Johanna Marie Jakob

Taterndorf


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Deckel an und ein Schwaden des fettigen Dampfes zog an Magdalena vorbei zur Tür hinaus.

      „Ja. Und nein, ich weiß nicht mal, wie die Frau heißt und wo sie wohnt.“ Magdalenas Blick fiel auf eine quer über den Hof gespannte Wäscheleine, an der ihr Linnen zum Trocknen hing. „Du hast sogar die Wäsche fertig. Danke.“

      „Der Junge hat mir geholfen, er ist wirklich in Ordnung, dafür, dass er ein Tater … ein Zigeuner ist.“

      Sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Christian hat meine Unterhosen aufgehängt?“

      Käthchen kicherte. „Nein, keine Sorge. Er hat nur die Leine gespannt. Wir haben sie im Holzschuppen gefunden.“

      Magdalena erblickte die Milchkanne neben dem Herd, hob den Deckel und schnupperte vorsichtig.

      „Die Hebamme heißt Martha Heinemann und wohnt in der Ziegelei, ganz oben am Ende der 22er Kolonie. Du solltest schon mal zu ihr gehen. Die Milch ist übrigens so dünn wie Molke, der Bauer hat den Jungen übers Ohr gehauen. Solche Geschäfte musst du hier selbst erledigen.“

      Magdalena rührte mit dem Finger in der Milch, die bläulich schimmerte, und nickte erbost. „Das mach ich gleich nachher. Die Hälfte des Geldes kann ich zurückverlangen.“

      „Wenn du willst, komme ich mit. Wann soll das Kleine kommen?“

      „Im Mai hat der Arzt in Nürnberg gesagt.“

      „So, so“, sie hob den Kopf und lauschte. „Die Glocken läuten Mittag. Mal sehen, ob die Kinder den Weg hierher finden.“ Ihre letzten Worte waren unnötig gewesen, denn von der Straße her hörten sie Stimmen.

      Christian ging zur Tür. „Soll ich sie hereinlassen?“

      „Warte, das will ich selbst tun.“ Magdalena lief an ihm vorbei und öffnete die Haustür. Draußen standen drei Mädchen im Alter von neun oder zehn Jahren, die sie erwartungsvoll ansahen. Zwei von ihnen waren nackt, eines trug ein graues Kittelchen voller Risse und Löcher. Ihre Haare starrten vor Schmutz, genau wie ihre Gesichter und Hände.

      „Christian sagt, Käthchen kocht heute bei dir?“, fragte die Größte von ihnen ohne Scheu.

      Magdalena überlegte fieberhaft, während sie nickte und in die Hocke ging, um mit den Kindern auf Augenhöhe zu sein. Auf keinen Fall würde sie diese nackten und schmutzigen Wesen in ihre Stube lassen. Warum hatte sie daran nicht früher gedacht?

      „Ja, das stimmt. Wie heißt du, meine Kleine?“

      „Sophie Deutsch, Madam gadschi.“

      „Gut, Sophie. Wer ordentlich angezogen ist und gewaschen, der kann gern hereinkommen und essen. Es gibt eine gute Suppe und Milch.“

      Das Mädchen machte einen Schritt nach vorn, die anderen zögerten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als die Große das bemerkte, beugte sie sich vor und flüsterte: „Die beiden haben aber kein Kleid.“

      „So? Dann werden sie eines bekommen. Wartet einen kleinen Augenblick.“ Magdalena lehnte die Tür an und drehte sich um. Christian und Käthchen standen hinter ihr und sahen sie fragend an. „Christian, du holst zwei Eimer Wasser vom Brunnen. Wir waschen sie, bevor sie sich an den Tisch setzen. Käthchen, womit kann ich sie nur bekleiden?“

      „Ich habe Linnentücher in deiner Wäsche gesehen. Daraus könnten wir schnell ein paar Kittelchen zaubern. Allerdings sind sie noch nass.“

      „Ich hab noch mehr davon. Meine Maman hat mir eine Aussteuer geschickt, damit könnte ich eine ganze Armee versorgen.“ Sie lief in die Kammer zum Wäscheschrank. Wenn zwei Tücher gegeneinander genäht würden, dann gäbe das ein einfaches Hemd. Es wärmte zwar nicht wesentlich, aber bedeckte wenigstens den Körper. Doch das Nähen würde Zeit in Anspruch nehmen. Sie nahm einen Stapel von den weißen Leinentüchern und trug ihn in die Stube.

      Käthchen schnappte nach Luft. „Aber das ist viel zu schade. Das ist feines Linnen und noch neu.“

      „Ich kann sie nicht nackt am Tisch sitzen lassen. Das ist wider jede Sitte. Kannst du sie zusammennähen, während ich die Mädchen wasche?“

      Die Köchin nickte widerwillig. Bedauernd strich sie über das weiße Leinenzeug. „Wo hast du deinen Nähkasten?“

      Als Magdalena die Tür erneut öffnete, waren es bereits sieben Kinder, darunter zwei Jungen, die immerhin eine Hose trugen. Sie führte die Kinder zunächst nach hinten auf den Hof, wo sie sich in zwei Reihen vor den Eimern aufstellten. Sie schrubbte die Mädchen mit Kernseife ab. Wieder war sie entsetzt über die mageren Körper, die aufgetriebenen Bäuche und die wunden Hautpartien. Sie musste Salbe besorgen, um die Stellen einzureiben. Christian beaufsichtigte das Waschen und Kämmen der Jungen, was verdächtig schnell voranging. Sie selbst brauchte mehr Zeit, schließlich konnte sie nur die linke Hand benutzen und die dicken schwarzen Locken der Mädchen waren verfilzt und widerspenstig. Als sie endlich am Tisch saßen, faltete sie die Hände.

      „Wir wollen beten und Gott danken für dieses Mahl.“ Sie sah die Kinder erwartungsvoll an, bis schließlich alle ihre Geste nachahmten. „Liebster Jesu, sei unser Gast und segne alles, was du uns bescheret hast. Amen.“ Die Kinder schwiegen und starrten auf die Teller mit der lauwarmen Suppe. Magdalena seufzte. „Ihr könnt jetzt beginnen. Lasst es euch schmecken.“

      Käthchen hatte inzwischen genug Zeit gehabt, die Hemden fertigzustellen. Sie hatte sich nicht überwinden können, zwei Stücke für ein Hemd zu verschwenden, sondern wickelte jeweils eines der langen Tücher wie eine Toga um ein Mädchen herum und nähte die beiden Enden über einer Schulter zusammen, sodass die Kinder schließlich wie eine Schar kleiner Römer aussahen.

      Magdalena lachte über diesen Anblick zufrieden und übermütig. „Schade, dass Wilhelm nicht da ist“, sagte sie und umarmte Käthchen spontan. „Ohne dich hätte ich das nie geschafft.“

      „Gütiger Jesus, ich habe Riekchen vergessen. Die sitzt zu Hause und schiebt Kohldampf.“ Käthchen wickelte sich eilig in ihr Wolltuch. „Kommst du allein zurecht?“

      „Aber ja. Christian ist auch noch da. Nimm ihr eine Schüssel von der Suppe mit. Und Milch.“ Sie griff zur Kelle.

      „Suppe gern. Milch hat sie selbst, sie hat Ziegen.“ Käthchen öffnete die Haustür und rief über die Schulter: „Hier sind noch mehr Kinder. Hätte mich doch gewundert, wenn das schon alles gewesen sein sollte.“

      Tatsächlich stand etwa ein Dutzend hungriger Mäuler auf der Straße vor dem Haus. Sie hatten offenbar abgewartet, wie es der ersten, mutigeren Gruppe erging, und waren nun nachgerückt.

      Käthchen seufzte und legte den Umhang ab. „Riekchen muss eben warten.“ Und wieder wuschen Magdalena und Christian im Hof die mageren Körper, während Käthchen Milch ausschenkte und weitere Hemden nähte. Nachdem sie getrunken hatten, mussten sie die Stühle räumen für die zweite Gruppe. Sie wollten jedoch keineswegs gehen, sondern verteilten sich auf dem Fußboden in der Stube, um von dort aus zu beobachten, wie die anderen Kinder versorgt wurden. Erst als alle saßen und löffelten, kehrte etwas Ruhe ein. Auch Magdalena konnte sich setzen.

      „Lauf nach Hause, jetzt schaffe ich das allein“, nickte sie Käthchen zu, die sich eilig verabschiedete.

      Magdalena nutzte die Verschnaufpause, um die Kinder zu mustern und sich ihre Gesichter einzuprägen. Es schien auf den ersten Blick nicht einfach, sie zu unterscheiden. Ihre Haare waren einheitlich dicht, lockig und tiefschwarz; jetzt, wo sie gekämmt waren, lag ein metallisch-bläulicher Schimmer auf ihren Köpfen. Die Locken der Jungen kringelten sich ebenso ungebändigt wie die der Mädchen, und wenn sie nicht alle Kinder nackt gesehen hätte, würde sie kaum erkennen, wer von ihnen Junge oder Mädchen sei. Ihre Haut war dunkel, selbst jetzt im Herbst. Was sie am meisten beeindruckte, waren jedoch ihre Augen. Nicht nur, dass sie verhältnismäßig groß waren, die Iris schimmerte so schwarz, dass sie sich nicht von der Pupille abgrenzte. Dadurch bekamen die Gesichter den Ausdruck eines ständigen Staunens, und Magdalena hatte das unwillkürliche Bedürfnis, ein jedes von ihnen zu umarmen. Doch je länger sie die Kinder betrachtete,