Georg Linde

Suilenroc - Krieger des Lichts


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die noch untergehende Sonne und der gleichzeitig sichtbare Mond trübten die Stimmung.

      Meine Mutter war schwanger, ihr erstes Kind. Meine Mutter, Anhoja, war die Frau des Stammesoberhauptes, meines Vater Flodur.

      Es war zu früh. Eiramsor, unsere Älteste und Heilerin, kam herbei und sprach mit meinen Eltern. Die ganze Situation bot keine gute Voraussetzung für die Geburt. Doch die Wehen meiner Mutter nahmen zu. Immer und immer wieder schrie sie verzweifelt auf. Die panische Angst meines Vaters übertrug sich auf die Anderen und so wurde es im ganzen Lager still. Noch nicht einmal die Elekas, die wilden Hunde, waren mehr zu hören. Nur die Schreie meiner Mutter durchdrangen die Nacht. Die Schreie wurden immer lauter, und auch ich hörte sie immer lauter und immer verzweifelter ... Ich wollte helfen, wollte helfen ... doch, ich konnte nicht.

      Meine Zwillingsschwester Aleyna, mit der ich so lange im Bauch meiner Mutter lag, hatte sich schon ein paar Tage vor der Geburt die Nabelschnur um ihren Hals gelegt ... Sie sagte nur: „Noch nicht, noch ist nicht die Zeit für uns gekommen!“ Ich verstand das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich verstand zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts.

      Meine Mutter schrie nochmals auf, so laut, dass sogar der Wind verstummte.

      Eiramsor hielt das tote Mädchen in ihren Händen. Sie verharrte. Für einige Minuten bewegte sie sich nicht. Mein Vater kam in unser Zelt hinein und starrte abwechselnd auf meine Mutter und meine tote Schwester.

      „Sie bewegt sich nicht“, schrie er immer wieder monoton. „Sie bewegt sich nicht.“ Meine Mutter schrie vor Verzweiflung, immer lauter. Sie wollte immer schon eine Tochter, eine, die ihre Gabe der Heilung von ihr lernen würde. Und nun hielt sie ihre tote Tochter in ihren Armen.

      Das ganze Dorf stimmte in ihr Wehklagen ein.

      Plötzlich fing eine dunkle Scheibe an, sich vor den Mond zu schieben. Eine noch nie da gewesene Unruhe entstand unter den Dorfbewohnern.

      Meine Mutter schrie erneut auf und ließ meine tote Schwester fallen. Die alte Eiramsor hob sie liebevoll hoch, gab sie meinem Vater und schickte ihn aus dem Zelt.

      Noch nie hatte eine Frau zwei Kinder auf einmal geboren. Niemand wusste, was das zu bedeuten hatte, doch alle wussten, etwas Neues passierte.

      Alle Stammesbewohner scharrten sich um das Zelt meiner Eltern. Mein Vater wartete ungeduldig vor dem Eingang.

      Plötzlich hörte meine Mutter auf zu schreien. Eiramsor verstand nicht: Meine Mutter bekam noch ein Kind und Geburtsschmerzen waren immer sehr stark, viel stärker, als ein Mann sie hätte aushalten können.

      Und so kam ich auf die Welt, ohne Schreien und Stöhnen meiner Mutter, ohne irgendein Geräusch. Die Welt war einfach still, als sich meine Lungen das erste Mal mit Luft füllten.

      Ich öffnete die Augen und sah nur Angst, egal wen ich anschaute, ich sah nur Angst. Dann erblickte ich zum ersten Mal die Augen meiner Mutter, die Frau in der ich so lange heranwuchs. Ich freute mich schon lange auf sie, sie und endlich zu sehen zu können... Und was ich sah, löste bereits zum zweiten Mal in meinem Leben Angst aus. Sie wollte mich nicht, ich konnte es genau sehen und spüren, sie wollte nicht mich, sie wollte sie - meine tote Schwester.

      Obwohl mein Volk eine sehr gute Jagd hatte - so gut, wie seit vielen Sommern schon nicht mehr - war die Stille im Dorf unerträglich. Niemand war zu sehen und wenn jemand etwas erledigen musste, verhielt er sich so, dass ihn niemand sah.

      In der dritten Nacht nach meiner Geburt wurde meine tote Schwester verbrannt. Alle versammelten sich um das Feuer, alle, nur ich war nicht mit dabei. Das Feuer wurde entzündet, weit weg vom Zelt meiner Eltern. Meine Mutter nahm mich nicht mit. Ich lag alleine im Zelt und schrie und schrie und schrie... Aber niemand konnte mich hören. Das Feuer prasselte zu laut und ich war zu weit weg, ich war ganz alleine...

      Sieben Wochen lag meine Mutter in unserem Zelt, sieben Wochen sprach sie nicht. Ich lag auch nicht an ihrer Brust, sie weigerte sich schweigend und Eiramsor brachte mich zu einer anderen Frau, die noch genügend Milch in ihrer Brust hatte. Meine Mutter vermied sogar, mich zu berühren.

      „So geht das nicht weiter“, sagte Flodur zu Eiramsor. „Sie kann doch nicht immer nur so daliegen, das Leben geht weiter. Das große Ganze wird sich schon irgendetwas dabei gedacht haben.“

      Eiramsor stimmte ihm nickend zu. „Und es ist nicht gut, dass der Junge an der Brust einer anderen Mutter liegt. Anhoja, hörst du? Nimm deinen Sohn endlich an!“ Eiramsor schrie meine Mutter an. Aber in Mutters Augen regte sich nichts. Ihr Blick war leer.

      Sieben Wochen nach meiner Geburt stand meine Mutter plötzlich auf, so als wäre nichts gewesen. Schwankend ging sie zum Fluss, zog ihr Kleid aus und badete. Die Augen der Dorfbewohner folgten ihr. Niemand sagte etwas.

      Mein Vater ging ihr nach, hob ihr Kleid auf und reichte es ihr, als sie mit ihrem Bad fertig war. Er fasste sie mit beiden Händen an ihren Schultern und fragte: „Bist du wieder da?“ Sie nickte und zusammen gingen sie zum Platz in der Dorfmitte. Dort verkündete mein Vater, dass der Schatten von Anhoja gegangen sei und dass heute Abend der Vollmond gefeiert würde.

      Ein Windzug fuhr durch das Dorf, so als wenn alle Dorfbewohner gleichzeitig ausatmeten. Die Freude darüber, dass nun endlich wieder das gewohnte Leben weiterging, ließ vereinzelte Freudenrufe erklingen. Schlagartig war auch wieder das Spielen der Kinder zu hören.

      Mein Vater Flodur saß abends am Feuer und sagte wie so oft nicht viel. Er mochte nicht das viele Reden, er hörte auch nicht gerne zu. Er war jedoch auch nicht gerne alleine. Er saß einfach wie immer an seinem Platz und schaute ins Feuer.

      Meine Mutter Anhoja saß bei den Frauen und redete mit ihnen, redete so, als wäre nie etwas passiert. Es wurde viel gesprochen über das Kochen und welche Kräuter am besten schmeckten, über die Männer und über den bevorstehenden Abend. Es wurde über alles geredet, nur nicht über meine Geburt. Niemand traute sich diese zu erwähnen, doch alle wussten, dass etwas Seltsames passiert war.

      In unserem Volk war es Sitte, dass die Frauen sich die ersten sieben Jahre um die Kinder kümmerten - und bei mir war es auch so. Auch um mich kümmerten sich die Frauen, fast alle, bis auf meine eigene Mutter. Immer wenn sie mich sah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Und ich versuchte alles, nur um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Und so klein ich noch war, standen mir nur wenige Mittel zur Verfügung. Ich strampelte und schrie. Doch je stärker ich dies tat, desto weniger sah ich meine Mutter. Also machte ich es immer heftiger und immer lauter. Aber es half nichts. Nur wenn Eiramsor mich in den Arm nahm, fühlte ich mich wohl. Sie nahm mich so an, wie ich war. Sie sagte nicht viel, sie hielt mich und ich konnte mich entspannen. Immer wenn meine Mutter das sah, wurde sie wütend, wütend auf mich und auf Eiramsor. Doch ich verstand nicht, noch nicht.

      Ich lernte schnell und viel, viel schneller und viel mehr, als alle anderen Kinder. Mein Vater beobachtete mich sehr häufig, doch je mehr er mich beobachtete, desto weniger sprach er mit mir. Meine Entwicklung bereitete ihm sehr viele Sorgen. Sehr oft, öfter als ihm lieb war, beriet er sich mit den Ältesten des Stammes über mich und mein Dasein.

      Ich war anders, anders als alle anderen Kinder, die mein Volk je gesehen hatte. Ich lernte so schnell, dass ich schon mit drei Sommern den Frauen beim Zubereiten der Mahlzeiten helfen konnte. Ich war immer als erster da, immer in der Nähe meiner Mutter, damit sie sah, wie gut ich lernte. Doch je häufiger und besser ich etwas machte, desto mehr entfernte sich meine Mutter von mir.

      Nur Eiramsor war immer für mich da, tröstete mich, spielte mit mir, verband meine Verletzungen, die ich mir beim Spielen und Klettern zuzog, oder lächelte mich einfach nur an, wenn sie mich sah. Sie wurde immer mehr zu meiner Ersatz-Mutter.

      Auch wenn ich viel mit den anderen Kindern im Dorf zusammen war, blieb ich trotzdem sehr einsam. Nur Flaro, ein Junge in meinem Alter, wurde mein bester Freund. Flaros Mutter war die jüngste Schwester von Eiramsor und so ergab es sich, dass ich viel Zeit im Zelt von Eiramsor verbrachte und immer weniger Nächte im Zelt meiner Eltern schlief.

      Als ich sechs Sommer alt war, wurde meine Mutter wieder schwanger. Alle im Dorf waren besorgt und hatten große Angst vor der Geburt.