Oliver Schulz

Der bekiffte Boxer beim Erstrundengong


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Schlafzimmertür abzuriegeln, nachdem sie Marc mit einem neuen Legokasten auf sein Zimmer geschickt hatten. Marc gluckste vor Freude, innerer Aufregung und geheimster Anspannung, als er so leise wie es irgendeinem Indianer möglich die Schlafzimmertür aufschob, sich am Boden kriechend dem Bett näherte und atemlos dem Spiel der Erwachsenen lauschte. Allerdings klang deren Spiel heute wieder eher seltsam. Marc lag am Fußende des Bettes auf dem Boden und wagte sich kaum zu rühren. Befremdlich keuchten Gaby und sein Vater um die Wette und das klang gar nicht mehr wie ein Spiel. Waren sie krank oder verletzt? Marc sorgte sich mit einem Mal sehr, fühlte sich unbehaglich und bereitete dieser eigenartigen Situation ein Ende, indem er aufsprang und lauthals „Kuckuck“ rief. Gaby kreischte, der Papa stöhnte „Scheiße“ und keiner der beiden schien übertrieben erfreut, Marc hier zu sehen. Allerdings boten die beiden auch einen komischen Anblick, wie sie da so nackt miteinander tobten. Marc spürte, dass er bei diesem Spiel unerwünscht sei, er verstand die Regeln nicht, kehrte verwirrt in sein Zimmer zurück und wunderte sich sehr. Später kamen der Vater und Gaby zu ihm ins Zimmer, taten so, als wäre nichts geschehen und versuchten sich ungezwungen zu geben. Marc aber spürte, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Warum erklärten sie ihm ihr Spiel nicht und versuchten stattdessen ihn auszuschließen? Die Welt der Erwachsenen zeigte sich zugemauert und verschlossen. Verwunderlich war es, was hinter dieser Mauer passierte. Marc begann die Mauer abzuklopfen und durch endlos viele Fragen kleine Schlupf- und Gucklöcher in die andere Welt zu bekommen, doch sein Vater konnte oder wollte ihm nicht mehr erklären und viele Dinge auf der Seite der Erwachsenenwelt blieben rätselhaft.

      Das beschauliche Leben von Gerd Bronsig und Gabys Besuche endeten mit dem Tod des Großvaters der Familie Bott. Marcs Oma zog trotz erheblichen Widerstandes des Vaters in das Esszimmer, übernahm das Kommando im Haushalt und brachte so die vertraute Hierarchie der kleinen Familie durcheinander.

      Statt Kino hatte Marc sich nun der intensiven Erledigung seiner Schulaufgaben zu widmen und Gerd Bronsig keine ruhige Minute auf dem Sofa mehr. Marc schlüpfte dank Omas Drill auf das Gymnasium, aber die Moral seines Vaters war gekippt, im Alter von vierzig Jahren sein Leben aus den Fugen geraten. Gerd Bronsig flüchtete vor dem Terror seiner Schwiegermutter in die geregelte Arbeit.

      Asbest war der Baustoff der siebziger und frühen achtziger Jahre. Billig, praktisch und gut dämmte er einen Großteil der Wohn- und Bürohäuser und die leisen Stimmen der Experten, die vor einer Krebsgefährdung im Zusammenhang mit Asbest warnten, verhallten ungehört. Marcs Vater und die verschiedensten ausländischen Kollegen schnitten die tödlichen Platten zu und dabei störte der Mundschutz ungemein.

      Man könne nicht arbeiten mit Mundschutz, das Atmen fiele schwer, behaupteten sie und so schnitten die Männer mit tiefen schnaufenden Atemzügen die Platten und inhalierten die kleinen giftigen Partikel, die sich in der Lunge festsetzten und zu bösartigen Krebsgeschwüren zu wuchern begannen. Als das Gefährdungspotential erkannt und die Arbeitsschutzbestimmungen strenger wurden, war es für Gerd Bronsig und ein paar andere bereits zu spät. Die Arbeit in der Fabrik hatte ihm nacheinander Spaß, Lebensmut, Lunge und Gesundheit geraubt.

      Zuerst war da nur sein beständiger Husten und die Nörgelei der Oma gewesen, er werde sich an harte Arbeit schon noch gewöhnen. Dann kam das Fieber und das Tempo seines Verfalls wuchs rapide. Kurz vor seiner Einweisung ins Spital rief er Marc alleine in sein Zimmer. Gerd Bronsig schwitzte und fiebrig rot glänzte seine Stirn. Er fasste Marc am Arm, zog ihn zu sich ans Bett und flüsterte:

      „ Weißt du Marc, was ich nie begriffen habe: Warum bleiben Menschen vor einer roten Fußgängerampel stehen, wenn nirgendwo ein Auto kommt. Ich verstehe das nicht. Der liebe Gott hat uns doch einen eigenen Verstand mitgegeben. Also warum gehen wir nicht, wenn die Fahrbahn frei ist?“

      Marc schüttelte den Kopf und verstand nicht, worauf sein Vater hinauswollte.

      „Den einzigen Rat, den ich dir für dein Leben mitgeben kann: Benutze deinen eigenen Verstand und vertraue auf deine Vernunft. Das reicht völlig aus,“ wisperte er mir ins Ohr. „Auch wenn du dir Feinde machst und die anderen wütend und neidisch werden: Geh bei rot, wenn keiner kommt. Aber lass dich dabei vor allem nicht erwischen, denn die, die warten, fühlen sich immer gestört!“

      Gerd Bronsig verstummte und streichelte Marc mit zittriger Hand über die Wange.

      „Vergiss nie...Engel beschützen Menschen wie uns. Uns kann nichts passieren.“

      Marc nickte wortlos. Der Vater lächelte ein weiteres Mal.

      „Weißt du Marc, das Leben ist kein Kindergeburtstag, aber ich habe immer versucht, es zu meiner Geburtstagsparty zu machen. Das ist alles, was ich im Leben versucht habe.“

      Mit diesen Worten entließ Gerd Bronsig seinen Sohn ins Leben. Marc sah ihn nie wieder. Tage später verstarb der Vater im Krankenhaus still. Marc war dreizehn Jahre alt und kannte von da an keine roten Ampeln mehr.

      2

      Gerd Bronsigs Vermächtnis waren Schulden. Die Familie Bott schlug das Erbe aus und Marc blieb nichts Handgreiflicheres von seinem Vater als die Bekleidungstruhe mit seinen Mänteln und Jacken.

      Seit des Vaters Tod wirkte Marcs Mutter ausgeglichener. Die finanzielle Situation der Familie hatte sich durch sein frühes Dahinscheiden gebessert und Charlotte Bott erschien das Leben überschaubarer ohne ihn. Sie brauchte keinen Mann, jedenfalls keinen wie Gerd Bronsig, suchte nach Überblick und Ordnung. Die Mutter an ihrer Seite gab Charlotte zusätzlichen Halt und sichtbare Zufriedenheit. Sie ließ es zu, dass die Großmutter endgültig die Geschicke der Restfamilie okkupierte und den Tagesablauf bestimmte. Marcs Mutter arbeitete weiterhin im Krankenhaus, wurde bekocht und begab sich nach dem Abendessen vor den Fernseher. Die Nacht wurde geflimmert, die Oma bestimmte das Programm. Charlotte Bott verlangte nicht nach mehr und niemand fragte Marc, was er wolle.

      Obwohl Marc anerkannt hatte, dass ihn seine Mutter aufrichtig liebte, im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles für ihn gab und sich wirklich bemühte, fühlte er sich im Gegensatz zu ihr zu den Lebensmaximen des Vaters hingezogen, meinte eine geistige Verwandtschaft mit ihm zu erkennen. Aber die Oma und seine Mutter meldeten vehement den Anspruch an, Marcs Geschicke zu bestimmen.

      „Dein Vater war keinesfalls unnütz und schon gar kein schlechter Mensch. Ihm fehlte nur jeglicher Fleiß. Er war zum Vater besser geschaffen als zum Arbeiter.“

      Charlotte Bott sprach nach dem Tod des Vaters in Marcs Gegenwart nur in besten Worten von ihm, obwohl es ihr an Gründen für manche Klage nicht gefehlt hätte. Die Oma war anders.

      „Dein Vater war der faulste Hund auf Erden. Sieh zu, daß du nicht wirst wie er,“ zeterte sie noch Jahre nach seinem Tod und ahnte wohl bereits, wessen Vorbild Marc nacheiferte. Marc hasste seine Oma, obwohl sie vortrefflich kochte. Für ihn hatte die Oma durch ihre ständige Nörgelei den Vater in die Arbeit und somit den Tod getrieben. Mit vierzehn Jahren und den Waffen eines Pubertierenden nahm er den Kampf gegen sie auf.

      Marc fischte einen verbeulten Hut und den alten, zerschlissenen Lieblingstrenchcoat seines Vaters aus der Truhe, sah im Kino „Quadrophenia“, hörte „Madness“ mit gewaltiger Lautstärke und tanzte bei verschlossener Tür den „Gangsterbeat“ der „Specials“. Die Oma hämmerte vergeblich gegen die Wände. Sie saß jetzt abwechselnd in der Küche oder im Wohnzimmer und moserte, wenn sie Marc sah:

      „In deinem Alter solltest du mitverdienen. Übernimm einen Ferienjob!“

      Marc blieb sechs lange Wochen Sommerferien bis zum Mittag im Bett, attackierte ihre und seine Ohren mit den „Sex Pistols“ und „The Police“.

      „God save the queen and her fascist regime,“ brüllte er durch die vergipsten Wände bis seine Großmutter die Nerven verlor, die Wohnung verließ und sein Mittagessen an die Hinterhofkatzen verfütterte.

      “The Police“ war mehr den gefühlvolleren und einsamen Momenten vorbehalten. Sting sang von einer „Message in a bottle“ und Marcs Wut und Unzufriedenheit verbargen sich hinter mürrischer Verweigerung und diversen pubertären Selbstzweifeln. Er fühlte sich unsicher und hässlich und