Hermann Christen

Die Endzeitpropheten


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werden, weil Maschinen nicht mehr repariert werden konnten. Die Devise 'ein Mensch – ein Job' übertünchte das Problem, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das nicht mehr kaschieren ließ.

      Die Tatsache, dass sich die Fähigkeiten der Kolonie und die Abhängigkeit von der Erde in entgegengesetzte Richtungen entwickelten, war besorgniserregend.

      Selbst die Schutzkuppel zeigte Ermüdungserscheinungen. Die einst glasklare Transparenz war einer gelblichen Trübe gewichen. Sie glich einer Greisin mit Leberproblemen.

      Für ihn war klar, dass diese Entwicklung bekämpft werden musste. Seine Chancen, selbst ein Vater zu werden, standen gut. Der Rat bestand zur Hälfte aus Veteranen, welche die Narben der Erde vor Ort gesehen hatten und die wussten, dass alle Mittel erlaubt waren, eine zweite Katastrophe um jeden Preis zu verhindern.

      Doch auch der Rat der Väter war mittlerweile träge und selbstgefällig. Die Untätigkeit des Rates gefährdete die Kolonie.

      Hirsch spürte den inneren Widerspruch seiner Gedanken, denn denkende Kolonisten würden früher oder später zu Eigeninitiativen tendieren. Wie damals die Techniker.

      Er glaubte, das Heilmittel gegen den Zerfall zu kennen: Stolz! In den Kolonisten musste der Stolz geweckt werden. Worauf man stolz war, behütete und beschützte man.

      Die Kolonie musste von innen heraus erneuert werden. Die Kolonie brauchte kreative Köpfe, um die Missstände zu eliminieren und um sich weiter zu entwickeln. Noch waren seine Pläne nebulös. Außer dem Programmnamen, 'Projekt Lazarus', waren seine Ideen noch nicht ausgereift.

      Er schob die Gedanken bei Seite.

      "Du bist noch nicht im Rat", murmelte er durch die Zähne, "du hast hier eine Aufgabe, die du gewissenhaft zu erledigen hast. Was kommt, kommt, wenn es Zeit dafür ist.

      Hirsch aktivierte den Ruf für seine Mitarbeiter.

      Prähistorik

      Steve starrte grübelnd auf die Innenseite des Kabinenfensters der Metro. Er registrierte die vorbeiflitzenden Lichter der Notausgänge des Tunnels kaum. Sein Blick klebte an seinem Spiegelbild, das gedankenverloren zurück glotzte. Er setzte sich auf und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Spiegelung im Fenster. Auf der anderen Seite, um eine Sitzreihe verschoben, saß ein Mann, der mit seinem Telespeak herumfummelte. Er kannte denn Kerl nicht. Steve fuhr die Strecke mehrmals pro Woche und kannte jeden, der diese Strecke fuhr. Der Mann blicke kurz auf. Steve zuckte zusammen, als er seinen stechenden, prüfenden Blick sah.

      Das Gespräch mit Tino und die Warnung Beckers fielen ihm ein. Der Gedanke, dass ihn ein Häscher der ÜKo verfolgte, erregte ihn. Es war ein Abenteuer, wie es Jerry Cotton, sein favorisierter Buchheld, jeden Tag erlebte. Es fühlte sich auf eine sonderbare Art belebend an, beängstigend und spannend zugleich.

      'Ich hatte zulange mit Becker und Tino Kontakt', verscheuchte er den Gedanken.

      Doch beunruhigende Gedanken finden immer ein Hintertürchen, durch das sie ins Bewusstsein zurückdrängen. Mit beunruhigenden Gedanken war es wie mit Nasenpopel an den Fingern: egal was man anstellte, er klebte einfach woanders. Oder wie mit vielen der verruchten Gerüchte, die in der Kolonie hinter vorgehaltener Hand kursierten. Manchmal im Spaß geäußert, manchmal mit stirngerunzeltem Ernst zur Sprache gebracht. Gerüchte, wie das von der Metro, das Becker so nebenbei während eines Arbeitsmeetings erwähnt hatte.

      "Sie wissen doch, dass die Metrotunnels in großen Kreisen mehrfach um die Kuppeln führen."

      "Ich verstehe nicht…"

      Eben hatte Becker noch vom galoppierenden Zerfall der Kolonie gesprochen. Jetzt brabbelte er unvermittelt über die Metro.

      "Die Metro fährt zusätzliche Bögen und Kreise. Damit versuchen die Väter die Kolonie grösser erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist."

      "Professor. Was hätten sie davon?"

      Becker trat nahe an ihn heran und stach ihm seinen Zeigefinger mehrmals in die Brust. Eine Marotte, die Steve besonders hasste.

      "Ich glaube, Leute verschwinden", Becker hustete, "ich habe das Gefühl, dass in der Kolonie weniger Bewohner leben, als überall behauptet wird."

      "Liegt das nicht eher an der Einkind-Empfehlung der Väter? Eine Frau – ein Kind?"

      "Die ist aufgehoben. Schon eine ganze Weile", konterte Becker, "das kann nicht der Grund sein, warum immer weniger Leute in der Kolonie leben."

      "Trotzdem, wenn ich es mir überlege, Herr Professor, dann sind alle meine Kumpels Einzelkinder."

      "Aha! Und was schließen sie daraus?"

      "Dass es für die Frauen bequemer ist?"

      Becker schnaubte unwillig.

      "Falsch! Die Väter steuern es, damit in der Kolonie weniger Mäuler gestopft werden müssen."

      "Und warum sollten die Väter so etwas tun?"

      "Um uns zu täuschen. Um Fragen auszuweichen und nicht zugeben zu müssen, wie übel es um die Kolonie tatsächlich steht. Dass wir nicht mehr in der Lage sind, so viele Mäuler zu stopfen wie vor hundert Jahren."

      Steve grinste seinen Vorgesetzten frech an.

      "Tatsache ist, dass die Kolonie immer mehr von der Erde abhängig ist. Aber man spielt das herunter, verharmlost es, behauptet, dass es nur Ergänzungen der eigenen Produktion sind. Glauben sie mir, man täuscht uns, um nicht mit den Tatsachen herausrücken zu müssen. Zum Beispiel die, dass wir die Nahrungsmittelversorgung nicht mehr auf die Reihe kriegen. Man täuscht uns, damit wir nicht merken, dass wir wie ein Fötus am Nabel der Erde hängen."

      Becker überraschte ihn immer wieder mit phantasievollen Märchen und konnte Gegenargumente problemlos ignorieren. Er ließ keine Gelegenheit aus alles, was schief lief, den Vätern anzukreiden.

      Steve wunderte sich, dass Becker überhaupt unterrichten durfte. Was er manchmal von sich gab untergrub die Regeln der Kolonie und stellte Gesetze in Frage. Üblicherweise verstand die ÜKo in solchen Fällen keinen Spaß. Kaum eine Woche, wo im Telespeak nicht verkündet wurde, dass ein Querschläger verhaftet und zur Umerziehung eingewiesen wurde.

      Steve vermutete, dass die Väter und die ÜKo genug echte Probleme zu bewältigen hatten, um den über zwei Millionen Kolonisten und den heldenhaften Beamten, die auf der Erde ihren schweren Dienst taten, das Überleben zu sichern. Becker wurde wohl zu Recht als lächerlicher, harmloser Narr eingestuft.

      "Wenn sie mich fragen, wird die Kolonie bald aufgegeben, aber wenn es soweit ist, mein Freund, dann gehen die Probleme erst richtig los."

      "Dazu wird es nie kommen, Herr Professor."

      Becker überging den Einwand: "Schon heute könnte die Flotte nicht alle Kolonisten evakuieren – die meisten würden hier oben krepieren. Würde mich nicht wundern, wenn die Väter das mit einkalkulieren und sämtliche unangenehmen Elemente zurücklassen."

      Meistens gelang es Steve, Beckers Worte nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Beckers Geschichten waren auf eine gruselige Art ansteckend. Gerade richtig, um einer drögen Party Schwung einzuhauchen. Die Kunst dabei war, den angsteinflößenden Teil ins Groteske zu ziehen. Aber Becker und Tino, die meinten es ernst.

      Sicher, es war nicht alles perfekt. Stromausfälle, dicke Luft ab und an oder Lücken im Nahrungsangebot – damit konnte man leben. Nur die älteren Leute, zum Beispiel seine Mutter, behaupteten, dass früher alles besser gewesen sei. Vermutlich spielte den Leuten das nachlassende Gedächtnis einen Streich, denn für alle Pannen gab es logische Erklärungen: Meteoritenschwärme oder Photonenstürme, welche die Transportflotte zu Umwegen zwangen. Reparatur- und Wartungsarbeiten an der Infrastruktur. Steve sah keinen Grund, an den offiziellen Informationen zu zweifeln.

      Er zuckte zusammen, als sich der Mann erhob und zum Ausgang strebte. Er nickte ihm knapp zu und blickte anschließend stur auf die Schwenktür. Lichter an den Wänden des Tunnels signalisierten, dass die nächste Station