Georg Linde

Suilenroc - Krieger des Lichts


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durfte. So wuchs mein Bruder ohne seinen großen Bruder auf.

      Hinter den ältesten Frauen saßen die Mütter der Jungen, die heute Nacht zu Männern geweiht wurden, dahinter standen die übrigen Frauen. Auch hier hatte jede Frau ihren für sie vorgesehenen Platz. Ohne Worte und Streitereien kannte jede ihren Platz ganz genau. Die Kämpfe um diese Plätze fanden woanders statt. Im Alltagsleben, beim Kochen, beim Flechten oder anderen Tätigkeiten. Als ich klein war erlebte ich diese Streitigkeiten und Rivalitäten unter den Frauen sehr oft.

      Zwischen den Männern und Frauen gab es noch eine weitere Gruppe. Dort befanden sich die Frauen, die noch keinen Mann hatten. Denn jeder, der zum Mann geweiht wurde, durfte sich eine Frau erwählen und mit ihr ein eigenes Zelt beziehen.

      Und nun stand ich hier auf dem großen Platz unseres Lagers. Zwischen den Frauen und Männern brannte ein großes Feuer, um das sich die Jungen, die heute zu Männern geweiht werden sollten, versammelt hatten. Nur ich fehlte noch. Selbst Flaro stand dort, gestützt auf zwei Ästen, und grinste mich breit und erleichtert an. Seine Abwesenheit hatte ich nicht bemerkt, als ich nach meinem tiefen Schlaf das Zelt verließ.

      „Wir warten nur noch auf dich, Suilenroc, Jäger und Mann!“ Er konnte sein Lachen kaum zurückhalten.

      Mein Vater hob die Hand und augenblicklich verstummten alle. Nur noch das Prasseln des flackernden Feuers war zu hören.

      „Heute ist ein großer Tag, wir hatten eine so erfolgreiche Jagd, wie sie selbst die Ältesten der Ältesten noch nicht erlebten.“ Viele der Alten nickten zustimmend. Mein Vater fuhr fort. „Über 50 Büffel konnten wir erlegen und es gab keine Verletzten...“ Flaros Mutter wollte sich gerade erheben und protestierend das Wort ergreifen, als mein Vater den Satz beendete: „Alle Jungen, die an der Jagd beteiligt waren, stehen jetzt hier.“ Flaros Mutter beruhigte sich daraufhin.

      „Alle stehen hier und erheben ihren Anspruch darauf, zum Jäger und Mann geweiht zu werden. Als Mann habt ihr einen Anspruch auf eine Frau und euer eigenes Zelt. Doch lasst euch gesagt sein, die Frau, die ihr euch erwählt, muss auch euch erwählen und auch die Mutter dieser Frau muss euch als ihren neuen Sohn annehmen.“

      Eine plötzliche Unruhe entstand unter den meisten Frauen, die noch keinen Mann hatten. Nur die älteren unter ihnen blieben ruhig. Sie wussten, dass sie auch heute Nacht, wie auch in den Sommern zuvor, leer ausgehen würden. Es kam zwar immer mal wieder vor, dass sich Jung-Männer ältere Frauen nahmen, allerdings war dies nur sehr selten der Fall.

      Ich schluckte, jetzt erst wurde mir wieder bewusst, dass ich zum Mann würde und nun auch eine Frau erwählen durfte. Auch die anderen Jungen wurden unruhig und Vorfreude breitete sich aus. Heute Nacht würde noch viel passieren.

      „Doch bevor es soweit ist, werden wir mit dem Ritual fortfahren“, rief mein Vater lautstark.

      Einige Männer mit Schüsseln kamen über den Platz auf uns zu. Begleitet wurden sie von einigen Frauen, die Becher in den Händen hielten. Plötzlich fiel mir wieder ein, was als nächstes passieren würde. Blut, dachte ich, wir würden das Blut der Büffel trinken. Ekel schnürte mir den Hals zu. Nein, das konnte ich nicht tun, nicht nach dem, was heute bei der Jagd passierte. Ich wollte wegrennen, aber meine Füße bewegten sich kein Stück. Flaro bemerkte meine Anspannung, nahm meine Hand und drückte sie, nur kurz, damit niemand es sah, aber es reichte, um mich ein wenig zu beruhigen.

      Die Frauen verteilten die Becher und Trommeln setzten ein.

      Ariana, ein Mädchen, das mir seit frühester Kindheit als Gefährtin vertraut war, gab mir einen Becher, berührte sanft meine Hand und strahlte mich an. Ach Ariana, ich wusste gerade nichts mehr. Meine leeren Augen trafen die ihren und ihr Lächeln verschwand augenblicklich.

      Die Männer gossen das Büffelblut in die Becher. Als der letzte Becher gefüllt war, verstummten die Trommeln und Alirana, die Sängerin unseres Stammes, sang mit ihrer wunderschönen Stimme das Dankeslied an die Büffel. Während des Gesangs schaute uns das ganze Volk erwartungsvoll und neugierig an. Das Ritual wollte es so, dass die Jung-Männer während des Liedes den Becher Blut leerten. Einige tranken ihren Becher in einem Zug aus, anderen bereitete dies mehr Schwierigkeiten. Sie würgten die unangenehm riechende Flüssigkeit herunter und schüttelten sich. Sie wussten, dass jeder, der das Blut ausspucken würde, niemals zum Jäger ernannt geweiht werden würde. Sie alle tranken ihren Becher leer. Selbst Flaro, der sich vorbereitet und heimlich geübt hatte, stand mit seinem leeren Becher stolz dort. Nur ich hielt meinen vollen Becher noch immer in der Hand. Ich brachte es einfach nicht über mich. Ich versuchte mehrmals anzusetzen, doch jedes Mal, wenn ich den Becher hob, würgte ich und meine Kehle schnürte sich zu. Wie gelähmt stand ich dort.

      Sollte ich nun doch versagen, jetzt da Vater und Mutter auf mich schauten? Endlich konnte ich ihnen beweisen, was für ein Jäger ich bin und nun versagte ich vor allen.

      Das Lied neigte sich dem Ende. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Was nun?

      Flaro flüsterte schon: „Nun mach schon, du kannst es, ich weiß das, du schaffst alles!“

      Ja, das dachte ich auch immer und ein Becher voll Blut bewies mir nun das Gegenteil.

      „So, Suilenroc, so ist doch dein Name, nun trinke mein Blut“, hörte ich plötzlich die Stimme des Bullen, den ich heute getötet hatte. Der Schweiß lief mir ins Gesicht. Ich schloss die Augen.

      „Du bist doch tot“, erwiderte ich verdutzt in meinen Gedanken. Ich traute mich nicht, diese Worte laut auszusprechen, da ich spürte, dass alle ihre Augen mittlerweile auf mich richteten.

      „Ach Suilenroc, du darfst noch viel lernen. Nicht alles ist so, wie es scheint, und der Tod ist nicht das Ende. Der Tod ist der Anfang von etwas Neuem. Ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du mir einen neuen Anfang ermöglicht hast. Und nun trink bitte mein Blut und lass es so zu deinem werden und dein Blut zu meinem. Beeile dich, das Lied ist gleich vorbei.“

      Erschrocken wurde mir bewusst, dass Alirana zum letzten Ton angesetzt hatte, der noch über dem Lager nachklang. Also nahm ich den Becher und trank und trank und konnte es nicht fassen, was da meine Zunge berührte. Kein Geschmack von Blut. Es schmeckte süß, fast wie Honig, und blumig und nach Gras und ... nach Leben. Schon das zweite Getränk heute, das unerwartet wunderbar schmeckt.

      Ich sog den Geschmack auf und wollte nicht mehr aufhören ihn zu kosten. Der Becher war leer und ich forderte nur: „Mehr, gebt mir mehr!“ Die Männer mit den Krügen schauten verwirrt zu meinem Vater, der ungewöhnlich wohlwollend nickte. Und so schenkten mir die Männer nach. Der zweite Becher schmeckte sogar noch besser. Sie gossen wieder nach. Ganze sieben Becher leerte ich nacheinander. Mit jedem Becher wurde das Jubeln und Klatschen meines Volkes lauter. Während ich den siebten Becher leerte, fiel mein Blick auf meine Mutter. Sie starrte mich wütend an. Suiram war inzwischen durch den zunehmenden Lärm erwacht und beobachtete mich ängstlich. Mutter streichelte sanft über sein Haar.

      „Das hast du bei mir noch nie gemacht“, dachte ich verärgert und traurig zugleich und trank den Becher leer, ohne den Blick von meiner Mutter zu nehmen. Danach warf ich gedankenverloren den Becher ins Feuer und augenblicklich verstummte die Geräuschkulisse um mich herum.

      „Nachdem ihr alle den Saft des Lebens getrunken habt, esst nun vom Herzen des Lebens“, durchbrach mein Vater resolut die Stille.

      Unter Trommelwirbel eilten Männer mit großen Tellern herbei, auf denen jeweils ein Büffelherz lag. Ein kurzer Moment andächtiger Stille trat in, als die Männer sich postierten, bis die Trommeln erneut einsetzten. Die Frauen, die zuvor die Becher verteilten, standen mit Holzschalen hinter diesen Männern, um sie an uns Jung-Männer zu verteilen.

      Als die Männer ihre Messer ansetzten, um die Herzen in Scheiben zu schneiden, rief ich: „Halt!“ Doch niemand kümmerte es. Ich rief also nochmal etwas lauter und ging einen Schritt auf meinen Vater zu. Der hob gebieterisch die Hand und alle hielten inne. Stille breitete sich wieder aus.

      Er ist das Oberhaupt, dachte ich, und er genießt den Respekt aller Stammesmitglieder. Irgendwann werde ich... „Was gibt es, Sohn?“, fragte er. Überrascht über das Wort Sohn, vergaß ich für einen Augenblick meinen