Giulia Birnbaum

Drei zornige alte Männer


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und für jeden. Er war jetzt deutlich über siebzig und schon eine Weile aus dem Geschäft. Sein Ruhestand war „wohlverdient,“ und das war mehr als die Floskel der Versicherungsvertreter. Er hatte in seiner Werbeagentur – Zodiac / Ideen für Märkte – erfolgreiche Kampagnen entwickelt und schöne Umsätze erzielt. Georg arbeitete mit Zodiac hin und wieder zusammen; auch Anne hatte geholfen. Sie verloren sich dann aus den Augen, aber die alten Tage waren beiden noch gegenwärtig, als er am Friedhofausgang an ihre Seite trat und leise sagte: „Wenn ich etwas für Sie tun kann …“

      Das konnte er jetzt.

      Ja, Sonntagvormittag passte ihm. Ein Büro hatte er schon lange nicht mehr, sie kam zu ihm ins Haus, nahm gerne einen Kaffee.

      „Schrecklich,“ meinte Korff und sah sie betrübt an. „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll – mein Gott, wer hätte denn mit so etwas gerech­net? Eigentlich war er doch immer gesund?“

      Tatsächlich war ihr der Verdacht gekommen, Georg könne eine ernste Krankheit verheimlicht haben. Aber sein Hausarzt hatte die Daten des Patienten Hoyer – den er allerdings selten gesehen hatte – nochmals überprüft und den Kopf geschüttelt. Da war nichts.

      „Wir dachten immer, guten Leuten kann nichts Schlimmes passieren. Aber irgendetwas muss ihn stark getroffen haben. Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Er war ziemlich geknickt, als er von Bernkopf zurückkam. Er wollte es sich nicht anmerken lassen – Sie wissen ja, wie Georg war.“ Annes Augen blickten ins Leere, als müsse sie Tränen zurückhalten.

      Korff nickte. „Wann ist er denn zu Bernkopf gegangen?“

      „Am Tag davor.“

      „Und was hat er da getan?“

      „Das hier.“ Anne zog ein weißes Heft aus ihrer Handtasche und reichte es Korff hinüber. „Das Exposé. Die Idee für eine neue Zeitschrift. Er war völlig überzeugt davon, aber die von Bernkopf haben abgelehnt.“

      Das Heft mit dem Titel Haruspex wurde durch Klebebindung zusammengehalten und enthielt etwa ein Dutzend Seiten DIN A 4. Korff blätterte es auf.

      „Haruspex. Sie wussten sicherlich Bescheid, um was es da ging?“

      „Um Blicke in die Zukunft. Das war die Idee. Georg meinte, das sei ein Konzept, das noch niemand ernsthaft verfolgt hat.“

      „Blicke in die Zukunft.“ Korff war überrascht, ein bisschen ungläubig auch.

      „Ja. Georg meinte, die Zukunft sei allemal spannender als die Gegenwart. Es gäbe so viele Hinweise, die müsse man nur zu Ende denken, dann bekäme man schon ein ziemlich genaues Bild.“

      „Das ist jedenfalls eine interessante Idee,“ meinte Korff höflich. Er blätterte das schmale Heft unentschlossen durch. „Man müsste mal durchdenken, was drinsteckt.“

      „Das hat Georg getan.“ Anne deutete auf das Heft in Korffs Hand. „Sie werden sehen, er begnügt sich nicht mit allgemeinen Trends, sondern zeigt ganz im Ernst, was auf den Leser zukommt – damit der sich schon mal vorbereiten kann.“

      Sie legte den Kopf leicht zur Seite und beobachtete ihn.

      „Verstehen Sie? Zum Beispiel im Wohnungsmarkt. Häuser an Durchgangsstraßen werden bald wieder interessanter.“

      „Warum?“ wollte Korff wissen.

      Sie freute sich über die Frage: „Weil der Verkehr leiser wird. Viel leiser, weil die Autos elektrisch fahren.“

      „Interessant,“ sagte Arnold Korff. „Interessant.“ Nach einer nachdenklichen Pause: „Es gibt bestimmt eine ganze Reihe von Leuten, die sich gern mit der Zukunft beschäftigen. Manchmal sieht man so was auch im Fernsehen. Man müsste nur aufpassen, dass man nicht in die Science Fiction abrutscht.“

      „Nein.“ Anne Hoyer war fest überzeugt. „Ich glaube nicht, dass da etwas abrutscht. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich das einmal anschauen und mir sagen, was Sie davon halten. Es kann doch nicht sein, dass Georg sich derart verrannt hat.“

      „Vielleicht hat er sich an den falschen Adressaten gewandt. Vielleicht ist eine Zeitschrift das falsche Medium. Ich fürchte, so was findet heute meistens im Internet statt; aber natürlich gibt es noch Ausnahmen. Ich werde mir das gern ansehen. Haruspex ist jedenfalls ein merkwürdiger Titel. Damit sind die alten Weissager gemeint, aus der Antike, nicht wahr?“

      Anne nickte. „Die Priester im alten Rom.“ Sie lächelte jetzt. „Georg mit seinem Latein-Abitur. Er konnte es manchmal übertreiben.“

      „Und wie geht es Ihnen jetzt?“ wollte Arnold beim Abschied wissen. „Kommen Sie zurecht? Im neuen Job, meine ich?“

      Anne meinte, der wäre schon o.k., die Kollegen im Büro seien nett, aber das freie Arbeiten gegen die tägliche Routine einzutauschen, das sei ihr schwer gefallen.

      „Ja,“ sagte Korff zögernd, „die große Freiheit.“ Er dachte an die uferlosen Arbeitszeiten, die Nächte an der Schreibmaschine, die Mittagspausen, in denen ein schneller Joghurt und ein belegtes Brötchen genügen mussten. Er erinnerte sich auch an die Telefonate mit seiner Frau, wenn es wieder später wurde.

      In der Diele war der Bratenduft aus Frau Korffs Küche zu wittern.

      „Gulasch,“ verriet Korff lächelnd. Er habe sich über Annes Besuch sehr gefreut und wolle das Exposé gern durchlesen; er würde sich melden.

      2 / Drei Helden von früher

      Nach Auflösung seiner Agentur hatte Arnold Korff seinem Leben einen Dreh gegeben, auf den seine Frau Sabine nicht vorbereitet war. Sie hatte sich die gemeinsame Zukunft anders vorgestellt, an schöne Reisen, an Wellness-Hotels und Freiluftfestivals gedacht. Jetzt hatten sie doch genügend Zeit dafür. Sabine kannte genügend Ruheständler, die wochen­lang unterwegs waren, von jedem Terminkorsett befreit.

      Die baltischen Staaten wurden jetzt gern genommen, und ein paar Tage Florenz mussten eigentlich auch für die Korffs möglich sein. Sabines Reiselust meldete sich zuverlässig, wenn sie in der Küche zugange war, wenn sie Töpfe und Pfannen aus dem Schrank geholt, Zutaten bereitgestellt und Zeit hatte. Sie konnte sich zwar ein Buch vornehmen, aber die Lektüre blieb Stückwerk: Immer wieder musste gerührt, abgeschmeckt, nachgewürzt werden. Sie hätte die lebenslang geübten Handgriffe gern wieder mal dem Koch eines österreichischen Berghotels oder einer Trattoria in Perugia überlassen.

      Aber ihr Arnold war für große Expeditionen nicht mehr zu haben; er war genug gereist. Außerdem waren die Hoteladressen, die er spaßeshalber im Internet ausprobierte, samt und sonders auf Monate ausgebucht. Das sei die eigentliche Erfindung der Ferienindustrie, nörgelte er: Das ausverkaufte Ziel. Die Untugend der Leute, ihr Hotel ein Jahr im voraus zu buchen, hätte mit Reisen nichts mehr zu tun, es sei eher eine Art Umbettung im Abonnement. Ob Sabine sich nicht an den schlimmen Juli am Gardasee erinnere. Sie waren vor Jahren auf gut Glück hin­gereist und mussten meilenweit ins Hinterland fahren, um überhaupt noch ein Bett zu finden.

      Arnold fand aus seiner eigenen Postleitzahl nicht mehr heraus; da war nichts zu machen. Sabine bekam ihn nur zu Ausflügen vor die Tür, deren Ziele in ein oder anderthalb Stunden zu erreichen waren, eigentlich waren es nur längere Spaziergänge. Die Parks gehörten dazu, die Uferwege am Rhein und auch die Friedhöfe, auf denen sie jetzt immer mehr alte Bekannte entdeckten. Man sei an der frischen Luft und hätte obendrein was zu lesen, sagte Arnold, das sei doch schön.

      Er blieb gern bei ihr im Haus. Er mochte das Haus; sie hatten es in dreißig Jahren kaum verändert. In der Diele hing nach wie vor das Poster vom Italian Film Festival und erinnerte an einen Museumsshop in Paris. Die Lampen über dem Küchentisch – an dem sie bequem acht Gäste bewirten konnten – waren ein Glücksgriff aus den Achtzigern; immer noch tauchten sie alles, was auf die blank gescheuerten Bretter kam, in ihr warmes Licht.

      Abends setzten sie sich mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse, ließen die Sonne untergehen und sprachen sich aus. Sogar Arnold konnte dann besinnlich werden: „Weißt