Lukas S. Kindt

Der Westwald


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die plötzlich um den Krater herum standen und mit gepeinigten, lichtlosen Augen auf uns herab starrten. In andächtiger Todessehnsucht sprangen sie nach einigen Momenten, ohne einen Laut über die Lippen zu bringen, in das Meer des endlosen Blutes, das wir zuvor erschaffen hatten.

      Irgendetwas in mir schien aber in diesem ganzen brodelnden Chaos noch menschlich geblieben zu sein, denn ich erinnere mich, wie ich sie verzweifelt angeschrien hatte, sie sollen doch verschwinden und sich nicht das Leben nehmen. Aber ich konnte letztlich keinen von ihnen retten.

      Der Krater füllte sich also mit immer mehr Blut. Mittlerweile ist mir auch klar, dass wir in diesem Moment am Rande eines alten und unheiligen Opferaltars gestanden waren. Ein Opferaltar, den man niemals zufrieden stellen konnte. Unermüdlich soff er unser Blut und fraß menschliche Gedärme. Als er dann schließlich zur Hälfte voll gewesen war, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Nebelriesen.8 Sie packten die schreienden Menschen und warfen sie zur Sonne, wo sie verbrannten. Ich verstand den Prozess, der dahinter stand damals nicht, doch heute... weiß ich es. Ich weiß alles. Gott helfe mir. Ich werde dieses Wissen niemals teilen. Denn manche Dinge bleiben am besten vergessen.

      Nach diesem Ereignis waren wir gebrochen, von Krankheit geplagt und körperlich ausgelaugt. Doch während ich - zumindest glaubte ich das – halbwegs wieder geistig gesund wurde, steigerte er sich immer mehr in seine Besessenheit hinein.

      Als ich beinahe jeden Tag in die Kirche ging, um Buße zu tun für meine grausamen und wahnsinnigen Taten, baute er sich selber einen kleinen Opferaltar, auf dem er Nachbarskatzen und weiß Gott was noch opferte. Ich versuchte ihn davon abzubringen, zerstörte seine Sammlung von Antaloiden-Gegenständen, aber letztlich schien ihn das alles nur noch fanatischer zu machen. Ich musste damals der Polizei einiges an Geld zustecken und zum Glück war das Interesse an verschwundenen Haustieren ohnehin gering.

      Trotz seiner Sturheit versuchte ich ihm also weiterhin zu helfen, schleifte ihn in die Kirche, unternahm mit ihm Exkursionen ohne jeden inhaltlichen Bezug zu den Antaloiden. Ablenkung, dachte ich, war das was er am meisten brauchte. Ich musste einfach dafür sorgen, dass wir diese grausamen Ereignisse endlich vergessen konnten. Und nach einiger Zeit schien er tatsächlich auf dem Weg der Besserung zu sein. Ja, er blühte sogar wieder einigermaßen auf. Irgendwann konnte er sogar wieder normal, logisch stringent ohne wie besessen vor sich hin zu faseln, sprechen. In diesen Momenten war ich sehr froh.

      Immerhin war dieser Mann mein Mentor gewesen und ich war zudem der Einzige, der ihn je richtig verstehen hatte können. Man kann es sich vielleicht heute gar nicht mehr vorstellen, aber dieser Mann hätte einstmals eine glänzende Karriere vor sich gehabt. Als ich noch nicht mal lesen und schreiben konnte, verfasste er schon Abhandlungen über den menschlichen Geist und psychotische Energien. Geboren aus gutem Hause war er ein begnadetes und begütertes Wunderkind wie aus dem Bilderbuch. Aber schon frühzeitig hatte er sich für die dunklen Dinge im menschlichen Geist zu interessieren begonnen. Zwischenmenschlich war er dabei nie erfolgreich, was ihn mit mir verband. Dieser Kontrast zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und menschlicher Ablehnung verstärkte jedoch in fataler Weiße nur seine düstereren Neigungen.

      Wann er letztlich zum ersten Mal mit dem Antaloidenvolk in Kontakt gekommen war, habe ich letztlich nie aus ihm herausbekommen können. Offenbar war es auf einer Exkursion gewesen, die er noch mit seinem Vater damals unternommen hatte, im zarten Alter von 10 Jahren. Doch immer wenn ich versuchte, das Gespräch auf diese Exkursion zu bringen, verdunkelten sich seine Augen und er wurde einsilbig und verschlossen. Ich fand letztlich nur heraus, dass sein Vater wohl während dieser Exkursion plötzlich verstorben war. Die Ärzte hatten einen natürlichen Tod festgestellt und weiter drangen meine Nachforschungen aus Respekt gegenüber meinem Freund nicht.

      Wie auch immer: Oberflächlich mochte der Professor also wieder freundlicher und normaler geworden sein, aber im Inneren... im Inneren war er ein absolutes seelisches Wrack. Das wurde immer deutlicher. Er versuchte mich zwar zu täuschen, indem er vorgab, gesundet zu sein, aber immer wieder brach diese dünne Maske von geistiger Stabilität. Er war einfach ein Mann mit einer Obsession. Und plötzlich fing er irgendwann an von Dingen zu reden, die selbst ich nicht von ihm erwartet hätte.

      »Mädchen«, so begann er, »Wir sollten eine Reise unternehmen«.

      »Eine Reise wohin?«, fragte ich naiv. Und dann erwähnte er zum ersten Mal seinen unaussprechlichen Wunsch.

      »Wir reisen in die tosenden Wellen der Ströme!« Ein zynisches Lächeln grub sich in sein Gesicht und seine Augen glänzten fanatisch. Ich werde nie diesen Gesichtsausdruck vergessen, als er das unaussprechliche Aussprach. Ich lehnte es natürlich sofort vehement ab, versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er sich mit aller Sicherheit in den Dimensionen des Geistes verirren würde, lange bevor er die Ströme erreichen könnte, aber er gab nicht auf.

      In den darauffolgenden Monaten redete ich ihm die absurde Idee immer wieder aus, doch jedes Mal wenn ich meinte, endlich Fortschritte mit ihm gemacht zu haben, begann er frustrierenderweise einfach wieder von vorne. Und das Beunruhigendste war dabei für mich, dass er mich unbedingt mitnehmen wollte. Ja, er war geradezu besessen davon, diese Reise zu Zweit anzutreten. Irgendwann hatte ich schließlich genug von ihm.

      Mein Neid und meine Wut sorgten dafür, dass zwischen uns viele böse Wörter fielen. Mein Neid kam aus meiner Vergangenheit: Während er immer als Wunderkind hoch gehandelt wurde, bemuttert wurde, bewundert wurde, so musste ich in meiner ganzen Kindheit und Jugend dafür kämpfen, nicht als dumm zu gelten. Meine Ausdrucksweise konnte nicht im Ansatz mit meinen Gedankengängen mithalten.

      Meine Wut war hingegen eine mitleidende Wut. Ich fand es nämlich erbärmlich, dass er praktisch nichts aus sich gemacht hatte. Ich WOLLTE, dass er erfolgreich war! Er war ein absolutes Genie, Himmel nochmal! Wieso nutzte er diesen Geist nicht einfach für nützliche Dinge? Wieso manövrierte er sich selbst in die dunkelste und entlegenste Ecke des Lebens und wieso wollte er mich unbedingt dorthin mitziehen?

      Ich habe nie davon geträumt, viel zu erreichen. Alles was ich jemals wollte, war, dass irgendjemand sagte, ich wäre gut in dem, was ich tue. Er auf der anderen Seite hätte alles haben könne, doch lehnte er es einfach ab.

      Um umzukehren war es dabei mittlerweile für beide von uns zu spät. Mein Ruf war immerhin so ruiniert wie seiner und für die anderen waren wir ohnehin nichts mehr als verschrobene und verschwiegene Personen, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte, wenn man nach einer Karriere strebte.

      Doch ehrlicherweise muss ich trotz all dessen gestehen: Auch mein Interesse an dieser ganzen Sache war längst noch nicht erloschen. Ich steckte ebenfalls schon viel zu tief drinnen in dieser ganzen Materie und als ich schließlich bemerkte, dass ich begonnen hatte, an Demenz zu leiden, war es wohl endgültig vorbei für mich.9

      Denn mehr und mehr begann sich daraufhin meine Realität aufzulösen. Irgendwann war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich diese ganzen Gespräche mit ihm schon einmal geführt hatte, oder nicht. Meine ganze Gewissheit und mein ganzes Ich brachen Stück für Stück weg. Zudem befiel mich neben meiner Demenz eine ausgeprägte Paranoia. Ich konnte mir ja nie sicher sein, ob der Professor meine geistigen Schwächen nicht doch ausnutzte.

      Misstrauisch und aggressiv wurde ich also ihm gegenüber. Wenn ich zu seiner Tür hinausging, wusste ich ja schon nicht mehr, über was wir drinnen überhaupt gesprochen hatten. Nur vage Gefühle blieben übrig, denn die konnte man nicht vergessen. Und diese Gefühle beunruhigten mich sehr. Es waren dunkle Gefühle in mir, versteckt vor meinem bewussten Verstand. Sie weigerten sich dabei hartnäckig, von mir entschlüsselt zu werden.

      Dennoch besuchte ich ihn jeden einzelnen Tag. Warum? Weil er und ich es so wollten. Wir wollten es so, verstehen Sie? Wir hatten ja keine Ahnung.

      1 Kapitel 3: Die Grenze zum Wahnsinn

      Das ist also der Anfang und die Mitte dieser ganzen verhängnisvollen Geschichte, die mich und meinen Freund seit jenen unheilvollen Tag in der Morbruchstädter Universität untrennbar aneinandergekettet hatte. Ich will nun auch ihr tragisches Ende erzählen.

      Nachdem ich also zitternd in meiner Arbeitsstube dieses Wort »Grenze« gelesen und mich lange genug damit quält hatte, zog