Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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Neuanfang suchte, dort, wo ihn niemand kennen würde.“

      Magdalena riss die Augen auf. „Aber das ist doch lange her?“

      „Über fünfzig Jahre, gute Frau. Einige von den Erstbewohnern leben noch. Der alte Toni zum Beispiel kam aus Italien, sein Sohn ist ein ehrbarer Schuster, aber der Alte ist ein Schlitzohr. Oder der Linzer, sein Vater wurde aus Österreich verwiesen, er hat nie erzählt, warum. Bei dem kriegen Sie alles, was Sie brauchen, für den halben Preis. Was denken Sie denn, warum die Tatern ausgerechnet hier immer wieder Unterschlupf suchen? Weil sie hier Ihresgleichen finden und ihr Diebesgut verhökern können.“

      Wilhelm erkannte seine Möglichkeit. „Gerade aus diesem Grund müssen die Zigeuner endlich eingebunden werden. Wenn sie nicht mehr gezwungen sind, zu stehlen …“

      Der Mann lachte abfällig. „Die können doch nichts anderes.“

      „Ich werde den Männern einen Beruf suchen und werde sie lehren, diesen auszuüben. Ich habe viele gesunde und kräftige Männer unter ihnen gesehen, die im Wald arbeiten können. Beginnen jetzt nicht die Holzfällerarbeiten? Mit der Axt umzugehen kann jeder lernen. Im Frühjahr bringe ich sie im Straßenbau unter. Der Landrat von Arnstedt sagte mir, dass die Straße nach Mühlhausen ausgebaut und gepflastert werden soll. Das wird eine passende Arbeit für meine Zigeuner sein.“

      Magdalena registrierte, wie enthusiastisch Wilhelm auf den Schulzen einredete, sogar „meine Zigeuner“ hatte er gesagt. In der Miene des Schäfermeisters erkannte sie jedoch Unwillen und Zorn.

      „Sie kennen diese Menschen nicht. Sie verhalten sich ganz anders als Leute unseres Schlages. Sie sind weltfremd und töricht, mein Herr. Sie werden genauso scheitern wie die Missionare vor ihnen.“ Beim letzten Satz hieb Henkel auf den Tisch, dass die Platte aus Kiefernholz erzitterte.

      Doch Wilhelm ließ sich nicht erschüttern. „In jedem Menschen steckt ein guter Kern, Herr Henkel. Daran glaube ich fest, auch wenn Sie es für Torheit halten. Wenn die Zigeuner merken, dass ihnen die Arbeit gelingt, wenn sie die Früchte ihres Werkes vor sich sehen, dann werden sie sich anstrengen und bessern. Sie werden ordentliche Löhne in den Taschen haben und ihre Familien ernähren. Dann können sie sich die Miete für ein eigenes Häuschen leisten, Hühner kaufen und gegen die übliche Pacht Brennholz aus dem Wald holen.“

      Henkel schnaubte verächtlich. Eine Weile war das Knistern der Flammen in dem eisernen Ofen das einzige Geräusch in der Stube.

      „Möchten Sie etwas trinken, Meister Henkel?“, fragte Magdalena, als die Stille peinlich wurde.

      „Nein. Ich muss gehen.“ Er erhob sich und drückte die Schultern nach hinten. „Leider kann ich Ihnen keinen Erfolg wünschen, denn ich sehne mir das Rabenvolk ganz weit von meinem Dorf weg. Wenn Sie jedoch anderweitig Hilfe benötigen, scheuen Sie sich nicht, mich aufzusuchen. Ich wohne in den 22 Häusern, Hausnummer drei, fast oben am Teich.“ Er reichte Magdalena die Hand und verbeugte sich leicht. „Allerdings bin ich erst abends zu Hause, nach Einbruch der Dunkelheit.“

      „Kennen Sie Käthchen?“, fragte Magdalena.

      Er hielt inne. „Welches Käthchen meinen Sie?“

      „Die Zigeuner sagen, sie kocht sehr gut und gibt auch gern.“

      „Das ist Henkels Käthchen, die Frau meines verstorbenen Bruders. Warum wollen Sie das wissen?“

      Wilhelm beeilte sich, seiner Frau zuvorzukommen. „Wir suchen jemanden, der uns ein wenig im Haushalt hilft.“ Er fürchtete, dass der Schulze es nicht gut heißen würde, wenn seine eigene Schwägerin dabei half, die Zigeunerkinder zu verköstigen. „Meine Frau ist guter Hoffnung, wir werden tatkräftige Unterstützung benötigen, vor allem, wenn das Kind da ist.“ Er ging voran zur Tür.

      „Es täte ihr sicher gut, wieder eine Aufgabe zu haben. Seit dem Tod meines Bruders lässt sie sich ein wenig gehen. Ich rede mit ihr.“

      Während Wilhelm dem Mann mit einer Lampe half, den Weg auf die dunkle Dorfstraße zu finden, griff Magdalena nach einem Wischlappen.

      „Von ihm werden wir keine Hilfe erwarten können“, kommentierte Wilhelm. Er öffnete die Ofentür und legte ein dickes Buchenscheit ins Feuer. Sofort züngelten kleine blaue Flammen danach.

      „Wenigstens war er ehrlich und wir wissen, woran wir sind“, antwortete Magdalena unter dem Tisch hervor, wo sie die Fußspuren des Schulzen aufwischte. „Wir brauchen unbedingt einen Abtreter vor der Tür.“

       Auszug aus einem Briefe, vom 14ten November 1830, den Blankenburgs Frau an ihre Geschwister in Nürnberg schrieb:

      „… Die Gegend um Friedrichslohra ist sehr schön, und es werden Getreide, Kartoffeln und Gemüse aller Art angebaut. Kleine Häuschen, ganz im Grünen liegend, bilden das Dorf. Auf einem hohen Berge, der das Amt Lohra genannt und vom Amtmann Smalian bewohnt wird, ist eine kleine protestantische Kirche. Die Aussicht von der Höhe herab gewährt für Auge und Herz einen tiefen Eindruck von der Größe des allmächtigen Schöpfers. Man übersieht das ganze Harz- und Eichsfeldische Gebirge.

       Die Neudörfer sind größtenteils Leute, die des Diebstahls oder anderer Verbrechen wegen des Landes verwiesen wurden, und die Friedrich der Große in dieses Dorf aufnehmen ließ, und da ist es wohl nicht befremdend, dass Freikauferei auf Märkten und Messen, Betrug und List unter ihnen herrscht. Unter diesen Leuten wohnen unsere armen Zigeuner, und werden oft recht übel von denselben behandelt, was uns recht betrübt. In kleinen Stuben wohnen meist zwei bis drei Zigeunerfamilien beisammen, und müssen doch viel Miete zahlen. Kommt man des Abends zu ihnen, so sitzen oder liegen sie auf der schwarzen, schmutzigen Erde umher, welche zugleich als Tisch, Stuhl und Bette dienen muss, und sind voller Schmutz und Läuse. Des Nachts liegen sie alle nackt auf dem Boden umher, und benutzen ihre wenigen Lappen als Decken. Ach, die Armut ist unbeschreiblich! Und wird durch ihr leidenschaftliches Branntweintrinken, durch Tabak rauchen und kauen, und durch große Nachlässigkeit und Faulheit noch vermehrt …“

      Am nächsten Morgen brach Wilhelm im Dunkeln nach Nordhausen auf, um mit dem Landrat über Spendenaufrufe und Arbeitsbeschaffung für die Zigeuner zu reden. Magdalena räumte das Geschirr vom Tisch, stopfte die Kochwäsche zum Einweichen in eine hölzerne Wanne und machte sich schließlich auf, die Schwägerin des Dorfschulzen zu besuchen. Sie ging die Dorfstraße hinab, auf der sie vor drei Wochen in Friedrichslohra angekommen waren. Ein kalter Wind wehte ihr entgegen und trieb den letzten Frühnebel vor sich her. Sie wickelte ihr Kopftuch fester um den Hals. Die Hausnummern zählten rückwärts, rechts die geraden und links die ungeraden Zahlen. Das Haus mit der Nummer eins bildete den Abschluss an einem kleinen, nach Jauche stinkenden Bach. Der von Fuhrwerken zerfahrene Weg überquerte ihn mithilfe einer Kalksteinbrücke und führte aus dem Dorf hinaus, leicht bergab zu der Wegkreuzung, wo sie am Tag ihrer Ankunft den Zigeunerwagen verlassen hatten. Sie schritt über die Brücke und wandte sich nach links, wo eine weitere Straße in einem schmalen Tal aufwärts führte.

      Auf deren rechten Seite standen kleine Fachwerkhäuser, die sich ähnelten, als seien sie alle von derselben Hand erschaffen worden. Doch die Grundstücke waren großzügiger angelegt, die Häuser klebten nicht aneinander wie reife Erbsen in der Schote, sondern sie hockten, jedes für sich, inmitten von Gemüsegärten, Beeten mit letzten Herbstblumen und Holunderbüschen voller fetter schwarzer Beeren, um die sich die Spatzen lautstark stritten. Hier war der preußische König wohl spendabler bei der Vergabe von Grund und Boden gewesen. Gegenüber der Häuser, auf der linken Straßenseite, zogen sich schmale Äcker wie Handtücher bis zum Bach hinunter.

      „No. 17“ Eine mit schwarzer Farbe ins helle Fachwerk gepinselte Zahl ließ sie innehalten. Hier sollte Käthchen wohnen. Dem Haus war anzusehen, dass ein Mann fehlte. Ein Dachziegel hatte sich gelöst und drohte herabzurutschen. Die Kletterrose hangelte sich ungezügelt unter dem Dachkasten entlang und der Gemüsegarten war nicht umgegraben worden. Das kleine Gartentor hing nur in einer Angel; Magdalena musste es anheben, um es zu öffnen. Sie klopfte an der verwitterten Haustür. Es blieb still im Haus. Als sie versuchte, durch ein schmales Fenster nach drinnen zu blicken, drang eine energische Stimme über ein paar Stachelbeerbüsche, die wohl