Giulia Birnbaum

Drei zornige alte Männer


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      „Jedenfalls ist er merkfähig,“ beharrte Arnold. „Er hat einen Widerhaken.“ Ihm war, als müsse er ihnen das Haruspex-Konzept verkaufen, seiner Besucherin Anne zuliebe. Er blieb beim Thema:

      „Er schlägt ‚Sieben Leben von morgen’ vor. Das fängt mit Küchenrobotern an und hört mit neuen Göttern auf. Interessant ist sein Prognose-Schema. Er teilt die Zukunft ein in ‚ziemlich sicher’, ‚möglich’ und ‚un­wahr­scheinlich’.“

      „Was meint er denn mit ‚ziemlich sicher’? Dass es im nächsten Winter schneit?“

      „Mit Wettervorhersagen gibt er sich nicht ab.“ Arnold korrigierte sich: „Hat er sich nicht abgegeben. Nein, er sagt zum Beispiel die Rückkehr der Schreibmaschine voraus, weil die Leute fürchten, dass ihr Computer überwacht wird. Er meint auch, dass Trinkwasser bald so viel kostet wie Burgunder.“

      Die Vorstellung gefiel ihnen nicht, das konnte man sehen. Arnold schob nach: „Unter der Rubrik ‚möglich’ notiert er übrigens ‚Flüssigfleisch’.“

      „Ist ja widerlich.“ Benno verzog das Gesicht. Er bezweifelte, dass man genügend Stoff sammeln könne, um Monat für Monat ein interessantes Heft zu produzieren. Auch Tito schüttelte den Kopf. Arnold konnte seine Wanderfreunde nicht überzeugen; sie wollten sich mit dem Blödsinn nicht weiter abgeben.

      „Ob wir drei alten Knacker uns noch groß mit der Zukunft befassen müssen?“

      Sie einigten sich darauf, der arme Hoyer hätte da eine Schnapsidee gehabt. Ein krankes Hirn. Kein Wunder, dass er sich umgebracht hatte.

      Durch die Bäume hindurch sahen sie, wie sich im Westen der Himmel verdunkelte. Aus einem Stoppelacker am Wald­rand flatterte eine Kolonie von Tauben hoch. Die Vögel sam­melten sich über dem freiem Feld zum Schwarm, wurden mit einem Schwenk gegen das Licht unsichtbar, zeichneten sich dann plötzlich hell gegen die dunklen Wolken ab. Tito zog seine Schiebermütze tiefer in die Stirn – es wurde Zeit, zu gehen.

      Sie erhoben sich ächzend von ihrem Holzstapel und mach­ten sich auf den Rückweg. Sie beeilten sich, gerieten dennoch in einen Schauer und konnten sich gerade noch in einer Waldhütte unterstellen. Nach zwanzig Minuten ließ der Regen nach; sie kehrten zu ihrem Parkplatz zurück. Plötzlich roch es nach Fäulnis; sie traten vorsichtig auf, um auf dem nassen Laub nicht auszurutschen.

      „Was machen wir nächsten Donnerstag?“ fragte Tito Tigges vom Rücksitz. „Vielleicht mal wieder zum alten Steinbruch?“

      Ein alter Kalksteinbruch, seit Jahrzehnten der Natur überlassen, hatte es ihnen angetan. Sie konnten ihn in einer guten Stunde umrunden, das war nicht zu viel für sie. Meistens hatten sie das dicht bewaldete Areal für sich allein, mit allem Brombeer- und Weißdorngestrüpp, mit Hundsrose und mannshohem Bärenklau. Sabine hatte Arnold über heilende und giftige Pflanzen unterrichtet und ihn über die Unterschiede zwischen Bärenklau, Bärlauch und Bärwurz aufgeklärt. Er gab sein Wissen an die beiden anderen weiter, die aufmerksam zugehört hatten. Es war mal was anderes als die alten Geschichten.

      Jetzt allerdings musste der Steinbruch warten.

      „Ich weiß noch nicht,“ sagte Arnold. „Ich muss Montag erst mal zum Zahnarzt.“

      3 / My two front teeth

      Die Schulkinder, die morgens im Pulk unter dem Schlafzimmerfenster der Korffs vorbeizogen, erinnerten Arnold laut und lebhaft daran, dass er jetzt aller Tagespflichten ledig war. Der Gedanke hatte etwas Angenehmes: Er konnte sich mit einem entschlossenen Ruck noch einmal auf die andere Seite drehen. Andererseits vergaß er nicht, dass Sabine vor nicht allzu langer Zeit bemerkt hatte: „Solange morgens der Wecker klingelt, sind wir noch jung.“

      Sie hatten den Wecker abgestellt. Für Sabines Tagesablauf machte das keinen großen Unterschied, aber ihm fehlte seither der Stundenplan. Er konnte in den Tag hineindröseln. Das hatte er vorhergesehen, dennoch staunte er, wie schnell jetzt selbstverständlich wurde, was früher ein seltenes Wochenend-Vergnügen war.

      Dagegen wurde das Alltägliche bemerkenswert. Auf dem Weg zum Zahnarzt geriet ihm das ganze Gewusel in den Blick, für das er früher kein Auge gehabt hatte: Alle paar Meter wurde ein Lieferwagen entladen, Bauarbeiter stiegen aufs Gerüst, Maler strichen Fensterrahmen, und alle diese Leute waren zwei Stunden früher aufgestanden als er. Schaffendes Volk allenthalben, aber Arnold gehörte nicht mehr dazu, niemand schaute ihn an, er flog sozusagen unter dem Radar. In jeder Ecke wurden neue Gebäude hochgezogen, die er nie mehr im Leben betreten würde. Peu à peu wurde ihm die Stadt fremd.

      Es war eben so, dass die Welt sich nicht mit ihm zur Ruhe setzte. Die Welt hatte noch viel vor. Alle diese jungen Leute um ihn herum überholten ihn, während er sich in seinem Haus im Amselgrund verschanzte, auf ein Leben mit reduziertem Pulsschlag eingerichtet. Das blieb draußen nicht unbemerkt: In der Post boten ausgebildete Polinnen ihre Seniorenbetreuung an, eine Mail versprach ihm „mit 60 noch Power im Bett,“ und ein Prospekt lud ihn zu einer Kreuzfahrt ein, „an Bord eines Premiumschiffs, in stilvollem Ambiente an die unbekannten Küsten Kroatiens (Arzt an Bord).“

      Jedes dieser Angebote war sorgfältig auf die Zielperson Arnold Korff zugeschrieben, leider musste er sie ausnahmslos ablehnen.

      Es war eigentlich kein Zahnarzt, sondern ein Kiefernchirurg. Von Arnolds Schneidezähnen hatte man zwei nicht mehr retten können, und die Vorstellung, abends eine Prothese ins Kukident-Glas zu legen, schauderte ihn. Ein Implantat war fällig.

      Der Arzt war doppelter Doktor. Arnold sprach seit Jahren Doktoren nicht mehr mit ihrem Titel an. Er fand das bäurisch, zu umständlich auch, und die jüngeren Leute schienen ohnehin keinen Wert darauf zu legen. Beim Vorgespräch hatte Arnold kurz überlegt, ob er einem doppelten Doktor nicht wenigstens einen anbieten müsse, dann bemerkte er, wie locker der Ton in dieser Praxis war. Der Arzt hatte seine Frage nach dem Behandlungstermin mit einem aufgeräumten „Sie buchen, wir spielen“ beantwortet.

      Arnold stimmte sich auf den Tonfall ein, sprach sozusagen mit den Händen in den Hosentaschen. Tod und Gefahr musste man mit Verachtung strafen – anders als in den Jammergeschichten, die Sabine jetzt immer öfter mit nach Hause brachte. Er legte die Brille ab, schwenkte seinen Hintern auf die OP-Liege und ließ ein halblautes „here we go“ hören – die coole Ansage eines Kampfpiloten beim Start. Vor seinen hilflosen Augen verschwamm das Röntgenbild seines Totenschädels; leuchtend hell seine Zähne, dunkel das Nichts. Das Fenster hinter dem Röntgenschirm zeigte einen Baum, der seine Blätter verlor: Ein Memento Mori vom feinsten, im Hintergrund ergänzt vom Turm der alten Elisabeth-Kirche. Ein dünnes Glöckchen müsste jetzt noch läuten, dachte Arnold.

      Die unfassbar junge OP-Schwester im Handwerkerblau bot ihm einen Kopfhörer an. Daraus war ein Klopfen und Rauschen zu hören, das Rock’n Roll sein musste; er lehnte dankend ab. Der Arzt beugte sich über ihn, sagte zu Arnolds Überraschung „Entschuldigung“ und setzte ihm vier Spritzen in den Oberkiefer, dann ließ man ihn allein. Er bemühte sich, ruhig durchzuatmen.

      All I want for Christmas is my two front teeth – so was brachten sie früher im Radio. Ob die Men­schen in tausend Jah­ren bes­se­re Zäh­ne ha­ben werden, dachte er – durch natürliche Aus­le­se? Oder wird ein kräftiges Gebiss dann bedeutungslos sein? Hoyers „Flüssigfleisch“ ging ihm durch den Kopf, widerlich.

      Was war bloß mit dem Hoyer los gewesen? Schon die Art, in der er sich von seiner Frau verabschiedet hatte, zeigte, wie kaputt er gewesen sein musste. Tito hatte Recht mit seinen Eisschollen, wahrscheinlich hatte Hoyer den letzten Sprung nicht geschafft. Arnold hatte ihn früher als bescheidenen Menschen gekannt, und nach allem, was man hörte, war er das geblieben. So einer taugt nicht für Hahnenkämpfe, kann sich in Herrschaftspyramiden nicht nach oben boxen. So einer ist am besten beraten, wenn er freiberuflich vor sich hin werkelt. Allerdings muss er dann nicht nur gute Einfälle, sondern auch auskömmliche Rechnungen produzieren. Bei dem scheuen Hoyer war es eher so, dass er sich schon belohnt fühlte, wenn man ihm einen Auftrag gab; es gibt solche Leute. Wenn sie an den richtigen Pfennigfuchser geraten, ziehen sie immer den