Benedict Dana

Mo Morris und der Supervirus


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riss ihm das Nachtsichtgerät aus der Hand, und als auch er den gigantischen Schiffsrumpf und die Container sah, schien ihn ein elektrisierender Strom in höchste Anspannung zu versetzen. Mo spürte noch immer die seltsame Benommenheit, die ihn bereits unter Deck befallen hatte, und flüsterte:

      „Spürst du es nicht auch, Mann? Irgendetwas geht von diesem Schiff aus, eine merkwürdige Kraft, vielleicht eine Strahlung oder so etwas…“

      Sein junger Partner hörte kaum hin und drängte ihn den Niedergang hinunter, um Mickey zu informieren und die Spezialausrüstung an Deck zu zerren. Wenig später hatte Mo bereits die vier schweren Magneten angelegt und sich Jayden das Seil mit einem Karabinerhaken um seine Taille geschnallt.

      Dann herrschte plötzlich völlige Dunkelheit, da Mickey die Kajütenbeleuchtung ausschaltete, nachdem er schon zwei Stunden zuvor die Positionslichter gelöscht hatte. Er steuerte die „Star of Atlantis“ mit halber Kraft in einen Bogen nach Backbord hinein und begann die Entfernung zum Zielobjekt unaufhaltsam zu verringern. Mo beobachtete derweil durch das Nachtsichtgerät die linke, jetzt bloß noch 200 Yards entfernte Flanke des kolossalen Frachters und schätzte, dass er zu der so genannten „Panamax-Klasse“ zählen musste. Dabei handelte es sich um die Sorte von Containerschiffen, die die maximal zulässige Länge von rund 320 Yards und 35 Yards Breite meist voll ausschöpften, aber niemals überschritten, weil der Panamakanal vor seiner jüngsten Erweiterung keine größeren Schiffe zugelassen hatte. Die mächtige Bordwand, die schwarz und drohend in den nächtlichen Himmel aufragte, kam ihm wie ein unüberwindliches Hindernis vor, das nur durch gut trainierte Spezialeinheiten zu bezwingen war. Der Koloss hatte auffällig wenige Positionslampen gesetzt und die kleine Zahl der übrigen Lichter, die inzwischen deutlich mit bloßem Auge zu erkennen waren, ließ auf eine großenteils schlafende Besatzung schließen.

      Der nach dem Abflauen des Sturmes stetig geringer gewordene Wellengang und die starke Bewölkung, die so gut wie kein Mond- und Sternenlicht hindurch ließ, ergaben ideale Bedingungen, weshalb es keinen Grund gab, unnötig lange um das Ziel zu kreuzen und den Entergang künstlich zu verzögern. Mickey war inzwischen an Deck gekommen und hatte die Schleife der „Star of Atlantis“ zu Ende gezogen, so dass sie sich bald kaum noch 50 Yards hinter dem Frachter befanden und mit voller Maschinenkraft gegen die hoch aufschäumenden Wellen in dessen Fahrwasser ansteuerten. Als Mo den weißen Schriftzug am Heck entziffern konnte, bekam der Name „Conqueror of the Seas“ in dem milchigen Grün des Nachtsichtgerätes eine besonders bedrohliche Note; die Aura von unheimlicher Erhabenheit, die den gigantischen, schwarzen Rumpf mit seinem wie ein Hochhaus in den Himmel ragenden Decksaufbau umgab, schien das Schwarz des Himmels und der See noch finsterer zu machen und alles in eine Erwartung von Gefahr und Verderb zu tauchen.

      Plötzlich startete Mickey eine psychologische Spezialbehandlung, die er sich absichtlich für die letzten Minuten aufgehoben hatte. In dem Moment, als sie sich bereits nahe der Stelle im hinteren Bereich der linken Bordwand befanden, an der sie andocken wollten, brach auf einmal etwas extrem Kämpferisches und Aggressives aus dem Ex-Soldaten hervor. Es konnte nur mit der Erfahrung realer Kriegseinsätze zusammenhängen, die tiefe, untilgbare Spuren in seinem Charakter hinterlassen und ihn für den Rest seiner Tage zu einem harten Hund gemacht hatten.

      „ALSO WAS IST JUNGS !?“, brüllte er sie mit äußerster Lautstärke wie ein Drill Instructor an. „Wollt ihr den verfluchten Kahn entern oder nicht? Ihr geht jetzt da rauf und nichts und niemand im ganzen Universum wird euch aufhalten!“

      Für Jayden hatte das Geschrei keine Bedeutung, da er ohnehin längst damit beschäftigt war, die ihm zugedachte Aufgabe auszuführen: Er schnallte sich das Nachtsichtgerät auf den Kopf, spannte die Armbrust und wartete einen günstigen Augenblick zwischen zwei Wellen ab, damit ihm ein exakter Abschuss des Enterhakens gelang. Als er den Auslöser betätigte und der Haken vor der etwa 16 Yards hohen Bordwand in den Himmel schoss, war sein lautloser und unsichtbarer Aufprall auf Deck lediglich durch einen leichten Ruck im Seil zu spüren. Bald darauf fing Mickeys martialisches Gebrüll wieder an.

      „WEN IMMER IHR DA OBEN ANTREFFEN WERDET, JUNGS, REISST IHNEN MÄCHTIG DEN ARSCH AUF!

      Ihr seid Maschinen, versteht ihr? Keine weichen, ängstlichen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern gut geölte Kriegsmaschinen, die niemand aufhalten kann! Keine Gefühle, keine Schwäche, nur ein gnadenloses Programm, das genau nach Plan abläuft! Ihr werdet da wie ein Kampfroboter rauf gehen und wer sich eurer Maschinenkraft in den Weg stellt, wird rücksichtslos niedergemacht! Ihr werdet jetzt den alten Tim Diamond da raus holen! Ich spüre, dass er in Schwierigkeiten steckt und dringend unsere Hilfe braucht! Und falls irgendetwas nicht nach Plan verläuft, dann wird die Maschine eben neu programmiert und auf ein neues Ziel eingestellt! Kalt, schnell und flexibel muss die ideale Kampfmaschine sein! Zur Not sprengt ihr das ganze verfluchte…“

      Er verstummte plötzlich, da sich Jayden in diesem Moment dazu entschlossen hatte, dem dummen Gebrüll nicht länger zuzuhören und sich lieber sofort die wenigen verbleibenden Yards zum Frachter hinüber zu schwingen. Sie beobachteten gebannt, wie er sich nach dem Absprung mit den Füßen an der Bordwand abfederte, nacheinander die beiden Magneten an die Stahlwand heftete und sich mit ihrer Hilfe langsam nach oben zog.

      Kurz darauf schlug auch Mo knapp über der Wasserlinie mit seinen Füßen an die Bordwand an und schaffte es ohne Probleme, die Magnete in Stellung zu bringen. Die Energie, die im ersten Moment von dem riesigen, völlig ruhig im Wasser liegenden Rumpf des Schiffsgiganten auf ihn übersprang, löste nach dem stürmischen Abend auf der kleinen Segelyacht ein völlig unerwartetes, paradoxes Gefühl von Sicherheit in ihm aus. Mickey fing bald wieder an herumzuschreien, aber sie hörten ihn schon fast nicht mehr, da die Yacht mittlerweile ein ganzes Stück abgetrieben war. Zuletzt klang es fast so, als wäre ihr trinkfreudiger Captain verrückt geworden und als wäre es nun sein Schicksal, allein und ohne Ziel im Dunkel auf dem Ozean herumzutreiben und vielleicht nie wieder Land zu sehen. So hohl sich sein martialisches Gebrüll auch angehört hatte, so sehr musste sich Mo nun eingestehen, wie wirkungsvoll es war: Ein Teil von ihm hatte sich tatsächlich in eine „Maschine“ verwandelt, in ein exakt ablaufendes Uhrwerk, dessen vorherrschende Kraft nicht von Angst, sondern von kalter Entschlossenheit getrieben war. Das sanfte, durch die Schiffsmaschine verursachte Vibrieren des Rumpfes, das sich durch die Magneten direkt auf seine Hände übertrug, wirkte auf seltsame Weise beruhigend auf ihn und spornte ihn an, sich zügig und geschmeidig nach oben zu ziehen. Die sich an dieser Stelle nicht nach außen wölbende, sondern genau senkrecht aufragende Schiffswand machte den Aufstieg leichter, als er erwartet hatte. Es dauerte nicht lange, bis er das Blinken einer Taschenlampe in der Dunkelheit sah und wusste, dass Jayden das Deck erreicht hatte. Wenig später streckte ihm sein Partner seine helfenden Hände aus der Dunkelheit entgegen und hievte ihn über ein breites Stahlgeländer an Bord des Superfrachters.

      Auf dem menschenleeren, nur schwach beleuchteten Achterdeck stapelten sich die Container dicht an dicht in die Höhe, und von dem zentralen Decksaufbau - einem riesigen, weißen Kubus mit acht Stockwerken, der sich etwa 40 Yards weiter vorne befand - ging nicht das geringste Zeichen aus, dass ihre Ankunft bemerkt worden wäre. Sie schleppten die Ausrüstung in einen der schmalen Gänge, die in regelmäßigen Abständen zwischen den Containerreihen verliefen, und fanden den Enterhaken hinter einem am Boden verlaufenden Rohr. Das GPS-Gerät schien aus irgendeinem Grund leicht gestört zu sein, da sich die Anzeige des kleinen Bildschirms immer wieder etwas verzerrte. Die Distanz zum Ortungschip wurde mit genau 201,225 Yards angezeigt, was deutlich bewies, dass sich Tim Diamond tatsächlich an Bord der „Conqueror of the Seas“ befinden und irgendwo weit entfernt auf dem vorderen Teil des Schiffes aufhalten musste.

      Nachdem sie es geschafft hatten, sich an dem zum Teil beleuchteten, achtstöckigen Decksaufbau vorbeizuschleichen, tauchten sie wieder in den Schutz der Dunkelheit ein und verschwanden zwischen den Containern des Vorderdecks. Sie schlüpften unter den Tragegerüsten der Containertürme hindurch, bis sie nach etwa hundert Yards eine bedeutende Entdeckung machten: Auf einer freien Fläche stand eine riesige Satellitenschüssel, die sich hinter jeweils einer Containerreihe an ihrer rechten und linken Seite nach außen hin verbarg. Plötzlich war Mo in der Lage, sich die Beklemmungsgefühle, die er bereits an Bord der Yacht gespürt hatte, plausibel zu erklären. Es musste sich um Elektrosmog handeln, da sie in der unmittelbaren