Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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lachen.

      Von der Straße hörten sie plötzlich Geschrei und Hundegekläff. Gleich darauf hämmerte es an die Haustür. Die beiden Frauen fuhren auf. Magdalena rannte zur Tür.

      Als sie hastig öffnete, fiel Christian fast herein. „Herrin, das Brot.“ Er hielt in jeder Hand einen Laib hoch über dem Kopf. Hinter ihm sprang kläffend der schwarze Hund vom Nachbarhof. Aus dem Tor gegenüber keifte die Bäuerin.

      Magdalena zog den Jungen in den Hausflur und schloss die Tür. Sie nahm ihm die Brote aus den schmutzigen Händen. „Hat sie den Hund auf dich gehetzt?“, fragte sie empört.

      Christian lachte, weiße Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht. „Ja, aber der ist schon alt. Er bellt nur. Die Brote hätte er gern gehabt, schätze ich.“

      „Gut, dass du sie gerettet hast. Komm mit in die Küche, ich schneide dir deinen Anteil ab. Möchtest du dir die Hände waschen?“

      Der Junge sah erst Magdalena, danach seine Hände verständnislos an. Dann schüttelte er den Kopf.

      „Ich dachte nur, weil sie so schmutzig sind.“ Sie schnitt eines der Brote in der Mitte durch. Sie waren warm und dufteten nach Getreide und Feuer. „Hier, nimm.“

      Er griff zu und zögerte dann. „Ein Viertel war abgemacht, Herrin.“

      „War nicht auch abgemacht, dass du nicht Herrin sagen sollst? Das zweite Viertel ist für den Fuhrdienst am Handwagen.“

      Christian strahlte. „Danke, Frau Blankenberg, du bist sehr nett.“

      „Blankenburg! Sag mal, ist Christoph Weiß dein Vater?“

      Der Junge schüttelte seine schwarzen Locken. „Er ist mein Bruder. Kennst du ihn?“

      „Wir sind gestern mit seinem Wagen hier angekommen. Hast du noch mehr Geschwister?“

      Er lachte. „Mein Vater hat zwei Dutzend Kinder. Er ist der bulibasha.“

      Dieses Wort hatte die alte Frau im Wagen ebenfalls gebraucht. Sie konnte doch unmöglich Christians Mutter sein.

      „Was heißt dieses Bulli-Dingsda?“

      „Er ist unser Stammesvater. Er spricht für uns.“

      „Und deine Mutter?“

      „Wir wohnen beim Schneider im Haus, meine Geschwister auch.“ Der Junge sah sie seltsam an.

      „Alle vierundzwanzig?“

      „Nein, nur die Jüngeren. Zwei sind tot, sie sind im Krieg gefallen. Außerdem hat der bulibasha, also mein Vater, zwei Frauen. Die erste lebt mit ihm im Wagen, die zweite, meine Mutter, im Neuen Dorf, wegen der kleineren Kinder.“

      „Ach.“ Das musste sie erst einmal verdauen.

      Christian steckte das warme Brot wie einen kostbaren Schatz unter sein fadenscheiniges Hemd. „Ich muss los, Frau Blankenburg. Auf Wiedersehen!“

      „Hüte dich vor den Dorfhunden.“ Magdalena sah nach dem Tor gegenüber, doch es war geschlossen.

      Christine blickte sie vorwurfsvoll an, als sie zurückkam.

      „Was ist? Haben Sie etwas gegen die Zigeuner?“

      Die kleine Frau zog den Kopf zwischen die Schultern. Das konnte alles bedeuten. „Warum nur? Stehlen sie wirklich?“

      Christine hob beide Hände, was wohl bedeuten sollte: Wer weiß? Dann zeigte sie auf den Kehrichthaufen vor dem Herd und deutete auf ihr Gesicht.

      „Sie meinen, sie sind schmutzig?“

      Heftiges Nicken.

      „Dagegen kann man etwas tun. Deshalb müssen sie nicht schlecht sein.“

      Die Frau nickte vage und wies auf die Kartoffeln. Dann holte sie zwei Messer und zeigte ihr, wie man die dünne Haut von den Knollen schabt.

      „Kann es sein, dass ihr Stammesvater zwei Frauen hat?“, fragte Magdalena.

      Christine nickte und zeigte ihr die offene Handfläche. Siehst du, sollte das wohl heißen.

      „Na gut, im Alten Testament ist auch von Vielweiberei die Rede. Die Zigeuner sind sicher ein sehr altes Volk mit uralten Sitten und Gebräuchen. Woher kommen sie, wissen Sie das?“

      Christine schnaubte verächtlich und hob die Schultern. Dann schabte sie weiter an den winzigen Knollen. Magdalenas Magen knurrte, der Duft der Brote kitzelte in ihrer Nase. „Wir essen jetzt von dem frischen Brot. Haben Sie vielleicht ausgelassenes Fett oder Butter?“

      Jetzt lächelte die Frau wieder und Magdalena fand es gar nicht mehr so schlimm.

       Aus den Instruktionen für den Missionar des Naumburger Missionsvereins in Friedrichslohra:

       §1: Sie sind deshalb von dem Naumburger Missionsverein nach Friedrichslohra gesandt und werden deshalb mit den Ihrigen von demselben unterhalten, damit Sie, unter Gottes Beistand, durch Arbeit und Lehre, durch Gebet und Beispiel die unglücklichen Zigeuner in und um Friedrichslohra zur christlichen Sittigung führen sollen …

       §4: Dazu gehört, 1.) daß jede einzelne Familie, wo möglich, ihre besondere Mietswohnung habe, 2.) daß jede einzelne Familie ihr eigenes Brot esse und deshalb ein notdürftig nährendes Gewerbe in Mäßigkeit und Sittsamkeit betreibe, 3.) daß in jeder Familie Gottes Wort gehört, beachtet und von der Jugend auch gelesen werde …

       So will der Verein den Zigeunern nur eine Hilfe bei ihrer Sittigung geben, und das vorzüglich bei der Erziehung ihrer Kinder. Das einzige Mittel zur Veredlung der Zigeunerkinder, die sich sonst an die Lebensart der Eltern gewöhnen, ist ein besserer und wenig unterbrochener Unterricht …

       §8: Gleichzeitig sollen die alten Zigeuner zur Arbeit angeleitet werden, und zwar möglichst zu solchen Gewerbstätigkeiten, die in jeder Jahreszeit geübt werden können …

       Naumburg, 17ter Juli 1830

       gez. Oberlandesgerichtsrat Göschel

       gez. Oberlandesgerichtsrat Pinder

      Magdalena ließ das Schreiben sinken und betrachtete das schweißnasse Gesicht ihres Mannes im Kerzenlicht. Sie stand auf und sah nach den Wadenwickeln. Vorsichtig zog sie die warmen Tücher von Wilhelms Beinen und tauchte sie in einen Eimer mit kühlem Wasser. Nachdem sie die frischen Wickel angelegt hatte, wischte sie ihm die Stirn ab. Er stöhnte und warf den Kopf hin und her, murmelte Unverständliches.

      „Schscht“, machte sie. „Alles wird gut, mein Lieber.“ Sie klang zaghaft und nicht überzeugend, aber er hörte sie ohnehin nicht. Ganze zehn Paragrafen hatte das Instruktionsschreiben vom Missionsverein. Zum ersten Mal begriff sie die volle Tragweite ihrer Aufgabe. Das war nicht einfach nur ein Abenteuer. Sie übernahmen Verantwortung für Menschen, deren Bräuche und Lebensart ihnen völlig fremd waren und die, das ahnte sie ebenfalls, nicht interessiert waren an ihrer, wie schrieb der Verein?, Sittigung. Sie hatte auch das Empfehlungsschreiben der Berliner Missionsschule gelesen, in dem Wilhelm dem Verein in Naumburg empfohlen wurde. Da stand, er habe „… für Leute der niedrigsten Klasse etwas Gewinnendes und seine äußere Erscheinung möchte für die Zigeuner etwas Ansprechendes haben …“

      Sie lächelte. Der Schreiber in Berlin hatte Wilhelm sicher gut gekannt. Er konnte sich auf die verschiedensten Menschen gut einstellen und sie schnell von sich überzeugen. Und seine äußere Erscheinung, nun, die hatte auch sie beeindruckt. Damals in Basel, als sie die Mutter zur Kur begleitet hatte, im Park spazieren ging, der Wind ihr den Schirm aus der Hand gerissen und er ihn ihr zurückbrachte, ohne viele Worte. „Bitte, gnädiges Fräulein. Ihr Schirm.“ Eine kurze Verbeugung, dann war er gegangen. Und sie hatte ihm nachgestarrt wie einem Kalb mit zwei Köpfen. Zu ihrem Glück hatte er in der Postkutsche nach Nürnberg gesessen. Es wurde eine sehr vergnügliche Fahrt. Als sie in Nürnberg ausstieg, wussten sie beide, dass sie sich wiedersehen