Oliver Schulz

Der bekiffte Boxer beim Erstrundengong


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Marc die Studentenproteste herzlich wenig. Auch kannte er den zuständigen Kultusminister, der sein Kommen versprochen hatte, nicht einmal dem Namen nach. Ihm ging es darum, Anna zu beeindrucken und deswegen hatte er die Eier eingesteckt.

      „Wir können keine Drachen mehr besiegen, um Prinzessinnen zu erobern, also werden wir anders glänzen,“ hatte Marc Pete erklärt und auch diesem zwei Eier zugesteckt.

      Marc fand, dass die meisten Studenten eher harmlos bis verblödet wirkten. Es schien ihm, als liefen alle nur in dem Zug mit, weil sie irgendjemanden kannten, aber nicht, weil sie irgendetwas wollten. Trotzdem hatten sich zwei Mannschaftswagen mit vielleicht zwanzig Polizisten für den Demonstrationszug interessiert und standen nun vor den Abstellgittern am Platz der Kundgebung. Ein paar mit Funkgeräten ausgestattete Personenschützer in Zivil liefen mit geschäftiger Miene und staatstragendem Gehabe durch die Gegend.

      Als der Kultusminister im Anschluss an die Studentenreden das Podium bestieg, kam doch noch einmal etwas wie Bewegung in die Menge. Mechanisch erhob sich ein Pfeifkonzert und es war schwer, sein eigenes Wort zu verstehen. Aus dem Geheul und Gelächter heraus flogen die ersten Eier von Marc und Pete recht präzise und klatschten den starr stehenden Sicherheitsbeauftragten vor die Füße. Wild schimpfte der Minister über die Unfähigkeit der Anwesenden zum politischen Diskurs. Die beiden nächsten Eier waren noch besser lanciert und vor dem Körper des Kultusministers entfalteten sich Regenschirme. Trotzdem zerplatzte ein Ei unter dem großen Jubel der Menge in einem ungeschützten Moment am Sakko des Politikers.

      Marc und Pete freuten sich wie kleine Kinder, Nadja und Anna lachten übermütig und alles hätte gut sein können, wenn die beiden Freunde nicht die Einsatzmöglichkeiten der Polizei unterschätzt hätten. Ohnehin war die Kundgebung überschaubar gewesen und die Teilnehmer friedlich, so dass die beiden Polizisten in Kampfanzügen locker über die Absperrung hüpften und problemlos ihren Weg durch die Menge zu Marc fanden. Der lachte noch bis zu dem Moment, als einer von beiden ihn überwältigte und im Polizeigriff hinter die Absperrung führte. Pete und die Mädchen hatten das Geschehen besser beobachtet und waren Augenblicke zuvor blitzschnell in der Menge abgetaucht.

      Marc blieb der einzige Märtyrer für eine Sache, die ihn nicht interessierte. Er hatte Spaß gesucht und wollte ein Mädchen beeindrucken. Nun saß er als einziger Gefangener im Bus zwischen acht scherzenden und gut gelaunten Kollegen der Bereitschaftspolizei in Erwartung neuen Ärgers. Der Diensthabende formulierte die Anzeige später auf „Landfriedensbruch in Tateinheit mit Beleidigung“, dann durfte Marc die Wache verlassen.

      Es blieb Marcs letzter politischer Widerstand und er hoffte, dass wenigstens Anna ihn für seinen Mut und seine Tatkraft ein wenig bewunderte. Ansonsten erinnerte er sich auf dem Heimweg durch die dunklen Gassen einmal mehr an die Ratschläge seines Vaters. „Geh bei rot, wenn keiner kommt und lass dich nicht dabei erwischen,“ hatte der ihm geraten. Statt dessen hatte Marc nun bereits die zweite Anzeige am Hals.

      „Nicht das Ei ist verkehrt gewesen. Das war für eine gute Sache, für Anna. Mein eigentliches Problem ist, dass ich mich erwischen lasse,“ befand Marc in jener Nacht und entschied, aufmerksam zu bleiben und nie wieder seine Gegner zu unterschätzen.

      Pete verkaufte die Geschichte in der Schule so, als hätten die beiden Freunde den Staat in seinen Grundfesten erschüttert und wären die einzigen politischen Krieger der Oberstufe. Allerdings interessierte das quasi niemanden, denn die schriftlichen Abiturarbeiten standen vor der Tür und boten gewichtigeren Gesprächsstoff. Politische Ansichten waren unpopulär geworden.

      4

      Anna war der Grund, warum sich Marc mächtige Feinde schuf und dies alles geschah kurz vor Ende seiner Schulzeit bei Marcs Freund Sönke Schneemann, der neben Pete der zweite wichtige Freund und Begleiter von Marcs Schicksal war.

      Sönke war ein blasser Junge mit dünnem blonden Haar und trug den Vornamen seines Vaters, was wahrlich kein feiner Zug seines Erzeugers gewesen war.

      Sönke Schneemann Jr. - deutlich prangte das übergroße Vorbild des Vaters aus Sönkes Namen hervor und Marcs Freund war in gewisser Weise anders als alle anderen geraten. Äußerlich war Sönke eher unscheinbar, immer etwas kleiner und schmächtiger im Wuchs, modisch uninteressiert und seinem Wesen nach schüchtern.

      Auffällig hingegen waren seine Aktionen, die ihn in der Schule populär werden ließen und die mit seinem Hobby zu tun hatten. Sönke liebte die Chemie und baute Bomben.

      Die eine Bombe war Sönke einmal zu groß geraten. Sie hatte den halben Fußballplatz eines ansässigen Sportvereines in die Luft gesprengt, Sönke einen Trommelfellriss und das halbe linke Ohr gekostet sowie ein Feuer im angrenzenden Vereinsheim entfacht.

      „Kawuuummm hat es gemacht und alles flog in die Luft! Es war gewaltig! Ich hätte nie gedacht, dass es so rumst!“

      Sönkes Augen blitzten noch Jahre nach der Explosion voller Lust und Stolz über die enorme Sprengkraft seiner Bombe.

      Seinen chemikalischen Höhepunkt lieferte er nach Meinung von Marc und Pete eines Tages im Chemieunterricht. Während alle anderen in Gruppenversuchen mehr oder weniger lustlos den Rätseln verschiedener Stoffverbindungen auf die Spur zu kommen gedachten, versuchte sich Sönke im Hintergrund an komplizierteren Giftexperimenten in der Nähe der Abzugshaube, um diese, wie er später sagte, im Notfall benutzen zu können.

      „Ich habe zu Hause keine Abzugshaube. Das Gerät an der Schule war viel besser. Außerdem habe ich nie im Leben an eine Verpuffung geglaubt,“ kommentierte er später schlicht seine Rolle am Feuerwehreinsatz.

      Marc erinnerte sich noch an einen dumpfen Knall, dann sah er seinen Freund Schneemann mit einem dampfenden Reagenzglas in der Hand geduckt zur Abzugshaube rennen. Dabei hielt er sich einen Pullover schützend vor Mund und Nase. Der Lehrer, dessen Augen bis dahin schläfrig zwischen Schülern und Fensterfront hin- und hergewandert waren, und der Sönkes umtriebige Versuche nicht wahrgenommen hatte, sprang überrascht auf.

      „Sönke - wohin?! Der Abzug funktioniert zur Zeit nicht,“ formulierte er erstaunt und in Unkenntnis der Gefahren, die von Schneemanns Versuch ausgingen.

      „Scheiße!“ Sönke raste zur Fensterfront, riss das Größte auf und platzierte das rauchende Glasröhrchen davor. Dann brüllte er die Klasse an:

      „Seenfgaas! Senfgas! Alles raus hier!“

      Irgend jemand drückte beim Sturm auf den Schulhof den Notalarmknopf, so dass in kürzester Zeit die gesamte Schule den Pausenhof überfüllte und mit lustigen Kommentaren den Giftgaseinsatz der Feuerwehr garnierte. Pete und Marc klopften

      dem unglücklich dreinblickenden Schneemann anerkennend auf die Schulter - Rest des Tages schulfrei - doch diesem gelang nur ein getrübtes Lächeln.

      Sönke kam mit einer Abmahnung der Schulleitung davon. Sein Vater, Unternehmer, einflussreicher Bauherr und konservatives Mitglied des Stadtrates, bezahlte der Schule ein modernes Entlüftungssystem und zeigte sich als Gönner des Schulvereines spendabel.

      Aber abgesehen von diesen gewaltigen Demonstrationen seiner Experimentierkünste war Sönke ein so stiller wie unauffälliger Zeitgenosse. Er war bei allen wichtigen Aktionen dabei, ohne dass es auffiel. Er schwieg, wenn die anderen redeten, gab sein nettes Kinderkichern von sich, wenn sie lachten und schien ansonsten in seiner verschrobenen Versuchswelt aus Chemiestoffen und Science Fiction- Romanen abgetaucht. Marc mochte Schneemann trotz seines wunderlichen Wesens, gleichzeitig tat er ihm wegen seines Außenseiterdaseins leid.

      Kurz nach den schriftlichen Abiturarbeiten bat Sönke an einem Freitagnachmittag Marc und Pete zu sich nach Hause. Seine Eltern waren verreist, würden aller Voraussicht nach erst am Sonnabendabend von einer kürzeren Geschäftsreise des Vaters zurückkehren und so begann das, was man später problemlos als den Sturm des Schneemanschen Anwesens bezeichnen konnte, gegen drei Uhr nachmittags.

      Aus Petes Rucksack klimperten diverse Biere, Marc hatte das umfassende Weinsortiment seiner Oma geleert. Er hatte dabei die exklusivsten Flaschen mitgehen lassen. Das Beste schien