Hermann Christen

Die Endzeitpropheten


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Wartungskolonne sah der Mann nicht aus. Steve kannte den mürrisch-angewiderten Gesichtsausdruck der Leute, die sonst hier ausstiegen. So krampfhaft unbeteiligt wie der da vor dem Ausgang stand, musste er ein Agent sein. Aber höchstens B-Liga, ein Neuling ohne Praxis. Ein Kandidat in der Schnupperstunde.

      Steve wusste von Jerry Cotton, wie ausgefuchst echte Agenten agierten. Der Hilfsschnüffler da am Ausgang hatte keine Ahnung! Die ÜKo hatte sich verrechnet: ihr Spitzel war bereits aufgeflogen, bevor er den ersten Buchstaben in den Bericht schreiben konnte.

      Steve lehnte sich selbstgefällig zurück. Egal was der Agent noch auf Lager hatte, er war gewappnet.

      Die Bahn stoppte und der Mann stieg ohne weiteren Blick aus und eilte zum Förderband, welches ihn aus dem Blickfeld beförderte.

      Einen Augenblick lang schwankte Steve zwischen Bedauern über das entgangene Abenteuer und Erleichterung.

      "Gut, dass meine Zeit bei Becker in drei Monaten um ist", seufzte Steve halblaut.

      Becker!

      Wahrscheinlich würde er nur auf einem Stuhl sitzen und Becker dabei zusehen müssen, wie er wilde, faktenfreie Theorien auf die Projektionsfläche kritzelte. Im Unterricht hielt sich Becker an den staatlich geprüften Lehrinhalt und vermittelte gewissenhaft und langweilig die Fakten zur Geschichte der Erde von vor der Großen Säuberung.

      Die Vorlesungen waren erträglich, aber die Workshops bogen Steves Belastungsgrenze bis kurz vor den Splitterbruch durch. In den Workshops kochte Beckers Spleen hoch und er dozierte unermüdlich über Endzeitpropheten, ihre Werke und davon, dass sie die Große Säuberung vorausgesagt hatten. Die Workshops waren Steve ein Greuel und sicherlich mit ein Grund für seinen Alkoholkonsum, den Eve sorgenvoll kritisierte.

      Die letzte Station vor der Uni flitzte vorbei. Er verstand sein Spiegelbild, das ihn mürrisch entgegenblickte. Steve erinnerte sich an die Zeit, als er die Assistenzstelle antrat. Anfangs versuchte er, den brachial ungelenken Thesen seines Professors zu folgen. Schließlich bekam er Geld für seinen Job.

      In ihrem Kern waren diese Thesen weniger wissenschaftliche Arbeit als an den Haaren herbeigezerrte Ketten von realitätsentblößten Behauptungen. Beckers Monologe starteten mit wackligen Fakten, die auf einem bröckeligen Fundament basierten, anschließend ungestüm in nicht vorhandene Korrelationen gepresst und schließlich fantasievoll interpretiert wurden. Es hatte Vieles mit Tinos Verschwörungstheorien gemein.

      Oft stoppte der Professor mitten in der Arbeit, trat einige Schritte zurück, studierte die wilde Skizze an der Wand und murmelte von 'gesellschaftszersetzenden Erkenntnissen oder 'wenn dass die Väter wüssten…' und löschte die Darstellung, ohne sie vorher abgespeichert zu haben. Meist zückte er dann ein kleines Büchlein, das er stets in der Jackeninnentasche bei sich trug, machte einige Notizen, bemerkte Steve und schickte ihn nach Hause.

      Normalerweise gelangte Becker zu keinen Schlussfolgerungen, lief nervös auf und ab und fluchte über die Väter, die wichtiges Informationsmaterial über die Geschichte der Altzeit zurückhielten.

      Manchmal stand er mit leichter Panik im Blick vor seinen Aufzeichnungen und verstand nicht, was er sah. In diesen Augenblicken fühlte sich Steve eins mit seinem Arbeitgeber.

      Mit der Zeit überwand Steve seine Skrupel und konzentrierte sich auf den Unterhaltungswert von Beckers Beschuldigungsorgien. Er ergötzte sich an den mannigfaltigen Ausdrücken mit denen Becker die Väter, ihr Regime und die Schergen der ÜKo beschimpfte.

      Steve ahnte, dass Becker ein ungemein erfolgreicher Abenteuerroman-Autor gewesen wäre, wenn er vor der Großen Säuberung gelebt hätte.

      Das war vielleicht die Gemeinsamkeit, die ihn mit Becker verband: beide drifteten gerne in fantastische Welten ab.

      Trotz des Unsinns, den Becker oft von sich gab, fühlte Steve die Kraft, die in diesem zu klein geratenen Mann steckte. Ein einziges Mal wagte Steve einen kleinen Aufstand.

      "Herr Professor, ich verstehe die Komplexität ihrer Aufzeichnungen nur ansatzweise. Ich befürchte, ich kann keinen Beitrag beisteuern, der ihnen von Nutzen wäre."

      Becker brach seinen laufenden Monolog abrupt ab, nuckelte hastig an seiner Pfeife und hob seinen Finger: "Ich brauche einen Sparringspartner. Einfach jemand, der zuhört. Aber nicht so ein Automat, sondern jemand, der, theoretisch wenigstens, in der Lage ist, Widerrede zu geben. So erkenne ich eher Fehler und Irrwege, die ich gedanklich eingeschlagen haben könnte und kann korrigieren."

      Am Ende gelangte Steve zur Einsicht, dass er genau genommen zu wenig Geld dafür erhielt, um den Ausführungen des Professors vorbildlich zu folgen. Steves Rolle war eine, die jeder gemeine Psychorobo im Standby erledigte: so tun, als ob man zuhörte und nichts dabei denken.

      In der Folge reduzierte Steve seine Rolle radikal auf bloßes Dasitzen und gelegentlichem Nicken, wenn Becker rhetorische Fragen in die Luft blies oder zufällig ins seine Richtung blickte.

      Becker brauchte keinen Sparringspartner, sondern Publikum.

      Der Zug tauchte aus dem Tunnel auf. Eine kurze Strecke nur, wo die Bahn einen Krater durchquerte und der Blick zum Himmel frei war. Manchmal sah man die Erde, die wie auf schwarzen Samt gebettet im All schwebte.

      Der Anblick der Erde war der einzige Bezugspunkt zu seinem Nachdiplomstudium. Steve wunderte sich, dass dieser Studiengang überhaupt durchgeführt wurde. Der wissenschaftliche Nutzen des Institutes für Prähistorik konnte sich durchaus mit dem Angebot des Institutes für vergleichende Irrelevanz messen.

      Prähistorik war Steve egal. Es gab nur zwei Gründe, warum er dieses Studium startete. Der erste Grund war Ann, der er damals nachstellte. Als er erfuhr, dass sie zum Informationsabend bei Becker wollte, ging er auch hin und stellte ein paar kluge Fragen, um seine Angebetete auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte ihr mit Scharfsinn imponieren. Diese Taktik hatte ihm Florian aufgeschwatzt.

      Sie ignorierte ihn. Dafür wurde Becker auf ihn aufmerksam und redete nach der Informationsveranstaltung auf ihn ein. So verpasste Steve die Metro und die Möglichkeit Anns Interesse mit der anderen Taktik, unverschämt zur Schau gestellter Männlichkeit, zu gewinnen.

      "Sie sind wie geschaffen für die Prähistorik. Sie stellen die richtigen Fragen", erklärte der Professor begeistert. Sein Assistent grinste breit.

      "Was soll ich mit Prähistorik? Ich schließe in einigen Wochen mein Bautechnik-Studium ab."

      Becker lachte auf.

      "Bautechnik? Da werden Sie auf absehbare Zeit keinen Job finden. Haben sie nicht bemerkt, dass in den Kuppeln nichts Neues gebaut wird? Ein paar Reparaturen da, ein paar Anbauten hier. Meistens nur höhere Türen, weil die Kolonisten immer grösser werden. Aber nichts, wozu man einen gut ausgebildeten Bautechniker braucht", er stutzte einen Augenblick und zog eine E-Pipe aus dem Jackett, "sie erlauben doch?"

      Steve zuckte die Schultern und der Professor zog schmatzend an seiner Pfeife.

      "Auf der Erde rauchen sie echten Tabak", meinte er nebenher.

      "Sie waren auf der Erde?", fragte Steve beeindruckt.

      "Ich? Nein. Aber ich reise da mal hin. Vielleicht einige Theorien nachprüfen. Studienreise – hab ich vertraglich zugesichert."

      Steve sah über Beckers Schultern hinweg, wie der Assistent die Augen verdrehte.

      "Wo waren wir?"

      "Bautechnik", sagte der Assistent.

      "Richtig, danke. Haben sie sich schon gefragt, warum keine neuen Bautechniker gebraucht werden? Die fehlende Bautätigkeit ist ein deutliches Zeichen, dass es um die Kolonie schlecht steht. In der Baubranche brauchen sie keine neuen Leute. Die wenigen, die da beschäftigt sind, sind obrigkeitskonforme, alte Hasen die wissen, wann man den Mund zu halten hat."

      Steve war verwirrt: "Was hat das mit Prähistorik zu tun?"

      "Ah", Becker zog seine E-Pipe aus dem Mund und tippte den Stiel, an dem ein Speichelfaden hing, auf Steves Brust.

      "Richtige Frage, schon wieder! Ich behaupte, dass heute dasselbe