Lukas S. Kindt

Der Westwald


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Sie, meine Gedanken driften wieder ab, doch es ist wahr: Dieses glühende Wort, diese unheimliche Verheißung aus einer anderen Welt, die mir temporär meinen Verstand raubte, war Grenze.

      Ich könnte wohl jetzt beschreiben, wie mich dieses unheilige Wort die ganze Nacht lang hindurch gequält und gemartert hatte, wie ich schreiend in meinem Haus auf und ablief und versuchte, dieses elendige Papier irgendwie zu vernichten, jedoch will ich – ehrlich gesagt - mir diese Erinnerungen ersparen und außerdem sollte ich mit Wichtigerem fortfahren.

      Immerhin: Die Zeit, die unserer Welt noch übrig bleibt, läuft stetig ab und draußen vor dem Fenster sehe ich bereits, wie sich die eben angesprochene Grenze langsam auflöst. Aber wie hatte dieser ganze Wahnsinn überhaupt erst beginnen können?

      1 Kapitel 2: Die Grenze zur Wissenschaft

      Ich erinnere mich gerade an unser aller erstes Treffen. Ich hatte kurz zuvor mein Studium in einer Stadt fern meiner Heimat begonnen und war meiner Natur gemäß völlig überfordert in der fremden Umgebung, in der Ich auf einmal bestehen musste. Ich war immer ein sehr heimatverbundener Mensch gewesen, der sich nie viel um menschliche Beziehungen geschert hatte. Und die Ferne jagte mir - wenn ich ehrlich sein muss, so werde ich ehrlich sein - Angst ein. Manche Menschen würden mich vielleicht gefühlskalt und verschlossen nennen, aber eigentlich wollte ich immer nur meine Ruhe haben. Ich hatte nie wirklich etwas gegen Menschen.

      Aber genug von mir: Ich bin schließlich nicht die Person, um die es hier geht. Sondern er. Und mein erstes Zusammentreffen mit ihm fand in einem sehr schmalen und alten Gang kurz vor der Bibliothek der Universität statt. Er hatte sich gerade im Streit mit einer anderen Person befunden, die, wie ich später erfahren sollte, ein berühmter Wissenschaftler und Entdecker gewesen war.

      Eigentlich wollte ich nur so schnell wie möglich an den beiden vorbeiziehen, doch eine Mischung aus Unachtsamkeit und meiner ureigenen Tollpatschigkeit führte dazu, dass ich meine Unterlagen direkt neben den beiden Streithähnen fallen ließ. Der Eine starrte mich nur Unwirsch und voller Verachtung an, bevor er verschwand, doch der andere half mir wieder meine Sachen einzusammeln und wechselte sogar dabei ein paar freundliche Worte mit mir. Ich fand diesen etwas älteren Mann, dem ich nie zuvor begegnet war, auf Anhieb sympathisch. Er schien mir unterbewusst nur durch ein paar aufmunternde Worte zu verstehen zu geben, dass ich irgendwie wichtig für ihn wäre, obwohl wir uns vorher noch gar nicht gekannt hatten.

      Die ganze Sache mit ihm kommt mir ehrlich gesagt erst in der Retrospektive seltsam vor. Damals hatte ich bei ihm eigentlich nur das Gefühl, er würde mich... verstehen. Vielleicht ist das nicht viel, aber so etwas hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt vorher in meinem Leben noch nie empfunden. Vielleicht konnte er mich auch gerade deshalb so leicht um seinen Finger wickeln. Sein Charisma half zudem wohl auch, um mich meine enge Schale überwinden zu lassen, die mich bis dahin isoliert und gefangen gehalten hatte.

      Schüchtern beantwortete ich ihm also alle Fragen, die er mir lächelnd stellte. Dass diese Fragen sehr seltsamer Natur waren, fiel mir damals, wie gesagt, nicht auf. Ich war zu sehr von seiner einnehmenden Aura und seinen faszinierenden Ideen abgelenkt.

      Von mir hingegen wollte er einiges wissen, zum Beispiel: ob ich schon mal was von den Grenzlandtheorien gehört hätte, oder von McCanes jetzt berühmter ‚Abhandlung über die 5 Dimensionen des Geistes‘, die damals gerade neu erschienen war. Als ich verneinte, erzählte er mir kurzerhand von Dingen, die mir schlichtweg die Sprache verschlagen hatten. Ja, mein Erfahrungshorizont erweiterte sich durch dieses eine Gespräch sogar derartig, sodass ich die folgenden Tage unter schweren Kopfschmerzen litt.

      Das Wissen um die Antaloiden,3 die Beschaffenheit der äußeren Dimensionen und schließlich die Existenz der alles umgebenden Grenze, dies alles empfing ich von ihm und noch viel mehr. Ich wurde schnell eine gelehrige Schülerin.

      Doch das faszinierendste von all dem, was er mir erzählte, waren immer noch die Ströme selbst: eine unvorstellbare Welt jenseits der unseren, in die man hinübertreten und sogar leben konnte. Es war eine Welt, deren bizarre Schönheit sich mir in der absolut kleinsten Splittersekunde, in der ich sie gesehen hatte, für alle Ewigkeiten in die Augen brannte. Noch heute sehe ich sie ständig vor mir. Eingeprägt auf meiner Netzhaut, bin ich unfähig sie auch nur für eine Sekunde abzuschütteln. Ist das ein Teil meiner Verurteilung? Doch wie auch immer, mir ist bereits nicht mehr zu helfen, also kehre ich wieder zurück.

      Der Professor hatte mir beileibe nicht grundlos sein Wissen weitergegeben, sondern er machte mir schließlich das Angebot, eine Forschungsgruppe mit ihm zu gründen, um genau jene vorherig genannten Phänomene zu erforschen. Er glaubte dabei, dass es irgendeine Verbindung zwischen fremden Dimensionen und dem menschlichen Geist gäbe.

      Begierig darauf mehr zu erfahren, nahm ich Schwachkopf an. Zwei Monate darauf wurde ich von der Universität verwiesen.4 Man nahm mir die Verbindung zu dem Professor übel und als ich nicht, wie mir nahe gelegt wurde, alle Kontakte zu ihm abbrach, ließ man mich einfach auf der Straße stehen.

      In der Tat war der Professor keine beliebte Person in Forscherkreisen. Zu Obskur waren seine wissenschaftlichen Interessen, zu Revolutionär seine Theorien. In der Forschungsgruppe verblieben von anfangs 13 Leuten also nur noch er und ich. Wir arbeiteten dabei umso besessener an der Validierung unserer völlig abstrusen Theorien. Aus irgendeinem Grund wussten wir schlichtweg, dass wir Recht hatten.

      Das Mythen umwobene Antaloidenvolk konnte in eine andere Dimension reisen, indem es einen bestimmten psychischen Prozess durchlief. Wir nannten diesen Prozess den »Grenzbruch«. Und nur wenn dieser Prozess abgeschlossen war, konnte der Körper in diese Dimension nachfolgen. Das Problem jedoch war, dass der Geist vor dem Körper gehen musste, wie beschrieben in der «Abhandlung über die fünf Dimensionen des Geistes«.5 Ich werde wohl eine Kopie dieses Buches meinen Unterlagen und Memoiren hinzufügen. Nur so kann man auch nur ansatzweise unsere komplexe wissenschaftliche Arbeit nachvollziehen, die, wie ich hier feststellen will, weit vom bloßen Okkultismus entfernt war. Dieses Buch also war der Grundstein unserer oberflächlich irrationalen Forschungen.

      Wir arbeiteten also unermüdlich, selbst als der große Krieg langsam seine Klauen über die Landkarte Europas ausstreckte, hielten wir nicht ein in unserer Arbeit. Wir waren wie in einem Fiebertraum gefangen. Wir schliefen nicht, wir aßen nicht, Gott alleine weiß, was uns am Leben gehalten hatte.

      Und selbst als die Schlachtfelder immer näher rückten und irgendwann sogar Bomben auf uns herab fielen, gaben wir nicht auf. Viele Menschen starben, als die Landschaften und Städte unter den Hämmern des Krieges zu abnormalen Gestalten deformierten und die Hölle selbst aus den Wolken und Böden hervorzubrechen schien. Aber das bekümmerte uns nicht, wir gruben einfach weiter, suchten nach alten Artefakten eines längst zurecht vergessenen Volkes.

      So herrschte um uns herum einstmals eine besonders grausame, langwierige Schlacht6, in der wir beinahe von Bomben, Trümmern, Splittern und sogar fliegenden Gliedmaßen erschlagen worden wären.

      »Halte das Blut von der Ausgrabungsstätte fern! Oder willst du etwa, dass der Altar tatsächlich sein Opfer bekommt?!«, herrschte er mich an.

      Doch es war einfach unmöglich! Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie ich trotzdem verzweifelt versuchte, irgendwie auch nur behelfsmäßig Kanäle in den Boden zu graben, worin das ganze Blut dann ablaufen sollte, aber wie gesagt es es war zwecklos. Unermüdlich wie ein Sturzbach nach heftigem Regenschauer floss es um uns herum. Wir standen letztlich hüfttief und geschlagen in einem abstoßenden Meer aus Blut und Schlamm. Wütend starrte ich irgendwann einfach nur noch in den tobenden Himmel und regte meine Fäuste im Fieberwahn gegen Gott empor. Mir grinste aber nur die bleiche Sonne hämisch entgegen.

      Als sich jedoch der Regen aus Schlamm, Splittern und menschlichen Extremitäten etwas zu lichten begonnen hatte, konnte ich es endlich zum ersten mal mit eigenen Augen sehen: Das Sonnenportal!7 Irgendetwas hatte in mir in diesem Moment einen Schalter umgelegt, der einen unbeschreiblichen psychischen Prozess in Gang setzte.

      Erschrocken konnte ich plötzlich das Sterben um mich herum fühlen. Der Soldat, der mit zerrissener Kehle im Sterben da lag und an seinem eigenen