Marlon Thorjussen

Bis Utopia


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oder so ähnlich, würde er es machen! Und er war noch niemals in Berlin. Da wollte er mal hin. Und er könnte seinen Eltern endlich den Wintergarten kaufen, von denen sie immer geträumt hatten.

      Nach dem Vollenden seiner Kündigung, die er möglichst so formulierte, dass es nicht so klang, als sei er plötzlich reich, war es schon zehn Uhr. Er setzte seine kunstvolle Unterschrift darunter und überlegte, wie er den Tag verbringen sollte.

      Er begann damit, sich zu duschen. Die Rasur ließ er dabei aber komplett aus. Die Bartstoppeln in seinem Gesicht waren ein ungewohnter Anblick. Dann besah er sich einige Zeit im Spiegel.

      „Das“, fragte er sich selbst, „soll also perfekt sein?“

      Er schüttelte ungläubig den Kopf. Nicht, dass er Wissenschaftlern nicht grundsätzlich vertraut hätte – zumindest eher als Geistlichen – aber er entwickelte noch kein Gefühl für seine Perfektion. Das sich in ihm abspielende Genetische verstand er ohnehin kaum.

      Er ließ sich die Mitose bei Youtube von einer Studentin erklären und sah eine Dokumentation über Erbkrankheiten. Dann fand er einen Beitrag über Mutationen.

      „Aliens in Area 51“, wurde ihm als nächstes vorgeschlagen. Er klickte darauf. Irgendwer hatte einen alten Beitrag hochgeladen, ihn mit sechs Werbeanzeigen, die alle sieben Minuten auftraten, versehen und deklarierte das Video als aktuell in der Beschreibung. Peer suchte sich einen anderen Beitrag und fühlte sich wieder einmal darin bestätigt, dass das Internet so toll nicht sein konnte.

      Sein Nutzerverhalten beschränkte sich im Wesentlichen auf Pornographie, Nachrichten und Facebook. Auf letzterem hatte er 154 Freunde. Von denen kannte er circa dreißig näher und einer davon war sein Vater. Der war allerdings schon seit einigen Monaten nicht mehr dort aktiv gewesen.

      Koi zum Beispiel war von Peers Facebook-Freunden, denn Koi hatte hier kein Profil. Zum einen lag es daran, dass Koi ein Misanthrop erster Güte war und zum anderen daran, dass er es lästig fand, wenn seine Verwandten ihn mit Japanisch zukleisterten, obwohl er das nie zu verstehen gelernt hatte. Zudem war Kois Familie relativ bekannt in der Japanischen Gemeinschaft in Düsseldorf, was wohl an ihrem Erfolg und an ihrer Familiengeschichte lag. Der Erfolg hatte etwas mit Autohäusern zu tun und die Familiengeschichte mit Landesverrat im zweiten Weltkrieg durch Kois Großvater väterlicherseits. Und so zog sich die Familie Yamamoto mehr und mehr aus der Japanischen Gemeinde zurück. Koi und seine Geschwister ließen ihre Bindungen zu Japan reißen und mieden ab einem gewissen Alter die sozialen Verpflichtungen. Der älteste Bruder übernahm das Geschäft der Eltern, und Koi selbst trennte sich schließlich auch örtlich von der ihm zugedachten Umgebung.

      Peer driftete in den nächsten Stunden, sich immer neuen Tee machend, in die weiten Welten des Internets ab. Sein Grundwissen in der Biologie war eher dürftig. Deshalb war ihm vieles neu. Crick und Watson, ihr Modell der DNS und die zentralen Mechanismen der Zellteilung und Verdopplung des Desoxyribonukleinsäurestranges an sich verstand er nach einiger Zeit ganz gut. Was ihm gänzlich fehlte, war aber die Erklärung dafür, wie genau ein Gen nun funktionierte. Er hatte verstanden, dass je drei Basen (aus den Vieren: Guanin, Cytosin, Adenin und Thymin) einen Code bildeten, der wiederum eine Aminosäure beschrieb. Und aus den Aminosäuren in bestimmten Kombinationen ergaben sich dann Proteine und aus diesen bestand ein Lebewesen größtenteils. Alles Weitere verstand er dann schon wieder nicht. In Sachen Evolution bildete er sich ein, wenigstens ein wenig Verständnis dafür zu haben, beließ es aber dabei und verzichtete auf eine Unterweisung in diesen Themen. Ihm qualmte ja schon der Schädel aufgrund des Überangebotes an Informationen.

      Gegen Nachmittag stellte er dann fest, dass er seit seiner letzten Mittagspause nichts gegessen hatte. Er hatte nur getrunken, worauf ihn sein Magen und seine Blase aufmerksam machten. Ein paar Kekse erledigten daraufhin ihre Arbeit und gaben Peer ein wenig Fülle zurück. Tee und Kekse waren in Peers Haushalt der Fraß der Reichen. Kuchen hatte er gerade einfach nicht in greifbarer Nähe.

      Gegen fünf rief er im Haus seiner Eltern an.

      „Bursche! Musst du nicht arbeiten?“, begrüßte ihn sein Vater.

      „Hallo Papa. Wie geht es dir?“, erwiderte Peer.

      „Gut wie immer. Weißt ja, wie es hier ist. Aber den Kanteros ist letztens die Töle überfahren worden. Rums! Quietsch! Platt wie ein Omelette. Deine Mutter hat einen kleinen Sarg gebastelt. Für die Kinder. Die haben schon Bolzen in Kuhköpfe gejagt, aber so ein überfahrener Hund war dann zu viel. Haben geheult ohne Ende hier.“

      Die Kanteros waren die Nachbarn seiner Eltern. Ihnen gehörten alle Anbauflächen um das Haus herum, so dass seinen Eltern selbst nur ein paar Obstbäume blieben. Allerdings arbeite seine Mutter ohnehin nicht mehr und hatte sich Holzarbeiten zugewandt und sein Vater schuf das Geld als Postbote heran. Vier Tage die Woche sammelte er alles ein, was in den umliegenden Dörfern so anfiel und fuhr es in die kleine Stadt. Von dort aus wurde es dann weiter ausgetragen. Es spielte, wie er Peer mal lang und breit erklärt hatte, auch überhaupt keine Rolle, ob ein Brief von Dorf A nur nach Dorf B musste. Er wurde immer erst zur Stadt gebracht. Von Dorf A nach Dorf B wären es fünf Kilometer gewesen und über die Stadt eben über fünfzig. Das ergab sowohl für ihn als auch für Peer keinen Sinn. Und trotz dessen, dass er darin mit seinem Vater übereinstimmte, hatten sie sich nie getroffen – obwohl Peers Büro kaum dreihundert Meter von der Poststelle, zu der sein Vater häufig reiste, entfernt lag. Wahrscheinlich betrachte Papa Flint seine Reise in die Stadt nur als Umweg von Dorf A nach Dorf B und auf Wegen verabredete man sich einfach nicht. Dafür waren Häuser da, wenn es nach Peers Vater ging und noch besser wäre natürlich ein Wintergarten gewesen.

      „Was wünschen sich Mama und du?“, fragte Peer ihn. Zum einen, weil ihn die Kanteros nicht sonderlich interessierten und zum anderen, weil er ohne Umschweife Freude erzeugen wollte.

      „Wir haben April. Weihnachten ist noch hin und Geburtstag hat hier auch keiner.“ Peers Vater war Realist.

      „Ich meine etwas Materielles, was ihr euch bisher nicht leisten konntet. Irgendetwas Aufwendiges. Denk mal nach, Papa!“

      Stumm atmete Papa Flint in den Hörer. Er dachte offensichtlich nach. Die Unfähigkeit, Wünsche akut in Worte zu fassen (oder in Gedanken) hatte Peer von ihm übernommen, oder aber sogar geerbt.

      „Wintergarten!“, sagte er dann knapp.

      „Dann sollt ihr einen haben. Einen, wie ihr ihn haben wollt. Ich komme morgen oder übermorgen vorbei. Dann schauen wir uns alles an, was man da machen kann.“

      „Und deine Arbeit?“, wollte Papa Flint wissen.

      „Gekündigt. Ich suche mir was Neues.“

      „Ah“, machte Peers Vater. „Und woher hast du so viel Geld? Gespart, oder was?“

       „Gespart. Und ein bisschen was gewonnen. Es reicht, bis ich was Neues habe und für einen Wintergarten“, log Peer. Immerhin. Er hatte gerade seinen Vater gut belogen und wurde nicht einmal rot. Wahrscheinlich hatte er noch Alkohol im Blut.

      „Also bis dann“, sagte sein Vater. Weder Aufregung noch Skepsis lagen in dessen Stimme, denn er akzeptierte Gesagtes meist einfach als Tatsachen. „Willst noch mit Mama sprechen? Sie ist im Keller und bastelt schon wieder... Ich werde noch verrückt vom ganzen Klebergestank!“

      Dann hörte Peer Schritte und wartete. Sein Vater hatte das Telefon einfach abgelegt. Ob er es nur vergessen hatte, oder ob er Peers Mutter ans Telefon holen wollte, blieb abzuwarten. Das waren die Konflikte in der Familie Flint.

      Wenig später hörte Peer Mama Flints dünne Fistelstimme.

      „Peer!“, schrie sie mit gut fünfundzwanzig Dezibel ins Telefon. „Wie geht es dir? Ich bastle gerade an einem Sarg für den – du hast es schon gehört, oder? Die armen Kinder... War doch nicht fertig. Da müssen kleine Scharniere ran, damit man den auch aufklappen kann. Nicht, dass man das sehen müsste. Aber einfach nur den Deckel auflegen und festnageln – Nein!“

      „Schön“, sagte Peer. Ihn erschöpfte es immer, seine Mutter am Telefon zu sprechen. Neben ihrer schwachen Stimme lag das vor allem daran, dass sie diese trotzdem gerne