Lukas S. Kindt

Der Westwald


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ihm sagen, dass ich aus dieser verfluchten Stadt wegziehen werde und anderswo ein neues Leben beginnen wollte. Ein Leben ohne ihn. Ich packte meine Ausgehsachen und verließ mein verbarrikadiertes Haus.

      Es herrschte bereits Zwielicht in den abendlichen Straßen, eine dicke Nebelsuppe waberte durch die Stadt und man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Keine Menschenseele war unterwegs. Die Menschen fürchteten sich. Klammheimlich wussten sie nämlich, dass ein Ereignis bevorstand, das ihre Welt auf immer zerstören konnte. Deshalb zogen sie es also vor, in den warm beheizten Häusern zu bleiben und die Fenstervorhänge zuzuziehen. Niemand wollte schließlich den Weltuntergang mitansehen. Niemand außer ich. Frierend stapfte ich durch die einsamen, heruntergekommenen Gassen. Ich fühlte mich dort eigenartigerweise sehr wohl. Das Gefühl des Unbeobachtetseins strömte warm durch meinen Körper und ich genoss die Abwesenheit jeglichen Lebens.

      Immerhin würde schon bald auch diese Stadt vom Wahnsinn verschlungen in Trümmern liegen,10 doch in diesem einem Moment genoss ich einfach die eigenartige Magie dieses Ortes und ich bewunderte dessen verfallene Schönheit. Ja, Ich beneide auch heute noch nicht die Menschen, die die verlassene Eleganz eines solchen Ortes nicht wahrnehmen können.

      In diesem Moment spürte ich also, dass mir dieser Spaziergang sehr gut tat und wollte deshalb beinahe den Wunsch, meinen Freund zu besuchen, wieder verwerfen, da stand ich wie vom Teufel geleitet bereits direkt vor seinem Haus.

      Es war einschüchternd und überragend. Mit seinen dunkel verglasten Fenstern und dem hohen, schwarz lackierten Portaleingang lauerte es wie ein gut getarntes Raubtier in der Straße, bereit sein Opfer zu fressen. Ein unbedarfter Spaziergänger würde an diesem Haus vorbei schlendern, ohne etwas zu bemerken, doch ich wusste ganz genau, was vor sich ging, denn ich war weder Spaziergänger noch unbedarft. Dieses Haus war eine religiöse Versammlungsstätte für eine archaische Religion. Eine Religion die den Weltuntergang anbetete. Entfernt hörte ich dabei die belehrende Stimme meines alten Meisters: »Nur der Weltuntergang kann zur Entstehung einer neuen Welt führen. Einer besseren Welt! Unserer Welt!«

      Ich versuchte eingebildete Stimmen sowie ahnungsvolle Gefühle abzuschütteln und nahm all meinen Mut zusammen. Die Türklingel erklang schrill und gleich darauf konnte ich hastige Fusstapser hinter der schwarz lackierten Türe hören.

      Ich machte mich bereit, meinen alten Freund zu begrüßen, den ich schon lange nicht mehr kannte, doch was stattdessen vor die Tür trat, war unheimlich abscheulich. Es war eine merkwürdige Frau und diese widerliche Hexe starrte mich einfach so an und sagte mir gar nichts!!! Wie konnte sie nur diese Hure!! Wie konnte sie nur!? Wie konnte sie nur?! Wie konnte sie nur? Wie konnte sie nur?

      Verwirrt und bestürzt drehte ich mich hastig um und lief in die verwaisten Gassen. Verzweifelt versuchte ich, meine Tränen zurückzuhalten, doch sie kamen einfach über mich und ertränkten mein Gesicht. Wie ein kleines Kind schluchzte ich und schlussendlich brach ich völlig erschöpft auf der Straße zusammen. Meine Finger kratzten über den Asphalt und ich versuchte den Boden zu umarmen, doch es ging nicht. Er war zu weit, zu kalt, zu fest und doch hatte ich ihn gern. Ich legte meine Wange an den Boden und weinte mich in den Schlaf. Irgendwer würde schon kommen und mich erlösen,11 dachte ich. Doch was kam, war nur noch unendlich schlimmer, noch unheimlich verdorbener.

      Als ich schließlich wieder aufwachte, versuchte ich als erstes mich zu sammeln, meine Gedanken wieder zu ordnen. Ich war froh, dass mich niemand sehen konnte. Ich hoffe, ich halte das lange genug aus, um alles niederzuschreiben.

      Als ich mich wieder halbwegs normal fühlte, versuchte ich es also noch einmal an der Tür. Wieder stand die Frau vor mir, doch ich rannte dieses Mal nicht weg. Er wäre nicht da, log sie mir schamlos ins Gesicht, aber was sollte man auch von solchen Personen erwarten. Eine eigenartige Kälte befiel mich. Ein weiteres Warnzeichen. Ich musste ihn endlich sprechen! Die Zeit verläuft viel zu schnell! Sie sagte mir, er würde später wieder kommen. Dummes Stück! Wusste sie nicht, dass es kein Später mehr geben würde? Ich musste ihn sehen! Sie sagte, er würde mich besuchen, in meinem Leben. Dumme Schlampe! Wusste sie nicht, dass es kein Leben mehr geben würde? Ich musste ihn noch ein letztes Mal berühren.

      Wütend drehte ich mich um und ohne einen Blick zurückzuwerfen ging ich meinen Weg nach Hause. Die ganze darauffolgende Nacht lag ich verängstigt in einer Ecke zusammengekrümmt und starrte zum Fenster hinaus. Ich fürchtete die Grenze da draußen. Ich konnte sie pulsieren sehen wie eine Barriere aus reinem konzentriertem Licht und doch erblindete ich nicht. Sie war noch da, aber wie lange noch? Es ist immer noch die Grenze, an der ich mich befinde, doch die Grenze wird mit jedem Tag durchlässiger und unzuverlässiger.

      »Hilfe!«, wollte ich schreien, doch wer sollte meine Hilferufe erhören? Und dann kam endlich nach langer bedrängender Nacht die Morgendämmerung. Die Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster und läuteten ein neues Zeitalter ein.

      Es klopfte an der Tür. Es musste er sein. Er musste es einfach sein! Glücklich und befreit stürmte ich die Treppe hinunter. Ich wusste, er würde mir helfen. Er würde kommen und mich befreien. Er würde endlich kommen. Übereilig riss ich die Tür auf und er stand da... vor mir.

      »K..Kann ich reinkommen?« Seine Stimme erklang nur flüsternd, schwach. Besorgt blickte ich ihn an. »Natürlich, komm rein.«

      Ich musste ihm helfen, die Stufen hochzusteigen. Den ganzen Aufstieg lang zitterte er dabei wie ein alter Hundertjähriger. Von seiner einstigen Kraft und Gesundheit schien nichts mehr übrig zu sein. In der Tat, er war sehr schwach und abgemagert.

      Endlich oben angekommen setzten wir uns in meine Arbeits-Sessel. Lange Zeit blickten wir uns daraufhin einfach nur an. Wir waren wohl beide froh, dass der jeweils andere noch da war und dann nach einer Weile öffnete er endlich seinen Mund:

      »Ich hoffe, dass du weißt, dass ich dich immer geschützt habe, mit dem was ich dir antat.«

      Verwundert versuchte ich ihn zu unterbrechen. »Nein, lass mich ausreden!« Seine Stimme klang sehr trocken. »Ich habe sie gesehen...«

      Entsetzt starrte ich ihn an. Mit einem vollkommen ausgedörrtem Mund versuchte ich Worte zu bilden, doch heraus kam nur:

      »Wie?«

      »Mit deiner Hilfe«, sagte er und lächelte mich traurig an. Und trotz meines Unbehagens, gab mir sein warmes Lächeln ein gutes Gefühl. Es war seine Magie, verstand ich jetzt. Er konnte die Menschen einfach so mit einem Lächeln glücklich werden lassen, wenn er es denn nur wollte. Aber sein Geist hingegen strebte nach etwas anderem. »Wir sind beide verdammt«, hustete er. Ich blickte ihn ernst an.

      »Ja, das sind wir.« Dann schwiegen wir wieder. Es war einer dieser peinlichen Momente, in denen keiner von uns beiden so genau wusste, was er sagen sollte. Unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her, als wollte er mir doch etwas berichten, bloß wusste er noch nicht wie genau. Meine Spannung stieg ins Unermessliche. Was hatte er denn nur zu sagen? Ich wollte alles wissen! Wenn ich schon verdammt war, sollte er mir gefälligst all sein Wissen mitteilen! Oh, ich war so dumm. Ich bekam nämlich genau das, was ich mir wünschte.

      Urplötzlich hob also mein alter Freund seinen niedergeneigten Kopf, die Augen starrten fest in meine und unter seinem Blick zerbrach schließlich der letzte Rest meiner Seele:

      »Ich habe eine Nachricht für dich!« Er sprang auf, überrascht stürzte ich zurück, doch er zog mich an den Ohren weiter an ihn heran und er zwang mich alles mit anzuhören. Er hatte Geräusche mitgebracht; Geräusche aus den Strömen, Lockrufe aus dunklen Reichen. Sein kalter Mund presste sich dicht an meine gequälten, blutenden Ohren.

      »Ich wollte dich doch nur beschützen«, hauchte er mir ein und dann war ich taub.

      Entsetzt sah ich nun, wie ein seltsames Gewebe begann aus seiner Haut zu wachsen, dass ihn wie einen Sack einschnürte. Ich versuchte es wegzukratzen, doch es wuchs einfach zu schnell nach. Rapide begann es über seinen Mund und seine Nase zu wuchern und binnen kürzester Zeit war sein ganzer Körper verwachsen. Dieses… Ding spannte sich dabei letztendlich wie eine zweite porenlose Haut um ihn. Machtlos musste ich mitansehen, wie er darin verzweifelt nach Luft rang. Ich kratzte panisch an dieser abstoßenden, haarlosen Hülle, doch ich war letztlich