Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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Wilhelm sagen, doch beim Anblick der mageren Körper, die trotz des nasskalten Wetters gar nicht oder nur sehr dürftig bekleidet waren, verschlug es ihm die Sprache. Die Jungen trugen entweder ein Hemd oder eine zerlumpte Hose, so als ob sich mehrere von ihnen die Kleidung eines Kindes teilen mussten. Die Mädchen hatten meist gar nichts an, nur die größeren steckten in schmutzigen und fadenscheinigen Kittelchen. Dafür trug jedes mindestens ein Schmuckstück, sei es ein Reif um das Fuß- oder Handgelenk, große runde Ohrringe oder klimpernde Halsketten. Fast alle waren dünn und schoben aufgetriebene Bäuche vor sich her, die Krätze oder Flöhe hatten ihre Haut in den Kniekehlen und an den Armen beinahe aufgefressen. Eine scharfe Stimme rief etwas, dass Wilhelm nicht verstand und die Kinder stoben auseinander.

      Der Zigeuner trat neben Magdalena und sagte zu Wilhelm: „Du hattest recht, Herr. Hier kann man nichts tun. Ein Splint muss her.“ Er verbeugte sich leicht vor Magdalena, wobei er eine Hand galant auf den Rücken legte und mit der anderen den Hut lüpfte. „Gnädige Frau, gestatten: Christoph Weiß, Musiker. Ich hörte, Sie reisen nach Friedrichslohra. Das ist auch unser Ziel. Wenn Sie mit meinem bescheidenen Wagen vorliebnehmen wollen?“

      Magdalenas Gesichtsausdruck hatte in den letzten Momenten so oft gewechselt wie das Wetter im April. Nach dem Entsetzen über den armseligen Anblick der Kinder glitten Neugier und Abenteuerlust über ihre Züge, zuletzt sogar etwas Koketterie. Bevor Wilhelm Einwände erheben konnte, schenkte sie dem Mann, dessen Gesicht inzwischen fast ihre Füße berührte, ein strahlendes Lächeln und nickte, ohne zu bedenken, dass der das nicht sehen konnte.

      „Wir haben eine Menge Gepäck, und außerdem müsste der Kutscher bald zurück sein“, sagte Wilhelm halbherzig.

      Der Zigeuner hob den Kopf und blickte direkt in Magdalenas Gesicht, auf dem die Freude gerade von Enttäuschung, oder war es Zorn? – abgelöst wurde.

      „Aber Herr, wir haben Platz auf unseren Wagen, nimm das Angebot ruhig an. Schau, wie nass und frierend die gnädige Frau hier im Regen steht!“ Der Mann hob den Arm und setzte den Hut leicht schräg auf seine drahtigen Locken. Der weite Ärmel seines weißen Hemdes bauschte sich im Wind. Er griff dem gerade vorbeiziehenden Pferd rüde ins Geschirr und der Wagen kam neben ihnen zum Stehen. Mit dem Kutscher, einem ebenfalls bärtigen Mann in einer bunten Fellweste, wechselte er ein paar schnell gesprochene Sätze in ihrer Sprache. Sofort sprangen zwei Frauen unter der Stoffplane hervor und rafften ihre weiten Röcke über dem nassen Boden. Ihre nackten Füße versanken im Schlamm des aufgeweichten Weges.

      „Wo ist euer Gepäck, Herr?“, fragte eine von ihnen.

      Wilhelm seufzte ergeben und deutete zur Rückwand der Postkutsche, an der zwei Kisten und ein Koffer fest verschnürt waren. „Das ist alles unseres.“

      Ohne lange zu überlegen, begannen die Frauen, die Seile zu lösen.

      Magdalena stieß einen kleinen Freudenschrei aus und wandte sich den Herren in der Kutsche zu. „Wir reisen mit den Zigeunern. Ich wünsche Ihnen eine baldige Weiterfahrt und alles Gute.“

      Wilhelm verstand nicht, was sie ihr zur Antwort gaben, doch der Ältere beugte sich aus dem Fenster und winkte ihn zu sich heran. „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun“, sagte er mit gefurchter Stirn. „Lassen Sie Ihre Koffer keinen Moment aus den Augen!“

      Trotz aller Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns war Wilhelm doch froh, als er endlich ins trockene Innere des Planwagens klettern konnte. Sein Mantel war inzwischen nass und schwer und das Regenwasser war ihm zum Kragen hineingelaufen. Fröstelnd sah er sich um. Das Wageninnere war geräumiger als es von außen schien. Dicke Felle polsterten die Sitzbänke aus, darunter standen Kisten und Truhen, allerlei Hausrat baumelte von den wie Rippenbögen aufragenden Hölzern, die der Plane über seinem Kopf Halt gaben. Direkt hinter dem Kutschbock waren mehrere kleine Fässer festgezurrt, an denen Becher und Schöpfkellen hingen. Magdalena rückte dicht an ihn heran und lächelte zufrieden.

      „Möchtest du zu trinken, Herr?“, fragte eine rauchige Stimme aus dem Dämmerlicht des Wagens.

      „Ja, bitte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

      Mehrstimmiges Kichern kam als Antwort, doch seine Augen hatten sich noch nicht an die Dämmerung gewöhnt, und er konnte nicht erkennen, wer außer ihnen im Wagen saß. Er hörte Holz auf Holz schaben, ein Plätschern, dann wurde ihm ein Becher gereicht. Die Hand vor seinem Gesicht war runzlig und so dunkel wie die eines Kaminfegers. Ein Dutzend glänzender Ringe klimperte um das Gelenk. „Nimm!“

      Während er zugriff, fasste die Hand nach seiner Linken und öffnete sie. Erschrocken wollte er sie zurückziehen, doch die rauchige Stimme beruhigte ihn: „Keine Angst Herr, ich will nur dein Schicksal sehen. Trink und gib auch deiner Frau davon.“

      Ein Finger, so knorrig wie der Ast eines alten Fliederbaumes, strich über die Innenfläche seiner Hand. Es kitzelte leicht und war seltsam angenehm. Aus lauter Verlegenheit hob er den Becher an die Lippen und trank. Er hatte angenommen, sie würden ihm Wasser geben, und nahm deshalb einen herzhaften Schluck. Zu spät spürte er den scharfen Geruch, der wie eine Glocke über dem Gefäß hing und ihm beißend in die Nase stieg. Die Flüssigkeit fuhr wie eine Stichflamme die Kehle hinunter und trieb ihm augenblicklich die Tränen in die Augen. Er keuchte, würgte und hustete.

      „Was ist?“, fragte Magdalena besorgt. Im Hintergrund erklang wieder dieses Kichern. Verflixt noch mal, jetzt stand ihm auch noch das Wasser in den Augen.

      „Was haben Sie mir da gegeben?“

      Magdalena fasste nach dem Becher und schnupperte. „Schnaps. Ziemlich hochprozentig, so wie der riecht.“

      „Der vertreibt die Kälte aus den Knochen“, sagte die alte Frau. Dann griff sie nach Wilhelms rechter Hand. Wieder fuhr der dunkle Finger die Linien ab. Sie murmelte etwas, ihre Stimme klang plötzlich belegt. Aus dem Wageninneren kam eine schnelle Frage, sie antwortete leise.

      „Was sagt sie?“, fragte Magdalena neugierig an Wilhelms Ohr.

      „Ich verstehe sie nicht, sie spricht in ihrer Sprache.“

      „Wir werden diese Sprache lernen müssen.“

      Er nickte nachdenklich.

      Magdalena beugte sich vor. „Was sehen Sie in seiner Hand?“

      Die Zigeunerin blickte auf. Zum ersten Mal traf das Licht, das von hinten in den Wagen fiel, ihr Gesicht. Sie musste steinalt sein. Ihre Haut war dunkelbraun wie zu lange gebackenes Brot und von tiefen Runzeln durchzogen. Unter tief hängenden Lidern waren keine Augäpfel zu erkennen. Zwischen den eingefallenen Lippen klebte eine kurze, erloschene Pfeife, die sich auf und ab bewegte wie der Schwengel einer Pumpe. Schwere Silberringe baumelten auf ihren Schultern, sie hatten die Ohrläppchen zu langen Hautstreifen gedehnt. „Ich sehe seltsame Dinge. Ein gutes Herz, aber einen schwachen Mann. Ich sehe Freud und Leid für uns aus deinem Schicksal erwachsen.“

      Er zog seine Hand weg und steckte sie in die feuchte Manteltasche. Im vorderen Teil des Wagens tuschelte jemand aufgeregt. Wilhelm erkannte jetzt zwei Frauen mit langen schwarzen Zöpfen und einige nackte Kinder, die ihn anstarrten.

      Magdalena gab ihm den Becher mit dem Schnaps zurück und streckte der Frau ihre Hand entgegen. „Sagen Sie mir, was Sie in meiner Hand sehen.“

      Die Alte mümmelte an der kalten Pfeife und beugte sich über Magdalenas Handfläche. Wilhelm wurde bange, er war in Versuchung, die dunklen Finger wegzuschlagen, weg von der kleinen weißen Hand seines Lenchens.

      „Ich sehe ein gutes Herz und Kinder, viele Kinder.“

      Magdalena lachte und klopfte sich sacht auf den Bauch. „Ja, das wird stimmen.“

      Die Alte hob den Kopf. Unter den faltigen Lidern blitzten für einen Moment Augen wie feuchte Kohlenstücke hervor. „Fremde Kinder, unglückliche Kinder!“

      „Jetzt ist es genug mit dem Firlefanz!“ Besorgt sah Wilhelm in Magdalenas erschrockenes Gesicht. Er schob die Hand der Alten weg und nahm noch einen Schluck aus dem Becher. Jetzt, wo er darauf vorbereitet war, schmeckte das Zeug gar nicht so schlecht. Und warm wurde ihm, warm und wohlig. „Komm