Lukas S. Kindt

Der Westwald


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so nah an sich halten konnte, denn die Kommission war immer viel zu schnell bei ihren Abholungen. Vielleicht kamen sie ja schon in der nächsten Sekunde zur Tür herein. Wer konnte das schon wissen?

      »Es tut mir leid«, flüsterte er deshalb bange seiner zitternden Frau ins Ohr. Ihre Nägel gruben sich dabei verzweifelt in seinen Rücken und hinterließen tiefe Furchen. Kam das Ende jetzt schon? Ganze drei Tage zu früh?

      Da fing urplötzlich die alte Zausel draußen vor dem Fenster erneut zu kreischen und zu flehen an, aber es half alles nichts: der Neperrent war zurückgekommen, um seine entflohene Beute wieder einzufangen. Sie wurde nun von dreißig Händen gleichzeitig gepackt und erbarmungslos über den Boden hinweg geschleift. Ein paar Minuten lang hörten sie also noch das grausige Geschreie und Geheule der alten Frau, das Schleifen ihres Körpers wie einen nassen Sack über Beton, doch immer weiter entfernte sich die warnende Sirene, bis sie schlussendlich vollkommen irgendwo auf der Nordseite ihres Hauses verstummte. Nach weiteren zehn verstrichenen Minuten atmeten die beiden endlich erleichtert auf. Müller und seine Frau waren gerade noch einmal davongekommen. »Bleib hier!«, hauchte sie ihm sinnlos ins Ohr.

      Am nächsten Morgen stand der Kollege Schulz noch vor der Tagesanbruch in seiner Tür und fragte ihn: »Sie wissen Bescheid, Müller? Wegen dem Mord, meine ich.«

      »Klar«, antwortete ihm Müller trocken und fuhr sich mit der Hand über sein unrasiertes und müdes Gesicht.

      »Dann müssen Sie mich jetzt verhaften und verurteilen lassen. Ein Mörder kann schließlich nicht frei herumlaufen. Auch nicht kurz vor dem Ende der Welt. Die Ordnung muss aufrecht erhalten bleiben!« Müller blickte lustlos auf seinen adrett in Zeremonien-Uniform gekleideten Kollegen, der erwartungsvoll zurückstarrte. Der junge Kommissar gähnte jedoch nur:

      »Wieso haben Sie den armen Jungen überhaupt umgebracht? Sind Sie denn nicht Polizist? Und das dann auch noch drei Tage vor Weltenende. Ich hätte mir eigentlich gerne die letzten zwei Tage freigenommen, um Zeit mit meiner Familie zu verbringen, wissen Sie?« Der junge Kommissar wollte mit diesen Worten seinem Vorgesetzten somit gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, dieser stellte jedoch geschwind einen Fuß in die Türkante und bettelte ungerührt weiter:

      »Wieso stellen Sie Fragen und machen gleichzeitig die Türe zu? Wollen Sie denn überhaupt nicht die Auflösung wissen? Kommen Sie, Müller! Sie schulden mir noch was! Und außerdem verspreche ich Ihnen, dass wir nur einen Tag brauchen werden. Mehr brauchen wir wirklich nicht. Und Morgen werden sie fröhlich mit ihrer Familie vereint sein und dem Ende ruhig entgegenblicken. Aber erst muss die Ordnung wiederhergestellt werden!«

      Müller seufzte genervt, blickte sich noch einmal in dem Vorzimmer um - aber es war keine Frau da, um ihn aufzuhalten - und zog sich schließlich widerwillig an. Der mörderische Kollege musste ihn trotzdem praktisch zum Auto hinschleifen. Als sie dann endlich in dem stickigen Karren drinnen saßen, konnte dieser es gar nicht erwarten, ihm alles zu beichten:

      »Wissen Sie, wieso ich den armen Jungen in der Küche umgelegt habe? War ja schließlich mein Bekannter. Diese Wendung hätte niemand ahnen können, oder?«

      Müller antwortete nicht und konzentrierte sich lieber auf die vernebelte Straße vor ihnen.

      »Und außerdem war ich immer ein guter und zuverlässiger Kollege«, fuhr deshalb der alte Mann beinahe so begeistert wie ein kleiner Junge fort, »Äußerst pünktlich und gewissenhaft. So steht es in meinem Führungszeugnis, Müller! Da können Sie sich noch ein Vorbild an mir nehmen!« Müller musste gerade mit quietschenden Reifen und schwitzigen Händen Trümmerteile auf der Straße ausweichen. Deshalb konnte er ihm nicht antworten.

      »Ich wollte ihn eigentlich nicht töten, aber dann hab ich es doch getan.«

      Müller drehte sich nun doch überrascht zu seinen Kollegen hin, der mittlerweile nur noch mühsam seine Tränen unterdrücken konnte. »Es ist ja nur so, Sie, Müller, Sie haben doch ihre Familie mit der Sie Zeit verbringen können. Ich hab aber seit Beginn der großen Apathie ja gar nichts mehr. Können Sie sich das vorstellen? Kein Mensch begeht mehr Verbrechen. Am Anfang des Untergangs waren ja noch alle hysterisch, aggressiv, haben gestohlen und gemordet; es war eine gute Zeit für einen Polizisten, aber nun? Jetzt stehen alle nur noch lahm in der Gegend rum und warten darauf abgeholt zu werden, entweder von der Kommission oder den Neperrenten. Und für uns Polizisten? Für uns bleibt gar nichts mehr zu tun! Finden Sie das etwa fair?«

      »Aha, und deshalb musste der Junge sterben? Weil Sie sich mit Polizeiarbeit ablenken wollten?«

      Der Kollege Schulz wurde auf diese Frage hin seltsam still. Vielleicht fand er auch, dass sich seine Gedanken plötzlich dumm anhörten, wenn sie jemand anderes äußerte. Denn wer mochte seinen inneren Wesenskern schon ungeschützt in der Hand eines Fremden sehen? Er schwieg und Müller schwieg ebenso. Sie beide hatten sich nun nichts mehr zu sagen.

      Zuerst machten die Polizisten sich auf dem Weg zur Polizeistation; Als sie auf dem großen Platz davor ankamen, waren ihre Türme aber bereits halb untergegangen in einem Meer aus Sand und hell loderndem Feuer. Ohne etwas ausgerichtet zu haben, mussten die beiden also wieder umkehren.

      Danach begaben sie sich zum altehrwürdigen Justizpalast mitten in der Stadt und frohlockten, als sie sahen, dass er noch bestand hatte. Einmal durch das hohe Bogenportal geschritten, erkannten sie jedoch schließlich, nachdem sie durch Tausende und Abertausende von Zimmer gestreift waren, dass hier niemand mehr war. Nur eine einzelne Reinigungsdame fanden sie noch im 212. Stock, die ein einsames Lied auf ihren Lippen maßvoll balancierte. Respektvoll, wie die Polizisten waren, störten sie sie nicht weiter und stiegen wieder ins Auto.

      Ihr drittes Ziel war nunmehr der Reichstag in Berlin. Aber dort befand sich nur noch ein großes Loch mit Eingängen zu Hunderttausend anderen Löchern. Hier kamen sie also auch nicht weiter. »Wohin denn nun?«, fragten sich die beiden Polizisten verzweifelt. Müller fiel schließlich nur noch ein letzter Ausweg ein, wie sein Kollege doch noch zu einer Strafe kommen konnte.

      Einen ganzen Tag und einen Halben waren sie mittlerweile unterwegs gewesen, als sie wieder in der verdreckten Küche ankamen, wo noch immer unberührt die Leiche des armen Jungen lag. Der Leichenbestatter war wohl nie losgefahren. Und hier sollte aber nun Polizeihauptkommissar Johann Schulz von seinem Kollegen Ernst Müller gerichtet werden. So war es ausgemacht.

      Es ging dabei alles sehr schnell und reibungslos: Schulz kniete sich hin und blickte auf das schwarze Loch direkt vor seinen Füßen. Da drunten konnte man indessen schon das gierige Tapsen und Lechzen von gewissen Wesen hören. Wenn er starb, würde sein Körper dort hinunter fallen und für alle Ewigkeiten von undurchdringlicher Schwärze verschluckt werden – vereint mit dem Rest der Menschheit.

      Schulz lachte jedoch nur über diesen Gedanken, als ihn die Kugel endlich von hinten traf und er lachte auch noch, als sein Körper schon weit weg in der tiefen Erde sich befand. Selbst nach ein paar vergangenen Stunden drang noch ein heiseres Gekicher von unten zu seinem Kollegen herauf.

      Dieser wollte sich aber noch einmal vergewissern: Mit ungeschickten und nervösen Bewegungen huschten seine Finger über die vertappte Handytastatur:

      »Kein Anschluss unter dieser Nummer….Piep«, danach versuchte er es beim Justizpalast:

      »Kein Anschluss unter dieser Nummer...Pieeep«, hierauf bei allen seinen Arbeitskollegen in der Polizeistation:

      »Kein Anschluss unter dieser Nummer...Pieeeep«, gefolgt von seinen Eltern:

      »Kein Anschluss… Pieep… Guten Morgen, wo sind denn alle ihre Freunde hingekommen?« Müller antwortete der fremden Stimme nicht und tippte stattdessen die nächste Nummer, die letzte Nummer, die endgültige Nummer, die Nummer seiner Familie:

      »Kein Anschluss unter dieser Nummer… Pieeeeeeepppp. Kein Anschluss unter dieser Numm...«

      Mit einem gebrochenen Schrei warf Müller schließlich das Handy in den Abgrund zu seinem lachenden Kollegen hinunter und sah hinauf zum wolkenverhangenen Himmel. Ein einzelner Sonnenstrahl brach dort zaghaft durch das graue Zwielicht. Erst jetzt bemerkte Müller, dass er der letzte Mensch auf diesem Planeten war.

      1 Grenzschreiten