Giulia Birnbaum

Drei zornige alte Männer


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sie Benno.

      Benno tippte mit der Gabel auf seinen Teller: „Wenn sich zwei so gut verstehen, soll man sie allein lassen.“

      „Keinen Sirup?“

      „Das hat er gemeint,“ sagte Arnold.

      Diese Werbefuzzis meinten, was sie sagten, aber sie sagten es anders, als sie es meinten. Für Sabines Geschmack redeten sie zu eigenwillig, zu sprunghaft. Sie kam mit diesen Sprüngen nicht gut zurecht. Jeder Elektriker, jeder Anstreicher sprach vernünftiger. Sie hörte gern die tiefen Stimmen der Handwerker auf den Baustellen der Nachbarschaft; sie hatten mit Dingen zu tun, die man anfassen konnte. Von dem Unsinn, den die drei Helden draußen auf ihren Wanderun­gen bereden mochten, war sie weit entfernt. Sie hielt sich zurück. Das Terrain war ihr fremd, man konnte leicht ausrutschen.

      „Arnie, du bist verspielt,“ sagte sie, wenn er wieder einmal einen alltäglichen Vorgang in einen verqueren Sinnzusammenhang stellte. Arnie gab das gern zu, empfahl ihr aber, die Spielerei ernst zu nehmen. Manchmal käme etwas Überraschendes dabei heraus – etwas, an das bisher niemand gedacht hätte. Auch im Absurden gäbe es eine Logik, man müsse die Dinge nur zu Ende denken. Sie hätte sich ja als Kind, wenn sie das Märchen vom Däumling hörte, auch nicht darüber gewundert, dass der kleine Kerl aus einem Fingerhut trinkt.

      „Wahrscheinlich nicht,“ gab Sabine zu, aber bestimmt hätte sie darüber gelacht.

      Alles eine Frage des Blickwinkels. Mit Arnold im Eisstadion war es gleichgültig, was unten auf dem Eis passierte; interessant waren die Sprechchöre ringsum auf den Rängen – „Choräle des Volkes.“ Mit Arnold war ein Picknick auf den Rheinwiesen nicht einfach ein Picknick auf den Rheinwiesen – es war „der Besuch der kaiserlichen Familie im Staatsbad.“

      „Du kannst einen unglaublichen Stuss reden, Arnie,“ sagte Sabine.

      „Die Vielfalt,“ wiederholte er, „hat sich im Kopf abzuspielen.“

      Es war eine Berufskrankheit. Arnold und Konsorten waren durch die Themen gehüpft, wie die Märkte es brauchten. Eigentlich – hatte Arnold selbst gesagt – waren sie Marktschreier; sie boten ihre Dienste jedem an, der seine Ware an den Mann bringen musste. Das blieb für den Korffschen Haushalt nicht ohne Folgen. Der Marktschreier muss sich in die Dinge, die er verhökert, einfühlen, deshalb waren unablässig Neuheiten ins Haus gekommen: Das Haarwasser mit Rosskastanien-Extrakt stand auf Arnolds Seite des Badezimmerspiegels, die neue Kuchenmischung musste Sabine ausprobieren. Arnolds Loyalität blieb nicht auf die eigenen Kunden begrenzt: Ein Auto wurde bei AVIS gemietet und nicht sonst wo. Denn deren Slogan von der „Nummer zwei, die sich mehr anstrengt,“ war ein Geniestreich der Madison Avenue, der musste belohnt werden.

      Sie kannten alles und verstanden von allem die Hälfte. Auch das räumte Arnold ein, er meinte aber, Sabine solle den Blick quer durch die Märkte nicht geringschätzen. Wenn sie nur mal einen Internisten als Beispiel nähme: So einer dringe tief in sein Sachgebiet ein und sei in seinem Spezialwissen gewiss unschlagbar, aber bei seiner Verabschiedung würde dann „sein Leben für den Blinddarm“ gewürdigt. Und das könne es ja auch nicht sein, bei diesem engen Blickfeld käme die Phantasie zu kurz.

      „Habe ich nicht recht, Sabine?“

      Natürlich hatte er recht. Sabine war einmal auf einer Pharma-Party neben einen alten Arzt platziert worden, der ihr während der Vorspeise von seinen Versuchen mit Katzen erzählte („immer darauf geachtet, dass sie nicht leiden“). Es war ihr nicht gelungen, das Thema zu wechseln – nein, wirklich, da waren die Werbeleute unterhaltsamer.

      Andererseits, das mit der Phantasie – sie wusste nicht recht. Früher, als die Korffs noch öfter mit Arnolds Kollegen ausgingen, unterschieden sich Sabines Eindrücke erheblich von den Erinnerungen, die Arnold und die anderen Spinner dem Abend überstülpten. Witze vom Fach verstand sie ohnehin nicht; sie lachte mit, aber nur aus zweiter Hand. War sie denn in diesem angesagten Altstadtlokal mit den Essensresten an der Wand tatsächlich der Avantgarde begegnet? Sie hatte doch nur ein Stück von einer toten Kuh gegessen, auch wenn es als „Bärensteak“ serviert und gefeiert wurde.

      Eigentlich wurde die ganze Stadt überhöht. Das flimmernde Bild aus Mode, Werbung, Shopping- und Gourmetadressen hatte keine Berührungsflächen mehr mit den Tagen der Sabine Korff. In ihrer Nachbarschaft wohnte kein Künstler und kein Topmodel, statt dessen rechterhand ein Bauingenieur und seine Frau – Doppelverdiener, die froh waren, wenn sie abends die Füße hochlegen konnten. Links die junge Familie eines Mannes, der bei der Krankenkasse arbeitete. „Das muss ja auch einer machen,“ hatte er zu Sabine gesagt, als müsse er sich rechtfertigen, dass er nichts Brillanteres vorweisen konnte. Er kannte Sabine schlecht. Sie wusste, wie dringend man die Platzwarte braucht, damit die Happy Few spielen können.

      Sie musste nur um wenige Straßen­ecken gehen, um sich in einer beliebigen Industriestadt wiederzufinden: Mehrstöckige Wohnblocks, nach dem Krieg schnell hochgezogen, mit vierundzwanzig Klingelschildern an der Haustür und einer Autoverwertung hinter der Toreinfahrt. Dazwischen Getränkemärkte, Matratzenlager, ein alter Luftschutzbunker mit großzügiger Graffiti-Ausstattung.

      Die Stadt rund um den Kö-Bogen war ihr fremd geworden. Sie hörte ein Feuerwerk aus Rich­tung Innenstadt und hatte keine Ahnung, was da los war. Das war einmal anders gewesen – früher, als sie noch dazu gehörte, als es in den Kinos noch kein Popcorn gab, dafür aber Buchhandlungen auf der Königsallee.

      Vielleicht sah man ihre Stadt von außen mit anderen Augen. In Südfrankreich, ausgerechnet, war sie einmal freundlich gefragt worden: „Sie kommen vom Rhein?“ Sabine hatte den Beifall in der Frage gehört: Sie wohnte in einem friedlichen Landstrich, der von geselligen Menschen bevölkert wurde. Sie konnte ja auch nicht klagen. Es war schön, in diesem Haus im Amselgrund zu leben, an einer einladenden Adresse. Warum hatte Benno eigentlich seine neue Gefährtin nicht schon längst mitgebracht?

      „Wann kommt denn eigentlich Ilka nach Düsseldorf?“ fragte sie. „Wir sind schon ganz neugierig.“

      Die einzige Tochter der Korffs, Christina, hatte das Haus vor zehn Jahren verlassen und studierte, wenn man das so nennen wollte, Kunstgeschichte in München. Sabine telefonierte hin und wieder mit ihr, aber einen richtigen Herzensaustausch konnte man das nicht nennen.

      Ihr fehlte Gesellschaft; sie hätte gern mal wieder ein Wort mit einer guten Freundin geredet. Das Getränkeregal im Korffschen Keller hielt seit Jahr und Tag eine Flasche Kirschwasser bereit – für Sabines fabelhafte Kirschwasser-Mädels. Großer Gott, was hatten sie für unwahrscheinliche Abende gehabt! Wie damals, als sie zu viert unterwegs waren und im Taxi die Karnevalsschlager rauf- und runtersangen. Mit dem Lohengrin, der mit dem Schwan aus der Ferne kam, waren sie am Ende der Fahrt noch nicht fertig (sie wollten zu Elsa, der lieblichen Maid), deshalb drehte der Fahrer eigens noch eine Runde um den Block. Er tat es gern, so viel Respekt hatte die Kunst verdient.

      Die Truppe hatte schon lange nicht mehr den Weg zueinander gefunden. Es mochte sein, dass sie alle jetzt Dinge im Kopf hatten, die sich nicht miteinander vertrugen. Sabine hatte vor acht Jahren ihren Apothekerkittel ausgezogen, aber immer versucht, auf dem Laufenden zu bleiben, vergeblich. Eine Weile hatten sie noch miteinander telefoniert, aber nach und nach waren die Gespräche blasser geworden. Der Zunder war raus, es lohnte sich nicht mehr.

      Anfang des Jahres hatte sie ihren Taschenkalender neu eingerichtet und schon wieder zwei Geburtstage streichen müssen. Diesen Verlusten stand kein neuer Name gegenüber. Wer jetzt noch nicht in ihrem Kalender stand, wollte auch nicht mehr hineinkommen. Sabine musste sich schon auf dem Platz vor ihrer alten Apotheke aufhalten, um Neues zu hören. Am besten vormittags zwischen elf und zwölf, wenn die Rentnerinnen ihre Medikamente abholten. Wenn sie mit wässrigen Augen geprüft hatten, ob man sich vielleicht von früher kannte, kam manchmal eine Unterhaltung zustande. Etwas, das sie Arnold zuhause hätte erzählen können, kam dabei nicht heraus.

      5 / Für einen Dieb gut genug

      Arnold und Benno saßen im Korffschen Audi und warteten darauf, dass Tito Tigges herunterkam. Nach dem Winterschlaf wollten sie ihre Wanderungen wieder aufnehmen. Den Ausflug zum