Lukas S. Kindt

Der Westwald


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und Kapiteluntergliederungen sind vom Editor des Textes zum besseren Verständnis hinzugefügt worden. Original-Schreibstoff: Gebundene Kladde, Din A5, normales Papier. Fundort des Textes: Unbekannt1)

      1 Kapitel 1: Die Grenze an der Grenze

      Entsetzt starrte ich den alten Professor an. Wie konnte er auch nur daran denken, mir so etwas Abscheuliches vorzuschlagen! Für einen kurzen Moment war ich sprachlos.

      »Beruhige dich doch«, sagte er mit erhobener Hand, »Ich wollte dir lediglich mitteilen, dass diese Möglichkeit besteht und denk doch bitte mal daran, was wir alles erreichen könnten!« Mein Professor versuchte mich aufrichtig zu beschwichtigen, doch ich war immer noch viel zu aufgewühlt und überrascht.»Weißt du überhaupt, was für Risiken bei diesem Versuch dabei sind? Wir könnten sterben, oder für immer im Nichts verloren gehen, oder... sogar noch Schlimmeres! Herrgott nochmal! Willst du das denn nicht verstehen?«, warf ich ihm also wütend entgegen. Sein bleiches Gesicht wirkte ausgelaugt.

      »Ich weiß, ich weiß... es hört sich gefährlich an. Und ja, mit den alten Werkzeugen wäre es das auch gewesen, aber mit der neuen Methode, die ich entwickelt habe, sind die tatsächlichen Risiken nur minimal«, belehrte er mich in seiner typischen sonoren Stimme, die schon manchen gelehrigen Schüler bei langen Vorträgen eingeschläfert hatte. »Ja, du hast Recht, Der Pfad könnte sich - rein theoretisch - hinter uns schließen, aber praktisch ist das mit meiner neuen Technologie ein Ding der Unmöglichkeit! Glaub mir doch bitte, ich kann es schaffen. Ich kann das Tor offenhalten!« Erschöpft sank der alte Mann daraufhin in seinen Sessel zurück. »Du bist doch meine allerbeste Schülerin. Wieso willst du mich nicht verstehen? Ich habe immer gedacht, du wärst begeistert, wenn ich dir die Möglichkeit geben würde, eine völlig neue Welt zu betreten! Wollten wir denn nicht immer diesem ganzen Wahnsinn hier entfliehen? Dorthin wo es all das nicht mehr gibt? Ich meine, Krankheit, Hunger, Tod, Ungerechtigkeit wohin man nur blickt... Ich denke, es ist gerechtfertigt, in einer solchen Welt nicht mehr leben zu wollen.«

      Er blickte enttäuscht; seine alten, grauen Augen, aus denen sonst immer ein zynischer Glanz heraus strahlte, verloren ihre Leuchtkraft, doch ich hatte kein Mitleid mit ihm. Sein trotz des hohen Alters erstaunlich kräftig schwarzes Haar fiel wirr über das Gesicht. Er sah aus, als hätte er sich schon seit Wochen nicht mehr gebadet.

      Angestrengt versuchte ich meinen Abscheu zu unterdrücken. Dieser Mann, den ich früher einmal über alles andere auf der Welt respektiert hatte, ja, vergöttert hatte, erschreckte mich nun auf eine Weise, die ich mir selbst nicht einmal richtig erklären konnte. Natürlich, er hatte eine verrückte Idee, die ihn vermutlich umbringen würde, doch solche Ideen hatte er eigentlich ständig. Und ich redete sie ihm genauso ständig wieder aus. Doch jetzt war etwas anders. Ich konnte dieses klebrige Gefühl einfach nicht abschütteln. Es war eine Mischung aus vagem Ärger und tiefstem Abscheu. Abscheu auf einen Mann, der mir schlicht alles in meinem Leben gegeben hatte und dem ich früher stets dafür dankbar gewesen war.

      »Minimale Risiken! Wenn du dich Reden hören könntest...«, ätzte ich verärgert. »Wir wissen nichts von dem, was hinter den Strömen wartet. Ja, es könnte eine neue Welt sein, durchaus, aber was für eine Welt?« Erregt stand ich nun auf. Der Sessel rutschte hörbar unter meinem Ärger zurück. »Der Tod ist kein minimales Risiko!«

      »Aber es ist absolut sicher!«, unterbrach er mich fast schon kindisch verbockt, doch ich ließ mich nicht so einfach abwürgen.

      »Nein, es ist nicht absolut sicher! Du.. Du denkst, du wüsstest etwas über die Ströme, weil du in irgendwelchen alten Büchern darüber gelesen hast, aber diese Bücher sind tausende von Jahren alt. Sie sind geschrieben in einer primitiven und gleichzeitig vollkommen uneindeutigen Grammatik. Die Sprache ist mit modernen Methoden nicht einwandfrei zu interpretieren. Und ich sage dir deshalb, lass dich nicht auf die Legenden von den verrückten Völkern ein. Man nennt sie nicht umsonst so!«

      Anscheinend äußerst angespannt hörte er meinen rechthaberischen Widerlegungen zu, doch sie schienen nicht wirklich in ihn einzudringen. Ich fragte mich also langsam der Verzweiflung nahe, wie ich ihn noch überreden könnte, von dieser Wahnsinnigen Idee, die Ströme zu besuchen, Abstand zu nehmen.

      Doch bevor ich mir irgendetwas überlegen konnte, sprang der Alte Mann urplötzlich wutentbrannt auf. Sein Gesicht war zornesrot. Blaue Adern traten krampfhaft aus der dünnen und blassen Haut hervor.

      »Nenn sie nicht verrückt, du dummes Balg!«

      Wie eine Dampfwalze kam er auf mich zugeschossen und packte mich an den Schultern. Sein Griff war unheimlich stark. Das grausige Gefühl als ob seine Hände meine Knochen langsam zermalmen würden, tobte durch meinen Körper. Vor Schmerz ächzend wollte ich mich also losreißen, aber sein Griff blieb eisern. Ruckartig drehte er meinen Kopf und ich musste ihm nun direkt in seine weit aufklaffenden, schwarzen Augen starren, die mir das mulmige Gefühl eingaben, ich sähe durch Sie in eine andere, dunklere Dimension als die Unsere hinein.

      »Dieses Volk... Ja, dieses Volk, die Erleuchteten... werden mir den Weg weisen, und ihr arroganten Taugenichtse von der Fakultät werdet mich nicht aufhalten. Niemand kann das! Ich habe das Recht dazu, die Ströme zu sehen! Ich...habe...das...Recht!« Sein Atem ging schwer. Die Worte wurden zischend zwischen seinen Zähnen herausgepresst und dabei blickte er mich immer noch mit diesen weit aufgerissen, schwarzen Schlünden an. Er entsetzte mich und ich konnte nichts tun. Ich stand einfach da und blickte ihn eingeschüchtert an. Was hätte ich denn nur machen sollen?

      Ja, das frage ich mich oft. Was hätte ich machen sollen? Denn ich wünschte, ich hätte damals – als ich noch die Chance dazu gehabt hatte - irgendetwas gesagt oder getan. Vielleicht hätte es ja etwas geändert. Vielleicht wären wir beide sogar noch am Leben, wenn ich nur meine lähmende Feigheit irgendwie überwinden hätte können. Doch letztlich ist es müßig über «Was wäre wenn«- Szenarien nachzudenken. Es ist geschehen, was geschehen ist und ich kann die Schrecken die jetzt passieren, oder bereits passiert sind, nicht mehr aufhalten.

      Also wie auch immer: Er begann mich in diesem Moment mit seinen Fäusten, die beinahe wie Stahlkappen auf mich niederprasselten, aus dem Haus hinaus zu prügeln. Ich konnte es nicht fassen. Das war mein Lehrer!... Mein Freund! Als ich schließlich gedemütigt und verletzt vor seiner Tür auf der Straße lag, blickte er mich noch ein letztes mal enttäuscht an, dann schlug er die Tür zu - mit einer Wucht, die ich ihm nie zugetraut hätte.

      Etwas benommen rappelte ich mich nach einiger Zeit von der Straße auf und wankte heim. Ich musste mir beim Fall irgendetwas verstaucht haben, denn ich hatte seltsame Schmerzen am ganzen Körper, sogar an Stellen wo er mich nicht einmal getroffen hatte. Dazu kam noch ein zäher Nebel, der sich nun plötzlich um meinen Verstand zu legen schien. An einzelne, düstere und verworrene Gedankengänge konnte ich mich zwar schon noch erinnern, aber alles andere verschwindet im Malstrom des Vergessens.

      Auf einmal wachte ich also Zuhause in meiner kleinen Arbeitsstube auf. Ich erinnerte mich nicht mehr daran, wie ich dorthin gekommen war, doch es müssen einige Stunden vergangen sein, in denen ich geistig umnachtet umher gewandelt bin. Die Nacht war nämlich schon weit fortgeschritten, als ich letztlich aufwachte und auf ein offenbar selbst geschriebenes Blatt Papier blickte.

      Es war nur ein einzelnes, profanes Wort, das auf dem zerknüllten Löschpapier mit kritzeligen Buchstaben prangte, doch dieses eine Wort jagte mir einen solch ungeheuren Schauer über den Rücken, dass ich entsetzt nach hinten kippte.

      Im Nachhinein betrachtet, war es sogar nicht nur ein Wort. Nein, es war stattdessen eine mit schwarzer Tinte geritzte Vision. Eine Vision von dem, was mich und die Welt erwartet. Ein alles verzehrender Wahnsinn schlug mir also in diesem Moment entgegen, versuchte mich in sich selbst zu ertränken. Panisch schnappte ich nach Luft. Das Wort auf dem kleinen Fetzen Papier war in der Schrift des verrückten Volkes geschrieben:

      »Es ward geheißen Grenze. Und die Grenze soll sich auflösen und dahinter liegen die Grenzlande. Und hinter diesen Grenzlanden liegt wiederum die Zwischenwelt. Und die Zwischenwelt durchschneidet die Welten und Dimensionen. Und die Zwischenwelt ist grausam zu uns. Doch um die Zwischenwelt zu durchschreiten muss erst die Grenze überwunden werden. Die Grenze die uns schwach und