Lukas S. Kindt

Der Westwald


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nein, nein!«, unterbrach ihn der Experte mit wild blitzenden Augen und bevor Müller nachhaken konnte, ergoss sich der Rote in einem Schwall von Erklärungen:

      »Sie wissen, ja? Die Sprache der Neperrenten ist unheimlich komplex. Es gibt hunderte von verschiedenen grammatikalischen Regeln, die sich alle für die geschriebene-, gesprochene- und sogar gelesene Sprache unterscheiden. Dazu kommen noch Hunderttausend Ausnahmen. Aber auch die Laute sind schier enorm in der Anzahl. Die deutsche Sprache besitzt beispielsweise fünf unterschiedliche Vokale. Die Neperrenten kennen hingegen 500. Die deutsche Sprache hat ungefähr 20 verschiedenen Konsonanten; von den Neperrenten wissen wir nun ungefähr 30.000 Einzelne zu unterscheiden.

      Sie können es sich also sicher vorstellen: Es hat uns unheimlich viele Jahre gekostet, überhaupt soweit zu kommen, aber nun sind wir endlich beinahe am Ziel. Wir haben nun ungefähr so Pi mal Daumen, geschätztermaßen, prozentual gesehen 5% der Sprache entschlüsselt. Und wenn wir schließlich den Rest entschlüsselt haben, dann werden wir endlich mit ihnen kommunizieren können. Unglaublich!« Müller blickte verwirrt in das begeisterte Gesicht des Experten hinter ihm. Die weit aufgerissenen Augen in den tiefen Höhlen verrieten einen schon fortgeschrittenen Wahnsinn. Der Polizist wollte trotzdem weiterbohren:

      »Aber was bringt uns das weiter? Wir wissen ja schließlich, was die Neperrenten wollen, dazu müssen wir ihre Sprache nicht kennen, sondern nur ihre Handlungen analysieren.«

      Der Experte schüttelte angestrengt den Kopf hin und her. Auf Müller wirkte er nun eher nicht wie ein Retter der Menschheit, sondern mehr wie ein beleidigtes Kind mit hochrotem Kopf.

      »Nein! Nein! Nein! Sie verstehen absolut nicht. Wie können Sie auch?- Sie sind ja immerhin Polizist und kein Experte. Sehen Sie: Sobald wir die Sprache der Neperrenten verstehen, werden wir mit ihnen verhandeln und Frieden schließen können. Wie wir ja alle wissen, waren die Neperrenten ursprünglich Engel, die zu uns geschickt worden waren, um uns von unseren Sünden zu erlösen und das endgültige Utopia zu errichten, aber... anscheinend müssen irgendwelche böse Menschen unter uns sie mit irgendwas verärgert haben. Doch wenn wir schließlich ihre Sprache verstehen, können wir diese Misere ganz einfach aufklären. Verstehen Sie doch: Die Welt wird nicht untergehen! Und schon gar nicht in drei Tagen...«

      Müller schwieg, als er sah, wie der Fanatismus im Augenweiß des Experten die restliche Vernunft auffraß und konzentrierte sich lieber wieder auf die Straße vor ihnen. Der Kollege Schulz räusperte sich ebenfalls unangenehm berührt, blieb ansonsten aber auch still. Und so fuhren sie weiter durch die aussterbende Stadt dahin, fuhren durch das Chaos des sich anbahnenden Endes, während Müller aus dem Fenster starrte und sich leise fragte, welche Engel schon jemals aus dunklen Höhlen und verschlammten Straßenlöchern herausgekrochen waren.

      Weil sie sonst nicht wussten wohin ließen sie schließlich den Experten vor dem großen Rathaus mit den vergitterten Fenstern und vielen Wachtürmen raus. Müller war sich dabei zwar nicht ganz sicher, aber er meinte, nur für den Bruchteil einer Sekunde eine Hand gesehen zu haben, die den Roten ruckartig von hinten gepackt und mit sich in den Nebel gezogen hatte, gerade als sie wieder losgefahren waren.

      »Das sind nur ihre müden Augen. Da ist überhaupt nichts«, beruhigte ihn Schulz jedoch grummelnd und deshalb ließ er das Thema wieder fallen. Vielleicht hatte der Kollege ja sogar recht. Es war immerhin schon später Abend geworden und nach einem solch langen Tag mochten sich viele Dämonen zeigen - manche existierten, andere wiederum nicht.

      Während Müller also in unzusammenhängenden Gedankenfetzen schwebte, brachte ihn Schulz heim zu seiner Familie. Der alte Kommissar selbst fuhr dabei nach einem kurzen Abschiedswort weiter zur Polizeistation, wo er, soweit Müller es wusste, auch lebte. Melancholisch sah der junge Polizist den kläglichen Lichtern des langsam im Nebel verschwindenden Autos noch eine Weile hinterher.

      Er zögerte, wusste aber nicht wieso, in das Haus hineinzugehen. Seine Frau war wahrscheinlich wieder sauer auf ihn - das war sie immer - aber das stellte, so glaubte er, nicht den Grund seines Zögerns dar. Nach ein paar Minuten schüttelte er schließlich die seltsame Steifheit jedoch ab und trat durch die niedrige Türe hinein in die schummrig beleuchtete Diele. Er roch Essen. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er eigentlich war. Leise also wie ein Tiger mit leerem Magen, der sich an seine Beute heranpirschte, öffnete er die Türe zu dem langen Flur.

      Doch seine Frau stand schon direkt vor ihm. Entgeistert starrte er sie an. Und bevor er auch nur den geringsten Ton der Überraschung rausbringenkonnte, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn innig. Heiß fuhren ihre Lippen über seinen Mund und seinen Hals, leise hauchte sie kraftlose Worte:

      »Bitte bleib hier. Geh nicht mehr weg! Die Neperrenten! Sie waren heute schon da... in aller Früh vor dem Haus. Ich wollte die Kinder wieder in die Schule schicken, so wie du´s mir auch gesagt hast, aber dann standen diese… Dinger da draußen. Unsere Kinder! I...ich hab sie gerade noch zur Tür wieder reinziehen können. Den Max hätten sie mir aber beinahe erwischt. Ich hab solche Angst, Schatz. Sie haben sogar die Nachbarin, die alte Elsa von drüben, haben sie geholt! Ich hab´s mit eigenen Augen gesehen. Sie waren auf einmal in ihrem Haus drinnen. Und... Und... dann diese Schreie! Und morgen! Morgen werden sie in unser´s kommen. Ich weiß es ganz genau! Ich...«

      »Sschhh«, beruhigte Müller seine aufgebrachte Frau und stieß sie dabei ein bisschen von sich weg, um sich Luft zu verschaffen. »Es ist ja alles gut«, versuchte er nüchtern und mutig zu klingen, »Und wenn ihr euch ruhig verhaltet, dann werden die Neperrenten ganz sicher nicht kommen. Sie kommen immer nur zu denen, die laut sind. Das weißt du doch, Schatz.« Müller wusste natürlich, dass das Quatsch war, aber irgendetwas musste er ja sagen.

      »Lügner«, schluchzte seine Frau, während ihre Tränen langsam in seine Jacke sickerten. Aber was konnte der junge Polizist denn schon tun? Es war ja nicht sein Plan gewesen, in einer Zeit aufzuwachsen, in der das Ende der Welt schon feststand. Er hätte auch Pläne gehabt: Karriere machen, seinen Kindern beim Wachsen zusehen, in Rente gehen und sich dann schließlich einen schönen Lebensabend machen; Nichts davon war mehr erreichbar. DAS PROZEDERE wollte es so.

      »Ich kann dieses elendige PROZEDERE nicht mehr hören. Sie haben gesagt, es würde alles gut werden. Sie haben gesagt, wir müssten uns vor nichts fürchten. Und jetzt? Jetzt sagen sie uns einfach, wir sollen stillhalten und auf das Ende warten? Ich scheiß auf DAS PROZEDERE! Es hat nie irgendwas gebracht. Es ist doch alles nur Betrug!« Ihre Worte trommelten ebenso wie ihre Fäuste wütend auf seiner Brust. Müllers müder Körper versteifte sich unter ihren harschen Anklagen. Es war, als würde er in ihrer heiseren Verzweiflung ertrinken. Zweifel machten sich dabei langsam in ihm breit. Vielleicht hätte er sich doch dem allen widersetzen sollen, bevor es zu spät gewesen war. Und das wütende Schluchzen und frustrierte Hämmern seiner Frau drang diese Gedanken wie einen Pflock nur noch tiefer in seine Brust, in sein Herz hinein. Er konnte nicht mehr widersprechen. Das dräuende schlechte Gewissen hatte nämlich seine sonst so kräftige Stimme verschluckt.

      Da schallte es urplötzlich und ohne Vorwarnung laut zum Fenster herein. Müller meinte schon in einem Moment blitzartigen Entsetzens, dass die Neperrenten endlich auch bei ihnen anklopfen würden, aber es war letztlich nicht die Stimme eines Abgrundlings, die da dort so schrill wie Fingernägel auf einer Tafel kratzte:

      »Das ist Hass! Ich hab´s ganz genau gehört. Die Leute VOM PROZEDERE werden das erfahren! Ich hab hier zwei Aufrührer. Gleich zwei Aufrührer hab ich auf einen Streich! Ha! Ich verstehe euch einfach nicht. Wie könnt ihr nur so undankbar sein, ihr jungen Leut? Was schindet sich denn DAS PROZEDERE für euch nicht ab?! Aber jetzt ist mein Geduldsfaden gerissen. Lange genug habe ich euch beobachtet. Jahrelang sogar! Und jetzt hab ich genug Material. Ich geh jetzt gleich zur Kommission und die werden euch abholen kommen! Das habt ihr nun davon. Aber Gesindel wie euch ist eh nicht zu helfen. Ihr wollt ja nur unseren Frieden und unsere schöne freie Gesellschaft zerstören. Ihr widert mich einfach nur an!«

      Bedrückt und mit eisigen Herzen hielten sich die Liebenden in den Armen, hörten der geifernden Anklage widerspruchslos zu. Es war die alte Nachbarin Elsa, die da draußen stand, mit abgerissenen Ohren und zerschlagenen Zähnen. Das ganze Gesicht war von großen Krallen wüst entstellt, aber ihre Augen funktionierten noch und mit denen konnte sie offenbar Lippen lesen. Müller drückte