerstimme. Er musste zur Postkutsche! Wie spät mochte es sein? Noch war es finster draußen, doch er hatte keine Vorstellung, wie lange sie bis zur Poststation brauchen würden. Er tastete nach dem Nachttisch, auf dem seine Taschenuhr lag. Da fiel ihm ein, dass sie zwar eine Kerze, aber keine Zündhölzer hatten, um sie anzuzünden. Vorsichtig kroch er unter dem schweren Federbett hervor und tastete mit den Füßen nach seinen Schuhen. Seine Knochen schmerzten, als wäre er unter Pferdehufe geraten. Unsicher erhob er sich und trat gleich beim ersten Schritt in das Nachtgeschirr, das sie vorm Schlafengehen beide benutzt hatten, da sie nicht wussten, wo sich der Abort befand. Kalter Urin schwappte über seine Füße.

      „Was, oh Herr, willst du mir sagen?“, entfuhr es ihm und er hob das Gesicht zur Zimmerdecke.

      „Wilhelm?“ Hinter ihm regte sich Magdalena schlaftrunken. „Fluchst du etwa?“

      „Schlaf weiter“, krächzte er, „ich bin ins Nachtgeschirr getappt.“

      „Oh nein.“ Das Bett quietschte, als sie sich aufsetzte. „Puh, jetzt kann ich es riechen.“

      „Ich gehe hinunter und hole Eimer und Lappen. Und Zündhölzer.“

      „Wilhelm? Was ist mit deiner Stimme?“

      Doch er war schon zur Tür hinaus.

      Magdalena griff vom Bett aus nach ihren Sachen und kleidete sich an, ohne die Füße auf den Boden zu setzen. Nur kurze Zeit später schob sich eine kleine Frau mit einem Eimer in der Hand zur Tür hinein. Alles an ihr war grau im Licht der Kerze, die sie vor sich hertrug: Die streng zurückgekämmten Haare, der Kittel um ihren schmalen Leib, selbst ihr Gesicht hatte die Farbe von staubigen Steinen. Ihre Augen lagen tief im Schatten, doch es schien Magdalena, als musterten sie böse den nassen Fleck vorm Bett.

      „Guten Morgen, es tut mir leid, aber wir hatten kein Licht. Bitte stellen Sie den Eimer ab. Ich mache das, wirklich, ich mache das selbst.“ Die Worte purzelten aus ihr heraus, sie hoffte nur, dass die Frau einfach wieder gehen würde. Doch die schien sie gar nicht zu hören, der Eimer knallte auf die Dielen und sie brachte die Kerze zum Nachttisch. Da erst zuckte sie zusammen, als sie Magdalena in ihren Kleidern auf dem Bett sitzen sah. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, das wohl freundlich aussehen sollte, aber irgendwie schrecklich misslang. Was stimmte nicht mit diesem Gesicht? Das Licht der Kerze flackerte im Luftzug, der durch die offene Tür kam und brachte die Gesichtszüge zum Tanzen. Hastig wandte die Frau sich ab und wrang den Lappen aus, der im Wasser schwamm.

      „Hören Sie doch!“ Magdalena schwang die Beine aus dem Bett. Jetzt konnte sie die Pfütze sehen und ihr ausweichen. Sie fasste nach dem Arm im grauen Kittel, um ihr den Lappen aus der Hand zu nehmen. Die Frau fuhr erschrocken herum und Magdalena sah plötzlich überdeutlich, was an dem Lächeln nicht gestimmt hatte. Eine Hasenscharte teilte die Oberlippe der Frau und verlief bis in ihre Nase. Sie zögerte nur einen Moment, hoffte, dass die andere es nicht als Entsetzen deutete und griff nach dem Tuch.

      „Ich mache das, geben Sie mir den Lappen!“

      Sie bemerkte, dass die kleine graue Frau ihr konzentriert auf den Mund sah, und begriff plötzlich. Sie las ihr die Worte von den Lippen ab. Jetzt nickte sie, drehte sich um und verschwand eilig zur Tür hinaus, wo sie fast mit Wilhelm zusammenstieß.

      „Der Pastor sagt, seine Frau ist taubstumm.“

      „Das hab ich gemerkt.“ Sie zog das Wischtuch über die Dielen und rümpfte die Nase. „Du klingst erkältet.“

      „Ja, ich glaube, ich habe Fieber.“

      „Dann leg dich wieder ins Bett! Den Termin beim Landrat kannst du doch gewiss verschieben.“

      „Nein. Dann dauert es noch länger, bis wir hier rauskommen. Außerdem kann ich gleich Medizin besorgen.“ Er setzte sich auf den Bettrand und hob ihr die Füße entgegen. „Wisch mal über meine Schuhe.“

      „Deinen Mantel muss ich ausbürsten. Der Saum ist voller Schmutz. Und die Hosenbeine auch. Kannst du im Koffer nach der Bürste sehen?“ Sie wrang den Lappen über dem Eimer aus. „Wie viel Zeit haben wir noch?“

      „Eine Stunde. Hier ist keine Bürste.“

      „Sie muss da sein. Warte, ich leuchte mit der Kerze.“

      Sie wühlten den Koffer gründlich durch, vergeblich. „Sie ist sicher in einer der Kisten beim Wirt“, meinte Wilhelm schließlich.

      „Ich weiß genau, dass ich sie hier drin hatte.“

      „Egal, die Frau Pastor hat sicher eine Bürste für uns. Jetzt lass uns frühstücken gehen.“

      Als es draußen hell wurde, rumpelte ein Leiterwagen vor das Pfarrhaus. „Blankenburg, kommen Sie“, sagte der Pastor, der außer einem Morgengebet während des Essens kein Wort von sich gegeben hatte, und stand vom Tisch auf. „Der Bauer nimmt uns bis zur Poststation mit.“

      Magdalena hatte mit einer geborgten Bürste Mantel und Hose gründlich gesäubert. Nun war Wilhelm zwar adrett gekleidet, er sah jedoch trotzdem schlecht aus, seine Augen schimmerten glasig, sein Gesicht glühte. Besorgt beobachtete sie, wie er steifbeinig auf den Wagen kletterte. Der Bauer ließ die Peitsche knallen und bald verschwand das Fuhrwerk um die Ecke.

      Gemeinsam mit der Frau des Pastors, die ihr Mann als Christine vorgestellt hatte, räumte sie den Tisch ab.

      „Christine?“ Sie fasste sie am Arm, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Können wir nach Friedrichslohra gehen und unser Gepäck holen? Es steht beim Kneipenwirt.“

      Die Frau zögerte, dann nickte sie.

      „Haben Sie einen Handwagen? Die Kisten sind schwer.“

      Christine schüttelte erst den Kopf, überlegte kurz und nickte dann erneut. Sie zog Magdalena zum Fenster und zeigte auf den Bauernhof gegenüber. Dabei stieß sie ein paar gurgelnde Laute aus. Magdalena glaubte zu verstehen, dass sie vom Nachbarn einen Wagen bekommen würden.

      Tatsächlich zogen sie bald darauf mit einem hölzernen Karren durch das Dorf, das sie nun bei Lichte in Augenschein nehmen konnte. Die schmale Straße wand sich in einer engen Kurve bergauf. Immer wieder mussten sie tiefen Pfützen ausweichen. Kein Wunder, dass ihre Kleider bis unter die Knie voller Schlamm gewesen waren. Mehrmals kamen ihnen Ochsenfuhrwerke entgegen. Die Bauern zogen die Kappe vom Kopf und grüßten, ihre Blicke voll Neugier. Ihr fiel auf, dass Christine den Kopf gesenkt hielt und schneller wurde, wenn ihnen jemand begegnete. Ein Holztor sperrte seinen Rachen auf wie ein gähnender Hund. Sie sah einen viereckigen Hof, begrenzt von einem lang gestreckten Fachwerkhaus, einer großen Scheune und einem weiteren Gebäude, in dem sie einen Stall vermutete. In der Mitte dampfte ein Misthaufen, auf dem dicke, weiße Hühner kratzten. In der hinteren Ecke bellte ein struppiger Köter und zerrte an seiner Kette.

      Hinter dem letzten Hof begannen die Äcker. Ein Bauer folgte seinem Pferd, das mit kräftigen Schritten etwas übers Feld zog. Vielleicht war es ein Pflug, sie kannte sich mit diesen Dingen nicht aus und Christine konnte sie nicht fragen. Mehrere Frauen und Kinder liefen gebückt hinterher und sammelten zwischen Unmengen von hell leuchtenden Steinen runde Knollen in ihre Körbe, Kartoffeln, erkannte sie schließlich. Am Horizont erhoben sich die Harzberge, herbstgrau wie verschimmelte Brotlaibe. Links über dem Dorf streckte sich ein rotbraun gefärbter Wald auf einem Höhenzug, der die weitere Sicht in dieser Richtung versperrte. Die Luft war kühl, doch nicht kalt, sie roch würzig nach feuchter Erde und viel kräftiger als in Nürnberg. Es kam ihr vor, als müsse man hier weniger atmen, um genug Sauerstoff in die Lunge zu bekommen. Ein klein wenig Euphorie machte sich in ihrem Herzen breit.

      Am Ende der Felder begann die eng bebaute Straße des Neuen Dorfes wie der Eingang zu einem Fuchsbau. Eines von diesen Häusern würde sie bewohnen.

      „Christine? Wissen Sie, welches Haus wir beziehen sollen?“