Stefan Heidenreich

Im Netz der Gedanken


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für was halten Sie es?“ Diesmal schienen mich ihre Blicke zu durchbohren.

      „Um hierauf zu antworten, muss ich etwas ausholen. Kann ich einen Schluck zu trinken bekommen?“

      Mit dieser Frage erhoffte ich etwas Zeit zu gewinnen, um mir die passenden Worte zurechtlegen zu können. Birnbaum verließ wortlos den Raum und kam wenige Augenblicke später mit einer Karaffe Eistee zurück. (Den Aschenbecher hatte er wieder vergessen.)

      Ich nahm einen kräftigen Schluck und bat die letzte Frage noch einmal zu wiederholen.

      Frau Kerner folgte meiner Aufforderung, und in ihrer Stimme glaubte ich eine gewisse Ungeduld zu erkennen. „Was glauben Sie, hat es mit dem Phänomen des Dejavue auf sich?“ Erneuerte sie ihre Frage und nun hatte ich keine Bedenkzeit mehr.

      „Richtig, das Dejavue.“ Begann ich. „Was wäre, wenn Raum und Materie nur für uns in unseren Gedanken existieren? Sie kennen doch die alte Frage: ‚Wo endet unser Universum und was befindet sich außerhalb?‘ Früher hat diese Frage niemanden ernsthaft interessiert. Wir waren zu sehr beschäftigt, uns auf der Erde zurechtzufinden. Bisher waren wir oder unsere Wissenschaftler immer in der Lage uns jede Frage zu beantworten, die auftauchte. Wenn es auf eine Frage einmal keine Antwort gab, dann wurde eine von unserem Geist kreiert und zwangsläufig zur Realität. Doch wie verhält es sich mit der Frage, wo ist das räumliche Ende?

      Wenn unsere Vorstellung von Raum und Materie richtig ist, dann muss es ein räumliches Ende geben. Doch wie sieht dieses Ende aus? Eine Wand? Das unheimliche Nichts? Niemand war bisher in der Lage, dieses Rätsel zu lösen. Stattdessen arbeitet man seit einiger Zeit an einer Theorie vom gekrümmten Raum und ist anscheinend bereit, die bisherigen physikalischen Gesetze soweit zurechtzubiegen, bis auch diese Theorie für uns zur Realität wird. Unsere Wissenschaftler krümmen nicht nur den Raum, wie sie in ihren Erklärungen immer wieder beteuern, sondern meiner Meinung nach sogar die vorhandenen Naturgesetze. Oder sie krümmen, bzw. verbiegen einfach nur unsere Vorstellungen.

      Aber was wäre nun, wenn unsere Vorstellungen von Raum und Materie nicht stimmen?

      Wenn alles, was wir sehen und alles, was wir sind, nicht mehr ist, als das Produkt einer Gedankenkette, der wir alle angehören? Eine Gedankenkette, die erschaffen wurde oder von selbst entstand, als bestimmte Fragen noch nicht formuliert wurden. Wäre es möglich, dass in diesem Stadium eine Realität geschaffen wurde, die einfach bestimmte Dinge nicht berücksichtigt hatte? Nicht berücksichtigen konnte? Wenn das so wäre, dann würden unsere Gedanken alles selbst produzieren. Selbst das Glas Eistee, was ich getrunken habe, wäre nicht mehr als ein real gewordener Gedanke. Wenn ich also ein Dejavue erlebe, dann könnte ich es in meinen Gedanken im Voraus geplant haben. Dies würde auch erklären, warum diese Erlebnisse nur immer von kurzer Dauer sind. Einzelne Gedanken, die aus der eigentlichen Kette ausbrechen, hätten einfach nicht die Kraft, sich über längere Zeit zu halten.

      Denken wir doch einmal zurück. Die meisten von uns sind in einem Alter, dass sie den Auftritt von Uri Geller in einer Fernsehshow 1972 live miterlebt haben. Ich glaube, dass so ziemlich jeder Mensch den Mann noch in Erinnerung hat, der mit seinen Gedanken Löffel verbog und Uhren reparierte. Es war doch völlig nebensächlich, ob er vor der Kamera mit Tricks oder Chemikalien agierte, wie er später selbst zugegeben haben soll, oder nicht. Das wirklich Interessante daran war die Tatsache, dass die Menschen zu Hause daran glaubten. Wie viele von Ihnen haben entweder an diesem Abend selbst ein reales Erlebnis gehabt, was in direktem Zusammenhang mit dem Gesehenen stand, oder jemanden gekannt, der ein solches Erlebnis hatte?

      Wenn ich für jeden verbogenen Löffel, und für jede wieder tickende Uhr, die am darauf folgenden Tag in Deutschland herumlag, fünf DM bekommen hätte, dann hätte ich wahrscheinlich für immer ausgesorgt.

      Wurde hier nicht Materie und gleichzeitig Geist durch eine unbekannte Kraft beeinflusst? Und war diese Kraft eventuell nichts anderes, als die Gedanken derer die daran glaubten? Jeder, der sich für solche Dinge interessiert, stieß unweigerlich auf diese russische Hausfrau, die in der Lage war, Dinge mit ihrer puren Willenskraft zu bewegen. Nina Ku.....“

      „Kulagina“ vervollständigte Schwarzenbeck ihren Namen.

      Ich sah die Mathematikabsolventin ungläubig an. Sie lächelte kurz und teilte mir mit, dass es ihre Großmutter war, die sie selbst leider nie kennengelernt hat. Sie hätte als Kind zwar die Möglichkeit gehabt, aber da sie in Deutschland aufwuchs und ihre Eltern sie nie nach Russland mitnahmen, kam es nie dazu. Später hatte sie keine Möglichkeit mehr, weil ihre Großmutter im April 1990 verstarb. Aber warum war sie hier? Erhofften sich die anderen, dass irgendetwas von der Kraft der Großmutter auf die Enkelin übergegangen war?

      Ich konnte mir das nur schwer vorstellen, als Mathematikerin gehörte sie eindeutig zu den logisch denkenden Menschen. Aber Logik und die Dinge, die ihre Großmutter tun konnte, standen meiner Meinung nach im kompletten Gegensatz zueinander.

      Nach einer kleinen Verschnaufpause und den Bemühungen jetzt möglichst cool zu bleiben fuhr ich fort.

      „Und da gab es auch noch diesen Mann, ich glaube ein Amerikaner, der eine Glasscheibe zum Zerspringen brachte, indem er sich einfach darauf konzentrierte.

      Von den unzähligen Geschichten, die mir meine Oma über sogenannte Hexen erzählte, die den Tod eines Menschen oder ähnliche Dinge vorhersagen konnten, ganz zu schweigen. Wenn man der Literatur glauben schenken darf, dann waren all diese Dinge und Erscheinungen früher verbreiteter als heute. Aber warum? War vielleicht unsere Realität zu früheren Zeitpunkten weniger verfestigt als heute? Heute gibt es für alles eine logische Erklärung. Und wenn dies einmal nicht der Fall ist, dann basteln wir uns eine. Denn Hexenverbrennungen sind inzwischen ziemlich out.“

      Nach diesem letzten Satz herrschte einen Augenblick lang Schweigen. Ich versuchte aus den Blicken, die sich die anderen zuwarfen, eine Reaktion zu erkennen.

      „Nun ungefähr so hatte uns Herr Birnbaum Ihre Ansichten oder sollte ich sagen Ihre Weltanschauung geschildert.“

      Mir fiel auf, dass Schwarzenbeck, genauso wie ich, den Doktortitel wegließ. Schlagartig wurde mir bewusst, dass mir keiner der Anwesenden mit einem akademischen Titel vorgestellt worden war. Dabei musste mindestens Frau Kerner, die einen Lehrstuhl für Theologie hatte, ein Anrecht auf die Anrede „Frau Professor“ für sich beanspruchen können.

      Ich hob mir diese Frage für einen späteren Zeitpunkt auf und wollte nun endlich mehr über diese Menschen erfahren. Immer noch quälte mich die Frage: ‚Warum bin ich hier? ‘

      Nun brauchte anscheinend auch Schwarzenbeck einen Schluck Eistee, bevor er mit seinen Ausführungen begann. Und er nahm einen besonders großen Schluck davon.

      „Wir alle hier im Raum haben uns in unserem bisherigen Leben ausschließlich mit der Realität befasst, die Sie soeben infrage gestellt haben. Und auch wir stellen vieles, was eigentlich immer so klar und eindeutig erschien, ebenfalls infrage. Früher hätte jeder von uns wahrscheinlich über das, was Sie sagten, geschmunzelt oder wäre einfach eingeschlafen. Aber wie Sie sehen, sind wir alle immer noch hellwach. Denn wir haben uns entschieden, den Sachen auf den Grund zu gehen. Darum sind wir hier. Und wir sind inzwischen recht gut ausgestattet. In unserer Bibliothek zum Beispiel werden Sie so ziemlich alles finden, was jemals über Telepathie, Telekinese und Parapsychologie geschrieben wurde. Ich meine keine Romane oder Science Fiktion, sondern wissenschaftliche Dokumentationen und Abhandlungen. Darunter auch Aufzeichnungen über Nina Kulagina. Wir verfügen sogar über einige Videoaufzeichnungen verschiedener Experimente, die in ihrer Gesamtheit sicherlich die umfangreichste Sammlung sein dürfte, die jemals zusammengetragen wurde. Ich wette, dass Sie diese Sammlung als echte Bereicherung würdigen werden.“

      Das war mein Stichwort:

      „Ich bin mir immer noch unsicher, warum Sie mich hierher gebracht haben und was Sie genau von mir wollen. Was interessiert Sie an Jemandem, der nicht mehr als eine normale Schule besucht hat und nur eine einfache Berufsausbildung genoss? Und genauso frage