Giulia Birnbaum

Drei zornige alte Männer


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weitergereicht. In Ungarn hätte er sein Implantat bestimmt für ein Drittel bekommen. Vor Jahren, in ihren Ferien am Neusiedler See, hatten die Korffs einen Abstecher hinüber ins grenznahe Sopron gemacht und dort an jeder dritten Haustür das Schild einer Zahnarztpraxis bemerkt. Auf Transparenten über der Hauptstraße warb die Implantat-Industrie um Westpatienten („Shuttle-Service zum Flughafen Wien“). Ob auf deren Zähne aber auf Dauer Verlass gewesen wäre?

      Er wollte nicht ungerecht sein: Was er dem Arzt überweisen musste, konnte er früher an einem Tag verdienen. Allerdings war damals damals und heute war heute. Heute musste er seine Reserven angreifen. Es kam nichts mehr rein außer der verabredeten Rente. Unverhoffte Ausschüttungen gab es nicht mehr, und sein schönster Cashmere-Pullover wurde am Ellenbogen schon fadenscheinig.

      Arnold hatte sich Zeit seines Arbeitslebens von dem Gedanken des give and take umnachten lassen: Man konnte nicht immer nur nehmen, man musste dem Markt auch etwas zurückgeben. Er ging ins Fachgeschäft statt in den Fabrikverkauf. Er handelte nicht gern, zahlte selbstverständlich den Preis, der auf dem Etikett stand. Wenn er ehrlich zu sich selbst war: Er hielt sich etwas zugute auf die Summen, die er ausgeben konnte, statt auf das Geld, das er festhielt.

      Die Quittung hatte er jetzt. Die „Vollkrone aus Edelmetall, nach Stufenpräparation“ kostet allein im Materialwert 353.53 € netto, das war in dieser Höhe nicht vorgesehen. Ein zusätzlicher Betrag, der an seinem Konto nagte. Es kam eins zum anderen, adios le peso.

      Drei gleißende Scheinwerfer über ihm.

      „Es rumpelt jetzt ein bisschen,“ sagte der doppelte Doktor.

      Es dauerte nicht lange, bis er Arnold zu einer neuen Röntgenaufnahme in den Nebenraum schickte. Das Ergebnis schien dem Arzt zu gefallen; Arnold hörte, wie er zufrieden brummte. Er wurde mit einem Kühlkissen entlassen, das er zuhause an die Backe presste. Sabine kochte ihm abends eine sämige Tomatensuppe.

      4 / Die Gemse

      Am nächsten Nachmittag wollte Arnold fortsetzen, was er unter der anflutenden Betäubung nicht zu Ende gedacht hatte. Er nahm sich das Exposé des Georg Hoyer nochmals vor – nicht, weil er der Sache eine Chance gegeben hätte, sondern weil er der jungen Witwe eine Antwort schuldig war.

      Er begriff, worauf ihr Mann seine Hoffnungen gesetzt hatte. Bestimmt ging es ihm nicht nur um ein einmaliges Honorar für seine Idee. Statt dessen hatte er gehofft, mit der Werbekampagne für Haruspex beauftragt zu werden – dann wären in der Tat beträchtliche Summen an sein Studio geflossen.

      Arnold kannte einen Gebäudereiniger, der behauptete, er müsse sich die Häuser, die er putzen wolle, mittlerweile selbst bauen. Ebenso hatte Hoyer das Produkt, für das er werben wollte, selbst erfunden. Das war clever, hatte aber einen Haken: Wenn das Produkt den Verlag nicht überzeugt, sind alle weiteren Überlegungen hinfällig.

      Er würde Anne Hoyer enttäuschen müssen. Über die Zukunft konnte man schließlich jeden Tag etwas in der Zeitung lesen. Über wirtschaftliche Sorgen und medizinische Hoffnungen. Über die Weltbevölkerung von morgen und die Mars-Mission von übermorgen. Auch über den Wolf und wann er durch die menschenleeren Städte schnüren würde. Solche Sachen.

      Ein Buch, das wäre möglich gewesen, es gab wohl auch schon ein paar von dieser Art. Aber eine genießbare Zeit­schrift ausschließlich mit solchem Stoff zu füllen, das war nicht vorstellbar. Nach der zweiten oder dritten Nummer musste die Zukunft den Lesern zu den Ohren herauskommen.

      Er wunderte sich nicht, dass der Bernkopf-Verlag die Idee abgelehnt hatte. Es ging einfach nicht. Ob Hoyer tatsächlich einen Sprung in der Schüssel hatte – so, wie er abgetreten war? Dass ein Vorschlag abgelehnt wird, kommt alle Tage vor, das ist kein Grund, sich umzubringen.

      Er rief Anne Hoyer an, zuhause, abends nach Büroschluss. Er bedauerte. Er begründete.

      „Also keine Chance?“ fragte sie. „Kein anderer Verlag, der infrage käme? Keine andere Möglichkeit für das Material?“

      „Ich fürchte nein.“

      „Schade. Merkwürdig ist es trotzdem. Georg war ja nicht naiv.“ Ihre Stimme klang belegt. „Er war völlig überzeugt davon.“

      „Was kann ich dazu noch sagen – so geht’s in der Welt. Soll ich Ihnen das Exposé zurückschicken?“

      „Nein, nicht nötig,“ sagte Anne Hoyer. „Jetzt nicht mehr.“

      „Wenn ich sonst etwas für Sie tun kann,“ sagte Arnold – ein schwacher Versuch, ihre Enttäuschung ein bisschen abzufedern.

      Was hätte er tun können? Seine Kontakte in die Werbeszene waren ausgetrocknet. In den ersten drei, vier Jahren hatten sich noch ein paar Veteranen gefunden, die beim einstigen Lieblings-Italie­ner die frühen Pasta-Zeiten nachschmeckten. Wie das eingeschlagen hatte im Land der sieben Hühnchen, dass Nudeln grün sein konnten!

      Sie alle erinnerten sich an das Hochgefühl, nach einer erfolgreichen Präsentation in den guten alten Intercity zu klettern und einen Bocksbeutel ins Abteil kommen zu lassen. Sie erinnerten sich aber auch an Abende, an denen sie unverrichteter Dinge auf Provinzbahnsteigen herumstanden und keinen Schutz vor dem Eisregen fanden, während der Anschlusszug auf sich warten ließ. Immer noch ließen sie sich nach dem Grappa eine Quittung geben, aber nur aus alter Gewohnheit; absetzen konnten sie nichts mehr. Vielleicht waren ihre Zusammenkünfte auch deshalb allmählich seltener geworden.

      Über das Werben und Verkaufen konnte Arnold nur noch mit Benno reden. Der hatte seine ersten Kunden noch im VW-Käfer besucht, auf der Rückbank die Musterkoffer, die ihm beim Bremsen ins Kreuz schlugen. Mit den Jahren hatte er sein Sortiment erweitert und von Reprokameras bis Melkmaschinen alles verkauft, was ohne give and take nicht zu verkaufen ist. Auch er hatte Kunden jeder Sorte gegenüber gesessen. Den alten Troupiers, die wussten, wovon sie sprachen. Den Bequemen, die sich gern führen ließen. Aber auch den Neunmalklugen, die alles besser wussten und „dann eben den Scheiß kriegten, den sie haben wollten.“

      Benno war vorbei gekommen, um sich Arnolds neue Zähne anzusehen („ist doch erst das Provisorium,“ sagte Arnold); er brachte Sabine eine Melone und ein ehrliches Kompliment mit: „Was für ein hübsches Kleid. Ist das Baumwolle? Steht dir wirklich gut.“ In Artigkeiten war er geübt – er zielte sie aufs Detail und fuhr gut damit.

      Die beiden Freunde waren hinters Haus gegangen, saßen auf der sonnenwarmen Terrasse, schauten abwechselnd in ihren Rotwein und auf den Rasen, der jetzt nicht mehr viel Pflege brauchte. Sie hatten den Herbstanfang hinter sich, umso mehr genossen sie die Wärme, die der späte Nachmittag ihnen noch einmal spendete.

      „Es ist vorbei.“ Benno kam auf seine Kundentypen zurück. „Was regen wir uns auf. Einem Arsch muss man beizeiten die Meinung sagen; rückwirkend nützt es nichts mehr. Die Frage ist, wer von den heutigen Weltmeistern als Arsch in die Geschichte eingehen wird. Anwärter gibt es genug. Ärsche im Rückspiegel – das wäre mal eine Rubrik für dieses Zukunfts­magazin.“

      Arnold lachte böse. „Hoffentlich gehören wir nicht dazu.“

      „Sie werden mit keinem von uns gnädig umgehen,“ sagte Benno düster. „Was meinst du denn? Die Jungen liegen auf der Lauer, die wollen auch noch ein paar Krümel vom Kuchen haben. Da kannst du froh sein, wenn du in Ruhe deine Rente verzehren darfst.“

      Zwischen seinen Augenbrauen zeigte sich eine senkrechte Falte.

      „Ich habe vor kurzem einen Tierfilm gesehen, aus den Alpen, oben im Schnee, in den Felsen. Da hat eine junge Gemse ihre Mutter aus dem windgeschützten Winkel vertrieben, hinter dem man den Winter am besten überlebt.“

      Er verkniff das Gesicht, als fege ihm selbst gerade ein Schneesturm um die Ohren.

      „Da ziehst du dich besser warm an, Junge.“ Er blickte auf. „Hallo Sabine.“

      Sabine war herausgekommen, um ihnen Gesellschaft zu leisten. „Das reine Rentnerglück,“ sagte sie, als sie die beiden betrachtete, halbgehangen in ihren Sesseln. „Na, was bekaspert