Marlon Thorjussen

Bis Utopia


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man es sich in der Familie Flint angewöhnt, nicht ständig nachzufragen, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Man riskierte damit ja, dass der gesamte Themenblock noch einmal auf einen einprasselte. Und die wichtigen Informationen waren zumindest Peers Vater zu Genüge bekannt – man hatte das verflixte siebte Jahr schließlich überstanden. Und dann kamen noch weitere dreißig Jahre dazu.

      „Und dieser Fahrer, der den Hund, den armen, armen, armen Hund – ach Peer! Wir glauben ja, das war der Mitschelsky von gegenüber. Der hat das Tier doch immer gehasst. Und genau heute war sein Auto blitzblank! Frisch gewaschen, hat er vor ein paar Stunden noch – ich glaube, es war um neun oder zehn – gesagt. Blitzblank frisch gewaschen. Aber die Kinder sind jetzt wichtiger. Ich habe deinen Vater schon gefragt, ob wir mit den Kanteros für einen neuen Hund zusammenlegen sollten. Ich weiß ja nicht, was die verdienen. Dein Vater sagt, die haben selber genug. Aber das muss ja auch wieder so ein edler sein. Was war das gleich für einer?“

      „Basenji, glaube ich. Konnte nicht einmal bellen“, übernahm Peer das Gespräch. „Vielleicht sollte man das erst einmal sacken lassen. Erst einmal das Tier unter die Erde bringen, Mama. Dann weiter schauen. Das sind ja noch Kinder. Die vergessen das vielleicht wieder.“

       „Vielleicht. Aber vom jüngeren, vom Karl war das doch der beste Freund! Da kam er von der Schule und musste dann das arme Tier von der Straße kratzen. Also, nicht wirklich. Das hat seine Schwester gemacht. Und dein Vater. Die haben den aufgesammelt. Der war regelrecht ausgewalzt worden vom Mitschelsky!“

      „Das arme Tier“, pflichtete Peer bei. Kurze Pause; kurzes Gedenken an den Rassehund. Peer hatte ihn nur ein paar mal in der Einfahrt bei Kanteros gesehen.

      „Ich will aber etwas anderes von dir“, sagte er dann, als ihm die Pausenlänge dem Hundstod angemessen vorkam. „Ich habe mittlerweile ein wenig Geld. Papa erzählt dir das bestimmt später. Und ich wollte die Tage vorbei kommen. Weil ihr doch immer einen Wintergarten wolltet, gleich am Wohnzimmer.“

      „Das wäre toll!“ Der Ausruf ließ sie ein wenig röcheln.

      „Ich würde dann morgen oder übermorgen vorbei kommen. Da seid ihr doch beide zuhause, oder?“

      „Ja, wo sollten wir denn sonst sein? Aber übermorgen ist besser. Ich muss ja dann was vorbereiten!“

      „Also übermorgen. Vor dem Mittagessen. Soll ich etwas mitbringen?“

      „Nur gute Laune, Peer. Nur gute Laune.“ Peers Mutter liebte diesen Spruch.

      Und so war es dann abgemacht. Peer würde sich in zwei Tagen einen Mietwagen nehmen (zumindest erschien ihm das am Bequemsten) und seinen Eltern zu einem Wintergarten verhelfen. Wenn ihm durch eine dumme Begebenheit etwas zustoßen sollte, wollte er das wenigstens erledigt haben. Es war schließlich vieles passiert. Nachdem Peer mehrfach beteuerte, dass es ihm wirklich gut ging, konnte er sich endlich lösen.

      Es war jetzt gerade einmal früher Abend und noch immer wusste er nichts mit sich anzufangen. Zudem hatten die Kekse damit abgeschlossen, ihn zu sättigen.

      Peer zog sich an und trat vor die Haustür. Die Luft des zweiten Aprils war genauso ausdruckslos wie die des ersten Aprils. In seinem Viertel der Stadt war alles unverändert. Es war einfach nur so, dass ein Bewohner plötzlich reich war, während der Rest auf den Status Quo sitzen blieb. Wobei der Status Quo für die meisten Leute hier gar nicht so übel war. Schließlich litt die Stadt nicht unter Arbeitslosigkeit und hohen Mieten. Es gab einfach nur attraktivere Städte.

      Nur Peer Flint, wohnhaft im Molkereipfad 64, war nun ein reicher Mann. Aber das sah man ihm beim besten Willen nicht an. Vielmehr wirkte er in seiner alten Jeans und mit seinem beigen Mantel wie jemand, der die Bushaltestelle nach einer durchzechten Nacht nicht fand. Seine Bartstoppeln verstärkten den Eindruck nur noch.

      Für einen kurzen Moment überlegte er wieder einmal, dem Bistro im Haus einen Besuch abzustatten. Allerdings sah er aus dem Augenwinkel den mies gelaunten Küchenchef, der wie eh und je darüber nachdachte, mit welcher Ausrede er seine Frau dieses Mal zusammenstauchen würde. Der Mann war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut. Mit dem richtigen Werkzeug ausgestattet hätte er durchaus zum Mörder getaugt.

      Wenig später stillte Peer seinen Hunger schließlich an einem unscheinbaren Würstchenstand in der Innenstadt. Er aß hier recht häufig, wenn er seine Mittagspause hatte. Der Verkäufer sprach ihn darauf an. Schließlich hatte er nicht mehr mit Peer gerechnet, denn Peers übliche Mittagszeit war lange rum.

      „Habe frei“, sagte Peer schmatzend. Ein Stück Wurstpelle hatte sich zwischen seinen Schneidezähnen an einer Position verfangen, an der man es unmöglich durch Zungenbewegungen herauspulen konnte und Peer dachte kurz über einen Zusammenhang zwischen dem Speiserest zwischen seinen Zähnen und seiner Unehrlichkeit diesem fremden, loyalen Wurstverkäufer gegenüber nach, kam aber zu keinem sinnvollen Schluss.

      „Gut für Sie“, sagte der Mann gleichgültig und fertigte zwei Bockwürste mit Senf für ein paar Kinder ab. „Will auch gern frei haben. Habe immer gesagt: Irgendwann verdiene ich hiermit Kohle. Und dann verkauf ich den Stand. Und dann geht es nach Spanien. Da ist doch alles billiger!“

      „Ist das so?“ Der Fleischfetzen rutschte ein wenig nach oben.

      „Ja, ja. Wenn ich es doch sage. Nach der Finanzkrise vor allem. Häuser sind jetzt billig in Spanien. Aber was erzähle ich Ihnen das. Sie sind ja auch gefangen in Ihrem Büro! Wir arbeiten – und die da oben haben vom lieben Gott doch alles Geld in den Arsch geblasen bekommen!“

      „Oder von ihrer Genetik“, nuschelte Peer beim Versuch, sich die Zähne mit seinem Daumennagel zu reinigen.

      „Wie jetzt?“, kam es von dem Wurstverkäufer. In seinem fettigen Gesicht machte sich tiefes Unverständnis breit. Probehalber krempelte er sich die Ärmel über die fettigen Arme, aber das half seinem Verständnis auch nicht auf die Sprünge.

      Peer guckte ihn einen Moment an. Dann entschied er, auch dem Inhaber seiner Würstchenbude nichts zu erzählen. Dafür liquidiert zu werden, diesem Statisten in seinem Leben etwas Wichtiges zu erzählen, war nun wirklich absurd! „War nur so ein Gedanke“, sagte Peer deshalb.

      „Was?“

      „Ach, nichts. Ist egal.“

      „Genetik?“, wunderte sich der Wurstbudenmann und öffnete seine Augen so weit es ihm möglich war. Das rechte Auge wurde dabei weiter als das Linke. „Mit Kindern? Mit Kindern macht man Geld? Die kosten doch nur Geld!“ Er lachte laut und dreckig. „Sie sind ja einer: glauben Sie wirklich, dass Kinder unser Kapital wären? Die fressen doch Geld. Wollen dieses und jenes! Zum Glück habe ich keine!“

      Das war auch Peers Gedanke und er verabschiedete sich. Bis dahin war ihm der Würstchenmann immer sympathisch gewesen. Aber wahrscheinlich lag das daran, dass es gerade eben die erste Unterhaltung der beiden gewesen war.

      Im nächstbesten Laden kaufte sich Peer ein paar bessere Klamotten, unter anderem ein Sakko für seinen Aufenthalt bei GAS. Er hatte zwar keine Vorstellung von der Etikette dort, und Melv und Ruben waren schließlich nur ordentlich gekleidet gewesen, aber ein Unternehmen, das mal eben zwölf Millionen Euro für seinen Körper aufwenden wollte, konnte so schäbig nicht sein. Und die Verkäuferin war auch sehr freundlich zu ihm; sie reichte ihm einen Zahnstocher, den er dankend annahm. Er versah sie deshalb mit einem Fünfer an Trinkgeld. Erst war sie ein wenig brüskiert, aber als er dann nicht nach ihrer Nummer fragte, akzeptierte sie den kleinen Obolus.

      Er kaufte in ein paar anderen Geschäften allerlei Kleinkram auf, den er sonst auch kaufte: Socken, Rasierklingen und Deodorant zum Beispiel. Nach einiger Suche trieb er zudem einen Katalog für Wintergärten und andere Glasbauten auf. Anschließend hob er zweitausend Euro von seinem Konto ab und überlegte, was er mit dem Geld anfangen wollte. Darum faltete er einen Flieger aus einem Zwanziger, wartete auf einen Windstoß und ließ das Ding fliegen, segeln, abstürzen und circa vier Meter weiter, mitten auf der Straße, landete der arme Geldschein auf dem Asphalt. Ein Auto näherte sich, überrollte den Flieger und ließ ihn, platter als vorher, wie ein Bonbonpapier noch einmal segeln. Dann landete das schmutzige Ding