Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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und verschwand in der Stube.

      Wilhelm schnaufte. „Na gut. Dann halten wir uns an die Städter. Und vielleicht an die Bauern, die sind doch so arm nicht.“

      „Warum suchen wir den Krämer nicht auf?“, fragte Magdalena. „Wenn wir bei ihm unseren Hausrat einkaufen, ist er uns bestimmt wohlgesonnen.“

      „Ich würde vorher gern nach Christian sehen, einfach nur, um seine Familie kennenzulernen. Irgendwo müssen wir anfangen.“

      Sie klopften beim Schneider an die Tür. Ein kleiner Krauskopf mit Augen wie Kohlenstücke öffnete ihnen. „Der Meister ist nicht …“ Als er sah, wer vor der Tür stand, verstummte er und verschwand hinter einer Tür, wo er lauthals etwas rief, das sich wie „Gatschi“ anhörte. Magdalena und Wilhelm blickten in den Hausflur und sahen sich neugierig um. Das Haus war genau so gebaut wie ihres nebenan. Vom Hausflur führten zwei Türen ab. Hinten endete er in einer kleinen Küche. Die Wände waren länger nicht geweißt worden, in den Ecken sammelten sich Stoffreste und bunte Fäden, die typischen Abfälle einer Schneiderei. Eine Weile geschah nichts, dann rief Magdalena: „Christian?“

      Es rumorte in einer der beiden Kammern, sie hörten Stimmen und schließlich trat eine Frau heraus. Sie war eine Zigeunerin mittleren Alters, ihr brauner Rock war mehrfach geflickt, ihre Bluse schmutzig und am Ärmel aufgerissen. Sie trug einen nackten Säugling auf dem Arm und in ihrem Mundwinkel hing eine qualmende Tabakpfeife. Sie nahm sie nicht aus dem Mund, als sie sagte: „Christian ist nicht da. Hat er das Brot nicht gebracht?“

      „Das Brot soll er morgen erst bringen“, sagte Magdalena. „Sind Sie seine Mutter?“

      „Ja. Was willst du von ihm?“

      „Wie Sie vielleicht schon wissen, sind wir hier, um Ihnen und Ihrer Familie zu helfen, bessere Lebensumstände zu bekommen.“ Wilhelm wurde rot, als er merkte, wie gestelzt er sich ausdrückte. „Wir würden einfach gern sehen, wie Sie leben.“

      Die Zigeunerin sog an ihrer Pfeife und starrte ihn an. Dann trat sie beiseite und öffnete die Tür. „Bitte!“

      Es war still gewesen in der Stube, deshalb erschrak Magdalena umso mehr, als sie sah, wie viele Menschen in diesem Raum hausten. Sie zu zählen war unmöglich, kleine und größere Kinder krabbelten auf dem blanken Fußboden übereinander hinweg. Fast alle waren nackt. An der Wand hingen zwei Geigen und ein Hackbrett, darunter saßen drei Männer und spielten Karten, einer von ihnen trug einen großen schwarzen Hut. Neben ihnen döste eine alte Frau, zusammengerollt unter einer lumpigen Decke. In der gegenüberliegenden Ecke saßen ein paar halbwüchsige Mädchen wie Gänse in einer Reihe hintereinander, kämmten sich die Haare und flochten sich Bänder hinein. Eine jüngere Frau wiegte ein schlafendes Kleinkind im Arm. Der Kleine, der ihnen geöffnet hatte, drängte sich an ihre Seite. Es gab keinerlei Möbel in diesem Raum, nur einen schmalen gusseisernen Ofen in der Ecke neben dem Schornstein, der allerdings nicht befeuert wurde. Die Luft war voller Rauch und es stank nach menschlichen Ausdünstungen, Zwiebeln und schlechtem Tabak.

      Als die beiden Fremden den Raum betraten, erstarrte die Szene zu einem Stillleben. Magdalena glaubte, Furcht in den schwarzen Augen zu erkennen, die auf sie gerichtet waren. Wovor hatten diese Menschen Angst?

      Wilhelm ging in die Hocke, um mit den drei Männern auf Augenhöhe zu sein. „Wer spricht für euch?“, fragte er.

      Der Mann mit dem Hut antwortete ihm: „Wenn du die Familie hier im Raum meinst, werde ich für sie sprechen.“

      „Ich bin Wilhelm Blankenburg, Missionar der evangelischen Kirche. Das hier ist meine Frau Magdalena. Wir werden nebenan in das Haus einziehen.“

      Die Männer nickten, doch ihre Mienen blieben verschlossen. Der mit dem Hut antwortete: „Ich bin Christian Steinbach. Spielmann von Beruf. Dies ist mein Bruder Gottlieb und dieser Zigeuner hier wird Heinrich Weiß gerufen. Solltest du einen Scherenschleifer brauchen, es gibt keinen besseren.“

      „Ich wurde von der evangelischen Mission gesandt, um euch zu helfen. Ich möchte euch Wohnung, Arbeit und Brot verschaffen. Meine Frau unterstützt mich dabei.“

      Magdalena, die hinter ihm stand, wurde das Gefühl nicht los, völlig falsch am Platze zu sein. Der Drang, sich umzudrehen und hinauszulaufen wurde übermächtig.

      Wilhelm sprach weiter. Seine Stimme war ruhig. „Eure Kinder werden ordentlichen Unterricht bekommen, sobald wir eine Schule für sie gebaut haben. Das wird bereits nächstes Jahr geschehen. Bis dahin können sie zu uns ins Haus kommen.“

      Plötzlich kam Unruhe auf. Die Männer brummten und sahen sich vielsagend an, die Halbwüchsigen steckten die Köpfe zusammen. Der Säugling begann zu greinen, und Christians Mutter reichte ihn der jungen Frau auf dem Fußboden, die ohne zu zögern, ihre Bluse öffnete und ihn an eine ihrer prallen Brüste legte.

      Der Mann mit dem Hut beugte sich vor: „Davor hat man uns gewarnt. Du willst uns unsere Kinder wegnehmen.“

      „Aber nein!“ Wilhelm stand auf. „Wie kommt ihr auf so etwas? Ich will ihnen Lesen und Schreiben beibringen.“

      Auch die drei Sinti erhoben sich. Sie standen Wilhelm direkt gegenüber, dabei wirkten sie nicht bedrohlich, sondern einfach nur stolz und unnahbar. „Unsere Kinder und unsere Freiheit sind alles, was wir haben. Niemand wird sie uns wegnehmen!“

      „Wer hat euch diesen Unfug erzählt?“, fragte Wilhelm.

      „Da waren schon einmal zwei, die sagten, wenn wir nicht arbeiten gingen, würde man uns die Kinder nehmen und sie ins Armenhaus bringen. Wir haben sie davongejagt. Wir haben ihnen gesagt, wir würden sie mit unseren bloßen Zähnen zerreißen, wenn sie die Kinder auch nur anfassen würden.“ Der Zigeuner mit dem Hut zeigte zur besseren Demonstration seine Reihe weißer Zähne.

      „Pfarrer Montag sagte uns, sie würden wieder kommen“, ergänzte der Scherenschleifer. „Und nun bist du da.“

      Wilhelm sah sich ruhig um. „Wer spricht für euren Stamm?“

      „Unser bulibasha, der alte Löschhorn. Er ist draußen vor dem Dorf im Wagenlager.“

      „Würdet ihr ihn holen, damit ich ihm und euch allen mein Anliegen erklären kann? Ladet auch die anderen Familien ein, ich bitte euch.“

      Die Zigeuner nickten, doch ihre Blicke blieben finster und skeptisch. „Sei heute zum Abendläuten wieder hier. Wir werden da sein, der bulibasha ebenso.“

      Als sie den Raum verließen, fiel Magdalenas Blick auf die halbwüchsigen Mädchen in der hinteren Ecke. Sie starrten sie neugierig an, eine hatte die Haarbürste in ihrem Schoß abgelegt. Es war eine Holzbürste ohne Stiel, sie glich viel eher einer Kleiderbürste. Magdalena entdeckte dunkle Intarsien in dem hellen Holz und sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Als sie genauer hinsah, schob das Mädchen seinen schäbigen Kittel darüber.

      Draußen auf der Straße bemerkte Wilhelm, dass seine Knie weich waren und sein Hemd feucht von Schweiß. Er schnaufte laut und rieb sich das Gesicht.

      „Niemand hat gesagt, dass es einfach sein wird“, meinte Magdalena.

      „Ich weiß. Und dabei haben wir noch gar nicht angefangen.“

      „Das Mädchen hinten in der Ecke hat den anderen die Haare gebürstet, mit meiner Kleiderbürste.“

      Wilhelm sah sie verständnislos an.

      „Die Kleiderbürste, die wir nicht finden konnten.“ Magdalena hob die Stimme. „Ich habe sie sofort wiedererkannt, sie hat braune Intarsien, ein Geschenk meiner Großmutter. Sie benutzen sie als Haarbürste.“

      „Hör mal, es gibt so viele Bürsten, vielleicht sah sie deiner etwas ähnlich.“ Er schüttelte den Kopf.

      „Ich würde diese Kleiderbürste immer wiedererkennen, glaube mir, ich habe sie schon viele Jahre.“ Sie brach ab und schwieg verärgert. Sie hatte sich fest vorgenommen, die Vorurteile über die Zigeuner zu ignorieren, und jetzt war sie die Erste, die behauptete, dass sie bestohlen worden war.

      „Wir