Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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ihre Gepäckstücke und blieb mutlos an Magdalenas verdutztem Gesicht hängen.

      „Was?“, stammelte sie und setzte sich auf den Koffer.

      „Das hier ist eine katholische Kirche. Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl. Der Glockenturm sieht gar nicht evangelisch aus“, erklärte er.

      „Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Glockenturm. Eher wie ein verlassenes Storchennest. Mir ist kalt. Was machen wir jetzt?“ Der hölzerne Koffer unter ihr knarrte.

      Er blickte den Weg hinauf. Erneut reihten sich kleine Fachwerkhäuser aneinander, bis eine leichte Rechtskurve die Sicht nahm. Die Straße wirkte wie eine perfekte Kopie des hinter ihnen liegenden Stückes. Nichts deutete auf eine weitere Kirche oder ein Pfarrhaus hin. Unmöglich, das Gepäck auch nur zwei Häuser weiter zu tragen, ebenso wenig konnten sie es hier einfach stehen lassen. Sein Blick fiel auf das Wirtshaus am unteren Ende des Angers.

      Er deutete hinab. „Ich besorge uns einen Wagen.“ Während er den Koffer zum Haus schleppte, wartete Magdalena bei den Kisten. Der Wirt öffnete ihm die Tür, er hatte ihn wohl durch das Fenster kommen sehen. „Zimmer habe ich nicht zu vermieten“, sagte er statt einer Begrüßung.

      „Oh, nein. Ich brauche nur einen Wagen, damit wir zu Pastor Blume fahren können. Die Zigeunerjungen haben uns versetzt.“

      Der Mann nickte, als wäre das selbstverständlich und schleifte den Koffer in die Gaststube. Hier saßen drei Männer an einem Tisch und rauchten. Vor ihnen standen halb volle Biergläser. Stumm schauten sie zu, wie Wilhelm das Gepäck in die Ecke schob.

      Magdalena rümpfte die Nase, als sie kurz darauf die rauchige Wirtsstube betrat, doch der Ofen mit dem laut knisternden Feuer darin versöhnte sie sofort. Sie nickte den erwartungsvoll schweigenden Männern zaghaft zu und zog sich einen der derben Holzstühle neben die Wärmequelle.

      „Häng deinen Mantel zum Trocknen über die Lehne“, riet ihr Wilhelm besorgt.

      „Kümmere dich lieber um das Fuhrwerk, ich komme schon zurecht“, antwortete Magdalena.

      „Wo bekomme ich wohl einen Wagen zum evangelischen Pfarrhaus?“, fragte Wilhelm die Männer.

      Einer von ihnen, ein kräftiger Mann mit Stiernacken und grau gelocktem Haar, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas und deutete dann auf das Gepäck in der Ecke: „Für das da?“

      „Ja.“

      „Ich habe zwei junge Ziegenböcke im Stall. Kostet aber eine Runde.“

      „Gerne.“ Wilhelm war froh, nicht sofort wieder hinaus in den Regen zu müssen. Er bestellte vier Bier und drei Schnäpse und einen Tee für seine Frau. Der Wirt zapfte mürrisch das Bier und schenkte aus einer dunklen Flasche ein.

      „Trinken Sie keinen?“, fragte der Mann, der ihm seine Böcke angeboten hatte.

      „Nein, ich hatte eben schon starken Schnaps von den Zigeunern. Das reicht für heute. Ich muss dem Pastor Blume mit klarem Kopf gegenübertreten.“

      Die Männer nickten. „Sie brennen ein gutes Zeug, diese Tatern. Das kann einen schon umhauen“, sagte einer von ihnen und griff nach einem Päckchen Tabak.

      Magdalena bekam ihren Tee.

      „Prost! Auf meine Ziegenböcke!“, rief der Stiernacken.

      Als der Wirt mit den Bierkrügen kam, waren die Schnäpse alle. „Bring noch mal ‘ne Runde, mach für dich einen mit und auch für unseren jungen Gast hier.“

      „Nein, wirklich, ich muss zum Pastor. Wie weit ist es bis Wenden?“

      „Ach, das ist nur ein Steinwurf. Wärm dich erst mal auf, Junge, du bist nass wie eine gebadete Katze.“

      Tatsächlich fröstelte Wilhelm, sein Hemd fühlte sich klamm an.

      Der Mann mit dem Tabak stopfte sich sorgfältig eine Pfeife. „Was willst du beim Pastor?“, fragte er.

      Wilhelm zögerte ein wenig bei dieser direkten Frage, doch wenn er in diesem Dorf leben und arbeiten wollte, war er auf das Wohlwollen seiner Bewohner angewiesen. „Ich werde dort wohnen, mit meiner Frau.“ Er deutete zum Ofen, wo sie sich an die Kacheln lehnte und mit beiden Händen ihre Teetasse umschloss. „Wir sollen uns hier um die Zigeuner kümmern, im Auftrag des Missionsvereins Naumburg.“

      Der Mann hielt ein brennendes Streichholz an den Pfeifenkopf und nahm einen tiefen Zug. Seine Wangen wölbten sich nach innen, seine Augenbrauen schoben sich wie zwei dicke Raupen in Richtung Nasenwurzel. Zwei oder dreimal paffte er angestrengt, dann blies er den Rauch gegen die Balkendecke. „Schon wieder“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Wann kapieren die Herren endlich, dass es verlorene Mühe ist?“

      „Wieso schon wieder?“, fragte Wilhelm verdutzt.

      „Wie lange ist es jetzt her, Andreas?“, rief der Pfeifenmann. „Zwei Jahre?“

      „Trudchen war kurz vorher geboren“, rief der Wirt vom Tresen herüber. „Frühjahr ‘28.“

      „Sag ich doch. Gut zwei Jahre. Da kamen zwei junge Missionare, Zwillingsbrüder waren das. Man wusste nie, welchem man gerade begegnet war. Sie blieben ein paar Wochen, dann waren sie wieder verschwunden.“

      „Es hat sich nichts geändert“, sagte der Stiernacken. Er sprach gemächlich, als wäre seine Zunge geschwollen. Er winkte dem Wirt. „Bring noch einen!“

      „Was haben sie in dieser Zeit getan?“, fragte Wilhelm.

      „Geredet. Sie sind zu den Igelfressern gegangen und haben mit ihnen geredet.“ Der dritte Mann mischte sich zum ersten Mal in das Gespräch ein. Er war weißblond und sehr blass, hinter den Qualmwolken der Pfeife verschwand er beinahe.

      „Worüber haben sie geredet?“, fragte Magdalena vom Ofen her.

      Er warf ihr einen schnellen Blick aus wässrig blauen Augen zu, bevor er wieder in sein Bier starrte. „Was weiß denn ich? Was Kirchliches sicherlich, sie sollten ihre Kinder taufen lassen. Und arbeiten gehen.“

      Der Pfeifenmann lachte. „Der alte Löschhorn hat sie schön an der Nase herumgeführt, nicht wahr, Linzer? Er hat seinen Weibern erklärt, wenn sie die Bälger taufen lassen und sich Paten aus dem Dorf suchen, gibt es reichlich Geschenke. Na, das musste er nicht zweimal sagen.“

      „Also sind die Kinder getauft worden?“, fragte Wilhelm.

      „Ja aber“, lallte der Stiernacken. „Beinahe jeder aus ‘m Dorf, der nich grade selbst am Hungertuch nagt, hat inzwischen ‘nen Igelfresser als Patenkind.“ Er lehnte sich über den Tisch und raunte halblaut: „Kannst ja schlecht nee sagen, wenn se dich fragen. Is schließlich Christenpflicht, so ‘n Patenamt.“ Er lachte und zeigte auf den blassen Mann gegenüber, den sie Linzer genannt hatten. „Selbst sein Vater, der stolze Österreicher, der sonst keinen Finger rührt, wenn nicht ein Heller dabei herausspringt.“

      „Aber arbeiten tun die nie und nimmer, da kannste ihnen sonst was versprechen“, ergänzte sein Kumpan und klopfte die Asche aus der Pfeife.

      „Ssstimmt“, sagte der Stiernacken, dann sackte sein Kopf auf den Tisch.

      Magdalena sprang auf. „Wir müssen ins Pfarramt.“

      Ihr besorgter Unterton alarmierte Wilhelm. Kläglich blickte er auf den grauen Lockenschopf, der zwischen zwei Bierkrügen ruhte. „Wo krieg ich jetzt ein Fuhrwerk her?“

      Die beiden anderen Männer blickten sich an und grinsten. „Andreas, der Herr Missionar möchte zahlen!“, rief der Zigarrenmann.

      Der Wirt kam und verlangte die stolze Summe von zwanzig Groschen, bei der Wilhelm erneut das Herz in die Hose rutschte. Davon hätten er und Lenchen Brot und Milch für eine ganze Woche kaufen können.

      „Was ist?“ Der Wirt klopfte ihm auf die Schulter. „Kannst auch anschreiben lassen, Junge, ich weiß ja, wo du wohnst.“

      „Nein, nein.“ Hastig kramte Wilhelm seinen