Oliver Schulz

Der bekiffte Boxer beim Erstrundengong


Скачать книгу

die Freunde das innere Heiligtum des luxuriösen Zweifamilien-Klinkerbaus frequentierten und es sollte das letzte Mal bleiben. Nachdem Marc und Pete den pompösen Hauseingang mit den griechischen Gipslöwen erfolgreich passiert und den Kitsch entsprechend kommentiert hatten, geleitete sie Sönke an großzügig und teuer eingerichteten Räumen vorbei in sein Gemach. Die Zimmer der Eltern verhießen exklusive Funktionalität, zeugten aber von einem Leben ohne Gemütlichkeit. Die nüchternen, schwarzen Ledergarnituren kontrastiert von den hellen Mamorfliesen, die Sönkes Eltern bevorzugten, versprühten den eisigen Hauch von Reichtum, ohne größere Reminiszenzen an Geborgenheit und Wärme zu berücksichtigen.

      Sönkes kleines Reich, ein schmales Zimmer von maximal drei mal fünf Quadratmetern Ausmaß, unterstrich seine Vorliebe für Weltraumabenteuer. Ein schmales Fenster in der Ecke über seinem Bett warf Licht durch die Jalousien auf „Krieg der Sterne“-, „Star Treck“- und „Wüstenplanetposter“. Eine ganze Wand neben dem Schreibtisch war Spock, dem vulkanischen Spitzohr der Raumschiff Enterprise-Crew gewidmet.

      Schneemann beobachtete verlegen, wie Marc die zahlreichen Spock-Postkarten musterte und lüftete sein Haar über dem linken, explosionsgeschädigten Ohr.

      „Ich bin halber Vulkanier - wir sind praktisch miteinander verwandt,“ murmelte er und zeigte auf Spock. Pete pfiff im Hintergrund anerkennend, als er die immense Ansammlung von Science-Fiction-Romanen in Schlemmers Bücherregal entdeckte.

      „Hast du die etwa alle gelesen, Schneemann?“

      Sönke nickte eifrig.

      „Manche zweimal.“

      Pete betrachtete nachdenklich das Zimmer.

      „Warum haben dich deine Eltern in so einen kleinen Raum gepfercht? Ihr habt doch ein ganzes Haus!“

      Sönke betrachtete Pete verwundert.

      „ Es ist nur, weil...ich fühl mich hier wohl. Ich brauche nicht mehr Platz....es reicht mir und ich will nichts anderes.“

      Nach einer Pause fragte er: „Wollt ihr noch den Keller sehen? Wir haben da unten noch ´ne Sauna und ´nen Pool.“

      Ab diesem Moment lief Pete warm. „Und das sagst du erst jetzt, Schneemann?!“

      Eine künstliche Palme und diverse Grünpflanzen verschönerten den geräumigen Ruheraum, in dem gedämpftes Dämmerlicht auf angenehmste Art die blau-weiß gestreiften Liegestühle beleuchtete. Von diesem Raum aus geleitete Schneemann die beiden Freunde zwischen einen Durchbruch auf der rechten Seite zu einer generösen Halle, in deren Mittelpunkt der Swimmingpool Badefreuden versprach. Eine sich schräg zum Garten neigende Fensterfront tauchte das Becken in helles Tageslicht, ohne dass ein Außenstehender einen Blick auf den Anbau hätte werfen können. Zurück im Ruheraum wandten sich die drei Freunde zur zweiten Tür auf der linken Seite. Sie führte in den Vorraum einer Saunakammer, in der neben diversen Handtuch- und Kosmetikregalen eine komplette Stereoanlage thronte, die die Lautsprecher im Ruheraum mit Musik versorgte.

      Eine weitere Wand trennte die Saunakammer vom Duschraum. Der Architekt der Familie hatte im Keller erlesene Großzügigkeit walten lassen. Alle Räume waren hell gefliest, der Aufenthaltsraum mit einem flauschigen Teppich barfußfreundlich bedeckt.

      „Wahnsinn, Sönke,“ erregte sich Pete. „So was Geiles - gehst du hier häufig schwimmen?“

      Der schüttelte flüchtig den Kopf.

      „Ich schwimme nicht gern und Sauna vertrage ich nicht.“

      Pete fasste Sönke energisch an der Schulter. Seine Augen funkelten.

      „Wann, Schneemann, kommen deine Eltern zurück?!“

      Nadja und Anna waren ohnehin gerade zusammen, als Pete anrief. Alexander, Dirk und Daniel versprachen später vorbeizukommen. Bodo und Lars sagten ohne Zögern zu. Und alle wurden dazu angehalten, Schluck und weitere Freunde mitzubringen.

      Sönke nahm Petes Aktivitäten mit stoischer Ruhe hin. Mit der selben Gelassenheit öffnete er sich ein Bier.

      „Los - lasst uns auf die Party anstoßen! Hopp und Ex,“ rief Marc.

      „Deine Eltern werden gar nichts merken,“ meinte Pete.

      „Es ist O.K.“, bestätigte Sönke sehr ruhig.

      Diese Ruhe änderte sich jedoch nach dem zweiten Halben, den die Freunde innerhalb kürzester Zeit in Kopf und Körper gossen. Sönke gab seine Zurückhaltung auf und eine gesunde, rote Gesichtsfarbe färbte seine blasse, albinoweiße Haut. Mittlerweile hatten sich die drei im Ruheraum des Kellers behaglich eingerichtet. Pete, Sönke und Marc fläzten sich in den Liegestühlen, während sie lauthals die Flaschen klirren ließen.

      „Meine Mutter sagt, ich soll mich um Freunde bemühen, soll weg vom Chemiescheiß! Auf die Chemiescheiße,“ prostete Sönke mit seinem dritten Bier zu. „Wisst ihr - ich habe noch nie eine Party gemacht. Also nie ne Richtige. Zum Kindergeburtstag waren nur Freunde da, die ich einladen durfte...manche durften mich nicht besuchen...also waren immer nur solche da, die meine Eltern eingeladen hatten!“

      „Das Leben ist kein Kindergeburtstag,“ rief Marc aus.

      „Das Leben ist kein Kindergeburtstag,“ wiederholten nun alle drei und stießen ein weiteres Mal auf die Freundschaft an.

      Sönke war nicht wiederzuerkennen.

      Als die Klingel die traute Dreisamkeit durchbrach, erhob er sich leicht schwankend und wankte in Richtung der Treppe davon.

      „Voll in Ordnung, der Schneemann. Habe ich schon immer gesagt!“

      Pete blinzelte Marc aus glasigen Augen zu. Der nickte.

      „Er ist ein feiner Kerl. Etwas verschroben, aber O.K.!“

      Bodo, Lars Susi und Marlene aus der Kursstufe betraten mit lautem Hallo den Ruheraum. Aus ihren Plastiktüten blinzelten Tütenwein und Billigmartini. Innerhalb der nächsten halben Stunde waren auch Jones, Dirk und Daniel eingetroffen, und es entwickelte sich ein reger Plausch um Freundschaft, Liebe, Zukunft, Berufspläne und Elternmacken, der durch die Zufuhr geistiger Getränke bald vehement und mit Lästerzungen geführt wurde. Marc nahm an den Gesprächen nur unkonzentriert Anteil; er erwartete voller Spannung die Ankunft Annas.

      Klaus, Marc und Volker hatten noch eine Freundin sowie das Manndeckerpaar aus ihrer Fußballmannschaft mitgebracht. Die Party nahm Formen an.

      „Super - kommt alle rein,“ brüllte Schneemann schon ein paar Oktaven zu laut.

      Die Manndecker forderten Sönke und Pete zum Wettsaufen heraus und beim Blick in die Augen seiner Freunde wurde Marc rasch klar, dass es bei diesem Spiel keine Gewinner geben würde. Er machte beim Extrinken nicht mit. Irgend jemand war inzwischen auf die Idee gekommen, Musikkassetten zu holen und die Stereoanlage in Gang zu setzen.

      „AC DC“ und „Motörhead“ eröffneten mit krachenden Gitarren den Musikreigen - Pete hatte aufgelegt. Endlich erschienen auch Anna und Nadja, die sich sofort in die Ecke setzten und begannen, Joints zu drehen. Marc ließ sich neben Anna nieder und versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen, das sie nicht interessierte und so trollte er sich nach ein paar Zügen bald wieder zu Pete und Sönke, die mittlerweile sichtlich angeschlagen an einer Wand lehnten. Marc war unzufrieden und beobachtete Anna hilflos.

      Sie wirkte anders als sonst. Diesmal schien sie Marc wie aufgedreht. Sie lachte viel und albern mit Nadja herum, scherzte mit Vorbeigehenden und war entgegen ihrer sonstigen dämmrigen Trägheit putzmunter und aufmerksam.

      Marc dachte darüber nach, warum die Güter der Welt so ungleich verteilt sind. Annas braune Augen blitzten unter ihrer brünetten Haarpracht, als sie lachend den Raum durchquerte, ihre weißen Zähne lachten unternehmungslustig in die Menge und ihr gesamtes Wesen schrie an jenem Abend nach Aufmerksamkeit, die ihr nicht nur die zwei Manndecker in übergroßem Maße zuteil werden ließen. Anna hier, Anna da. Hier ein Küsschen, da ein Küsschen. Anna warf ihre Huldigungen in die einzelnen Grüppchen, umarmte mal jene, mal jenen und stand im Mittelpunkt des Geschehens.

      Marc