Jay Baldwyn

Insonnia


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dir zu verabschieden? Nein, ich habe auch einige Untersuchungen über mich ergehen lassen müssen.<<

      >>Und dann hat man mir auch noch Babo weggenommen. Sie sagen, ich sei zu alt, um ein derart intensives Verhältnis zu einem Kuscheltier zu haben. Dabei haben wir immer gemeinsam so schöne Lieder gesungen.<<

      >>Ich weiß auch ein paar Kinderlieder. Kennst du das hier? „Aus dem Wald, aus dem Wald ruft der Kuckuck ...<<

      >>Ja das ist schön. Aus dem Wald, aus dem Wald ruft der Kuckuck. Cuculino, cuculo. Cuculino, cuculo.<<

      Eine Bank weiter saßen zwei Frauen, eine junge und eine ältere.

      >>Du, das ist doch die Kleine aus unserem Zimmer. Mit wem spricht sie denn da?<<

      >>Ich weiß nicht<<, meinte die Ältere. >>Hach, und jetzt singt sie auch noch. Für Kinderlieder ist sie schon ein paar Jahre zu alt.<<

      >>Vor der müssen wir uns in Acht nehmen. Die scheint wirklich eine Schraube locker zu haben.<<

      Velia ging es gleich etwas besser nach dem Duett mit Gianna. Das war unübersehbar.

      >>Na, siehst du. Jetzt sehen deine Augen gleich nicht mehr so traurig aus. Weißt du, das war hier einmal ein viel schönerer Ort. Man hat die Anstalt schon 1888 als Krankenhausstation für “Verrückte” gegründet. In dem ehemaligen Armenhaus des damaligen San Girolamo Klosters. Im 20. Jahrhundert wurde es dann unter der Leitung von Dr. Luigi Scabia vergrößert und zur Psychiatrischen Anstalt umbenannt Zusätzlich zu dem Krankenhaus wurden Geschäfte, verschiedene Services wie eine Wäscherei und eine Schneiderei eröffnet. Es wurden auch Stoffe hergestellt und sogar Seidenraupen gezüchtet. Es gab ein Ziegelwerk und sogar einen gerichtlichen Bereich. Ziel war es, ein unabhängiges Dorf zu bauen, wo die Patienten sich frei fühlen können. Man wollte eine Parallelwelt aufbauen. Alles, was es draußen gab, wollten sie auch drinnen machen, um die Patienten irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen und in die Gesellschaft integrieren zu können. Aber das ist alles lange her. Nachdem Scabia 1934 verstarb, bekam das Krankenhaus immer wieder eine neue Leitung.<<

      >>Und wo war dieser gerichtliche Bereich? Weißt du das?<<

      >>Ja, im Charcot Pavillon. Genauer gesagt, war es ein "Zweig" des wichtigsten Justizministeriums Ferri. Der Charcot Pavillon wurde 1927 erbaut. Im Keller gab es den Orange Room. Da war was los. Der wurde auch für Veranstaltungen und Tanzpartys von Patienten und Krankenhauspersonal gemeinsam genutzt.. Der sogenannte "Karneval der Madman - Karneval dei pazzi" war berühmt. Organisiert von Dottore Scabia und Anlass zum Jubeln für die Patienten.<<

      >>Da wäre ich gern dabei gewesen<<, sagte Velia.

      >>Ja, ich auch. Doch das ist lange vorbei. Der Krieg hat alles verändert. Und mit der Überbelegung fingen die schlimmen Zustände an. Ist dir schon mal aufgefallen, dass es nur zwanzig Waschbecken gibt? Die müssen sich zweihundert Patienten teilen. Die Gesamtzahl der Patienten muss inzwischen in die Tausende gehen. Und man munkelt hinter vorgehaltener Hand: „Wer nach Volterra geht, kommt nie wieder.“<<

      Velia fing wieder an zu weinen. Die Aussicht, für immer dort bleiben zu müssen, erschütterte sie zutiefst.

      >>Oh, entschuldige. Ich bin eine dumme Kuh<<, sagte Gianna. >>Ich wollte dir keine Angst machen.<<

      >>Warum bist du eigentlich hier?<<

      >>Sie sagen, ich hätte mein neugeborenes Kind getötet. Nur habe ich überhaupt keine Erinnerung daran. Etwas so Schreckliches müsste mir doch im Gedächtnis geblieben sein, nicht wahr?<<

      Velia wusste nicht, was sie sagen sollte. >>Und wie lange bist du hier schon eingesperrt?<<, rang sie sich schließlich ab.

      >>Das müssen schon einige Jährchen sein. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange genau. Dabei bin ich alle Abteilungen durchwandert. Von der geschlossenen, über die mittlere, bis zu der für die leichteren Fälle, in der wir jetzt beide sind. Ich halte das für ein gutes Zeichen. Vielleicht komme ich ja doch mal raus. Auf jeden Fall habe ich gelernt, ihnen zu sagen, was sie hören wollen. Eine Strategie, die ich dir auch empfehle. Was wirklich in dir vorgeht, behalte für dich. Das geht keinen etwas an. Und vor allem kann man es nicht gegen dich verwenden.<<

      >>Ich habe mamma geschrieben, dass es mir leid tut, ein böses Mädchen gewesen zu sein. Ob ich wohl jemals Antwort bekomme?<<

      >>Darauf hoffe lieber nicht. Wo hast du denn den Brief hingebracht?<<

      >>In die Poststelle.<<

      >>Dann hättest du ihn auch gleich in den Papierkorb werfen können. Man liest, legt ihn zu den Akten, leitet ihn aber nicht weiter. Kontakte nach draußen sind hier unerwünscht. Aber jetzt Schluss mit den trüben Gedanken! Komm, wir gehen ein bisschen rüber zum Schaukeln!<<

      Kapitel 2

      Kiara Martinelli wollte noch etwas einkaufen gehen, bevor Delano von seiner Reise zurückkam. Die letzten zwei Nächte waren ruhig verlaufen. Der Spuk hatte sich zum Glück nicht wiederholt, deshalb war sie etwas entspannter. Doch das sollte nicht von langer Dauer sein.

      Ausnahmsweise hatte sie einmal nicht selbst gebacken, sondern wollte ihre Familie mit den Köstlichkeiten aus der Dolceria del Corso, einer Bäckerei und Konditorei, die nur wenige Minuten mit dem Auto entfernt lag. 1984 gegründet, war es das älteste Geschäft der Stadt und genoss einen guten Ruf weit über Volterra hinaus. Kiara wurde wie immer äußerst liebenswürdig bedient, umso ahnungsloser war sie, was anschließend geschah.

      Normalerweise kaufte sie ihre Lebensmittel im Conad City, einem etwa weiter entfernten, großen Supermarkt, der die größte Auswahl bot und mit dem Auto schnell zu erreichen war. An diesem Tag wollte sie mal etwas Neues ausprobieren. In der Hoffnung ganz besondere Spezialitäten zu entdecken.

      Zuerst steuerte sie das Lebensmittelgeschäft Toscanamente Cacioteca an, das in einer alten Gasse lag und im Internet gute Kritiken bekommen hatte. Doch als sie den Laden betrat, schlug ihr eine Welle von Ablehnung, ja geradezu Feindseligkeit entgegen. Die wenigen vorhandenen Kundinnen beäugten sie misstrauisch und wandten sich dann schnell ab. Das muss ich mir nicht antun, dachte Kiara und ging gleich wieder.

      Im nächsten Laden, der die geringste Entfernung zu ihrem Haus hatte, lag er doch am Borgo San Lazzaro, von dem auch „ihre“ Straße, die Viale dei Filosofi, abging, wurde es noch schlimmer. Man sah sie nicht nur argwöhnisch und feindselig an, sondern weigerte sich strikt, sie zu bedienen. Eine Ungeheuerlichkeit, für die Kiara keine Erklärung fand. In ihrem Ärger dachte sie, dass wohl nicht nur die Stadt mittelalterlich war, sondern auch ihre Bewohner.

      Um sich ein drittes Debakel zu ersparen, fuhr sie wieder zum Conad City. Und dort sollte sie endlich eine Erklärung für das Drama finden. Wenn ihr diese auch nicht sonderlich behagte. Eine Frau, die sie vom Sehen kannte, sprach sie an.

      >>Bongiorno! Signora Martinelli.<<

      >>Bongiorno! Sie kennen mich?<<

      >>Ja, unsere Töchter gehen doch gemeinsam in die Scuola Primaria "San Lino". Wir haben uns schon öfter gesehen. Ich bin Eluana Fontana. Erinnern Sie sich?<<

      >>Ja natürlich, entschuldigen Sie, aber ich bin etwas durcheinander. Mir ist nämlich gerade etwas schier Unglaubliches passiert.<<

      >>Hat man Sie angegriffen oder verbal beleidigt?<<

      >>Schlimmer. Man hat mich mit Verachtung gestraft und sich schlicht geweigert, mich zu bedienen. Ich wollte mal andere Lebensmittelgeschäfte ausprobieren. Doch das ist mir nun gründlich vergangen. Ich finde keine Erklärung für das Verhalten der Menschen. Mir schlug geradezu Hass entgegen.<<

      >>Wundert Sie das wirklich? Mi scusi, wenn ich das sage, aber einfach strukturierte Menschen