AeNNiE Rupp

Schade, tot


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sich mit mir treffen wollte, ohne Schuhe bei Nacht und Nebel vor mir Reißaus genommen hatte, behielt ich lieber für mich. Ava sollte nicht denken, ich sei ein derartig abschreckendes Ungetüm. Aber ich konnte es einfach nicht für mich behalten und schrieb ihr auch dieses kleine Detail mit der beunruhigenden Gewissheit, sie würde sicherlich in tobendes Gelächter verfallen oder sich ernsthaft darüber Gedanken machen, was ich wohl für eine Art von Kerl sein musste.

      Es dauerte nicht lange, bis Ava zurück schrieb. Wie erwartet, musste sie über meinen Bericht wohl unheimlich gelacht haben, zumindest textete sie, wie sehr ihr Bauch vor Lachen schmerze. Dann fragte sie, was ich denn getan hätte, um dieses arme Mädel derart in die Flucht zu schlagen, dass sie sogar ihre Schuhe liegen ließ.

      Ich saß vor dem Bildschirm und zuckte fragend mit den Schultern, bevor ich wieder zu tippen begann. Ava erzählte ich von der Sauforgie meiner Begleiterin und dass sie wohl nachts panisch in einer fremden Wohnung – nämlich meiner – aufwachte, nicht wusste, wo sie war und dann einfach nur schnell weg wollte. Das hätte doch sicherlich jedem passieren können, nicht nur mir. Das hoffte ich zumindest.

      Ava stimmte mir zu. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es sein musste, die Augen nach einer durchsoffenen Nacht zu öffnen und sich in einem Schlafzimmer wiederzufinden, das definitiv nicht das eigene war. Sie sagte, an Beckys Stelle hätte sie wohl kaum anders reagiert. Aus genau diesem Grund würde sie sich niemals so abfüllen, schrieb sie, was mich sehr erleichterte. Wenn es jemals zu einem Treffen zwischen uns kommen sollte, könnte ich sicher sein, dass sie nicht torkelnd neben mir her liefe, sondern ich das Date mit ihr nüchtern und in vollen Zügen genießen könne. Aber was dachte ich da! Ein Date mit Ava! So weit war ich noch gar nicht. So weit waren wir noch nicht. Wir kannten uns ja nicht einmal wirklich. Aber falls wir uns eines Tages treffen sollten, würde alles mit ihr vernünftig verlaufen. Was aber noch viel wichtiger war, es würde so ablaufen, dass sowohl sie als auch ich uns am nächsten Tag noch an das Date erinnern könnten und zwar gern.

      Noch ehe ich weiter spinnen konnte, wie unser Zusammentreffen wohl von Statten gehen würde, erhielt ich ihre nächste Nachricht, die mir ein kalter Schauer bescherte.

      ´Pling`

      „Hast du schon die Nachrichten gehört? Man hat eine junge Frau tot unter einer Brücke gefunden. Ist das nicht schrecklich?”

      Ich zögerte. Dieses Thema passte so gar nicht in meinen Gedankengang und holte mich rasch in die Realität zurück. Langsam tippte ich, unsicher, ob ich die passenden Worte finden würde.

      `Pling`

      „Was für eine Brücke und wann hat man sie gefunden?”

      Ava antwortete:

      „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen! Die Nachrichten sind voll davon! Man hat eine Frauenleiche an der Brohltalbrücke gefunden. Genau an der Brücke, über die du doch regelmäßig zur Arbeit fährst oder? Von dem oder den Tätern fehlt aber jede Spur und die Identität der Frau war bis vor Kurzem auch noch nicht bekannt, weil man ihr das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagen hat. Was für Monster sind zu sowas im Stande?”

      Ich schauderte. Der erste Name, der mir durch den Kopf schoss war Becky. Aber das war Unsinn. Nur weil sie vor mir weggelaufen war, oder nicht mal das. Sie war einfach so weggelaufen, das hatte mit mir rein gar nichts zu tun. Dennoch war das noch lange kein Grund, dass sie die Leiche war. Nein. Was wäre das für ein Zufall? Wie sollte Maria ihr dann die Schuhe am Wochenende wieder zurückgeben?

      Vorsichtig fragte ich nach:

      „Weiß man denn ihren Namen?”

      `Pling`

      „Nein, die Polizei will ihn auf Rücksicht auf die Angehörigen nicht Preis geben, was ich mehr als verständlich finde. Über den genauen Hergang ist auch nicht viel bekannt. Man hat keinerlei Anhaltspunkte, wie die Frau dort hingekommen ist, aber man vermutet, es muss irgendwann in den frühen Morgenstunden passiert sein. Eine Spaziergängerin hat sie wenige Stunden nach ihrem Tod gefunden und sofort die Polizei alarmiert. Schrecklich, nicht wahr?”

      Ich schüttelte den Kopf. Warum wollte mich der Gedanke an Becky nicht mehr loslassen? Ständig hatte ich ihr Gesicht vor Augen, wie sie mehr tot als lebendig in meinem Bett lag. Sofort recherchierte ich im Netz nach weiteren Informationen, doch dort fand ich auch nicht viel mehr Wissenswertes als das, was Ava mir schrieb. Bis auf ein weiteres, für mich nicht unwesentliches Merkmal: Das Opfer hatte hellblond gefärbte, schulterlange Locken.

      Mein Körper zitterte erneut. Geistesabwesend drehte ich mich zu Maria um und wusste nicht, was ich denken sollte. Sie trug Beckys Schuhe, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.

      Als hätte sie meinen Blick bemerkt, erwiderte sie ihn mit geröteten Wangen. Ich zögerte nicht lange und ging auf sie zu. Hastig klickte sie mit ihrer Maus herum. Kaum hatte ich ihren Schreibtisch erreicht, legte sie die Hände auf den Schoß und blickte zu mir auf. „Was gibts?”, fragte sie mit aufgesetztem Lächeln. „Hast du das von der Frau gehört?”, stellte ich leise die Gegenfrage. Ich wollte nicht, dass irgendjemand dieses Gespräch mitbekam und womöglich noch falsche Schlüsse zog.

      Maria legte die Stirn in Falten: „Welcher Frau?” Ich ging zu ihrem Rechner und öffnete ein neues Fenster mit der Nachricht über den Leichenfund. Sofort wurde Maria blass und ihr Mund stand offen. Fassungslos beugte sie sich nach vorn, las jede Zeile aufmerksam und ihre zittrige Hand bewegte sich allmählich in Richtung Gesicht. „Oh mein Gott!”, hauchte sie und sah mich schließlich mit weit aufgerissenen Augen an. „Meinst du, das ist sie?” Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ihr etwas Schreckliches passiert ist in der Nacht, in der sie abgehauen ist.” Dann verzog sich Marias Gesicht zu einer Fratze und sie streifte panisch die Schuhe von ihren Füßen und kreischte dabei laut auf. Ihr ganzer Körper begann zu zittern und sie schrie. Es gelang mir nur mühsam, sie festzuhalten und beruhigend auf sie einzureden, damit sie wenigstens aufhörte zu schreien.

      Die anderen Büroangestellten ließen die Telefonhörer fallen und sprangen erschrocken auf um zu sehen, was mit Maria los war. Sofort kam Susi mir zu Hilfe und brachte Maria in den Kaffeeraum. Wir versorgten sie erst einmal mit kaltem Wasser und ich hatte Mühe, Susi schnell wieder aus dem Raum zu kriegen, um ungestört mit Maria über Becky reden zu können.

      Maria war völlig apathisch und schnappte nach Luft. Ich dankte Susi für ihre Hilfe und drückte sie unsanft und mit wenig Geduld in Richtung Tür. Meine sonst so höfliche Art war weg. Jetzt gab es einfach Wichtigeres als auf meine Ausdrucksweise zu achten. Sie ging zum Chef und berichtete dort, dass Maria wohl gerade einen Schock erlitten habe.

      Maria saß da und sah mich mit angsterfüllten Augen an. „Und wenn sie es doch war? Wenn Becky ermordet wurde und wir nur unsere Späße darüber machten, dass sie ohne ihre Schuhe abgehauen ist? Wir hätten ihr Verschwinden nicht so leichtfertig auf die Schulter nehmen und stattdessen nach ihr suchen sollen! „Das ist alles unsere Schuld!”, schluchzte Maria. Die ersten Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ich streichelte ihr über die Locken und hielt ihre kalte Hand. Zugegeben, mir war auch schlecht bei dem Gedanken, Becky sei vor mir weg und geradewegs in ihren Tod gelaufen, doch Maria war mir in diesem Augenblick einfach wichtiger. Sie musste ruhig werden. „Becky war meine Freundin. Natürlich gab es auch hin und wieder Zoff, weil sie auf Eric stand, ihn aber nie bekam. Aber wenn sie jetzt wirklich tot ist … Nein, das glaube ich nicht.” Ich setzte mich neben Maria. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Becky die Tote ist. Das geht doch gar nicht. Wie soll sie denn dahin gekommen sein? Das ist doch völlig unlogisch.“ Ich hörte meine Worte, doch sie schienen nichts zu bewirken, weder bei ihr noch bei mir. Wir wussten beide, dass bloße Mutmaßungen und haltlose Erklärungen unser Gewissen keinesfalls beruhigen würden und alles, was wir in der Situation tun konnten war abzuwarten, welche Informationen die Polizei als nächstes öffentlich bekannt machen würde.

      Was aber noch beunruhigender war als die Möglichkeit, dass Becky die Leiche sein könnte war die Vorstellung, wenn sie es wirklich gewesen ist, dann bin ich der Letzte gewesen, der