Nadja Christin

Samuel, der Tod 2


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sie einige Geschichten gar nicht hören. Im vergangenen Jahr hat sie lediglich zweimal mit ihrem, einst besten Freund Liam, telefoniert. Nach wie vor ist er mit Charlie, ebenso ein Vampir wie er, im Norden der verregneten Insel unterwegs. Zwar versprach er, sie demnächst zu treffen, jedoch blieb er ihr einen Besuch bis heute schuldig. So hielt sie es auch nicht für nötig, irgendjemandem Bescheid zu geben, dass sie Paris verlässt, um im südlichen Frankreich ein paar schöne Tage zu verbringen. Lediglich einige ihrer Kunden wussten Genaueres.

      Alice wirft einen Blick auf ihren Kalender. Es ist der fünfte Dezember, morgen, sobald die Sonne aufgeht, will sie aufbrechen. Zuerst möchte sie in aller Ruhe in Richtung Genève in der Schweiz fahren, bevor sie über Lausanne und Montreux den kleinen Ort Airolo besuchen wird. Dort lebt einer ihrer Artgenossen, den sie bereits aus früheren Zeiten kennt. Sie hofft, den guten, alten Eugenio Schwery, dazu überreden zu können, sie auf das Lichterfest zu begleiten. Die Werwölfin hat zwar keinerlei Furcht, sich allein in das Getümmel zu werfen, jedoch weiß sie, dass es zu zweit mehr Spaß macht. Wenn sie schon nicht von ihrem geliebten Sensenmann Samuel begleitet werden kann, so will sie doch wenigstens ein einigermaßen vertrautes Gesicht neben sich haben.

      Es wird das erste Mal, seit sehr langer Zeit sein, dass sie an einem Vollmond nicht eingesperrt ist. Alice freut sich auf die kommenden Tage. Jedoch verspürt sie ebenso eine unerklärliche Furcht, die sich ganz langsam ihre Eingeweide hochfrisst.

      Sie hält kurz inne, ein schwarzes Top in den Händen. Alice lauscht in sich, versucht zu ergründen, wovor und warum sie solche Angst verspürt. Sind es Instinkte, oder doch nur die Furcht vor etwas Neuem, vor dem Unbekannten. Das schwarze Nichts, das sich Top schimpft, fliegt in den Koffer. »So ein Schwachsinn«, murmelt Alice vor sich hin und greift nach dem nächsten Kleidungsstück in ihrem Schrank um auch das einzupacken. Sie breitet es auf ihrem Bett aus. Erst jetzt erkennt sie es. Es ist das hauchdünne Kleidchen, das sie vor einem Jahr kaufte, um sich am gleichen Abend in eine Schlacht mit dem Ortsansässigen Drogenboss Alfons Martinez zu stürzen. Natürlich lief alles völlig aus dem Ruder, jedoch hatte es ein Gutes: Sie traf auf Samuel, den Tod. Dass sie sich ausgerechnet in den Sensenmann verlieben musste, war ihr weder recht, noch so geplant. Aber die Werwölfin konnte für ihre Gefühle nichts. Sam liebte sie nicht, er konnte es nicht, wie er ihr mehrmals sagte. Alice wusste nicht, ob sie ihm das glauben sollte oder nicht, da er sich jedoch im vergangenen Jahr nicht einmal rührte, nahm sie an, dass alles, was er sagte, die Wahrheit war.

      Erneut sieht sie auf den schwarzen Fetzen, der einst ein Designerkleid darstellte. Sie weiß nicht mehr, wie es in ihren Schrank kommt, sie kann sich nicht daran erinnern, dass sie es dort hineingelegt hat. Vorsichtig, als wäre es hochexplosiv, nimmt Alice es, mit spitzen Fingern, vom Bett hoch. Dann, einem Impuls folgend, hält sie es sich unter die Nase und atmet tief ein. Ein berauschender Duftmix flutet in die kleine Schwarzhaarige ein. Parfum, Zigarettenrauch, Whisky, sogar das Schwarzpulver von der Schießerei, in die sie geriet, kann sie noch riechen. Und unter all diesem vorherrschenden Geruch, fast unmerklich, strömt ihr ein vertrauter Duft in die Nase.

      Samuel.

      Es ist eindeutig. Sofort sieht Alice ihn vor sich. Die kurzen, dunklen Haare, das markante Gesicht, das oft viel zu traurig aussah und dann noch seine Augen. Dieses Blau, wie ein Gebirgsbach so klar, dunkel, wie ein sternenübersäter Himmel. Die schönsten Augen, die sie je sah. Sofort beginnt ihr Herz wie wild zu klopfen, sie presst sich das Kleid gegen das Gesicht und atmet tief ein. Die viel zu kurze Zeit, die sie zusammen verbrachten, rauscht in Bildern, wie ein Güterzug, an ihr vorbei. Erst bei ihrem Abschied stoppt die wilde Fahrt abrupt – Ausgerechnet da.

      Überdeutlich sieht sie Samuel vor sich, wie er lässig gegen einen Laternenpfahl lehnt, die Hände in den Taschen vergraben und ihr zuzwinkert.

      Es kostete sie damals eine ungeheure Überwindung, einfach so zu fahren, ihn zurückzulassen. Jedoch nahm sie zu jener Zeit noch an, dass allerhöchstens ein bis zwei Monate vergehen würden, bis sie Sam wiedersah. Niemals, noch nicht mal in ihren verrücktesten Träumen, hätte sie sich vorstellen können, dass er sich einfach nicht mehr bei ihr blicken lässt. Er hatte es doch versprochen, beinahe schon geschworen.

      »Die Kerle sind alle gleich«, zischt Alice und wirft das schwarze Kleid zurück in den Schrank. Sie würde sich einfach etwas anderes zum Anziehen suchen müssen, um schick Essen zu gehen. Sie beabsichtigt nicht, während sie Muschelsuppe schlürft, Samuels Geruch um sich haben. Das wäre das Letzte, was sie will.

      Sie wirft einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den zusammengeknüllten Fetzen von Kleid, der sie immerhin einst 650 Euro kostete. Doch dann knallt sie entschlossen die Schranktüre zu, ganz so, als sperre sie ihre Vergangenheit hinter den Sperrholzplatten ein.

      Samuels Blick bohrt sich in Parkers Augen. Er sieht, wie die tödliche Waffe auf ihn niedersaust, dennoch hat er die Zeit, um ein hämisches Lächeln anzudeuten.

      Parker sieht es und weiß im selben Augenblick, was jetzt geschehen wird.

      Sams Arm schießt vor und packt Parkers Knöchel. Ein scharfer Ruck und der baumlange Kerl fällt nach hinten. Er stößt einen heiseren Schrei aus, lässt das Schwert fallen und rudert mit den Armen. Aber all das nützt ihm wenig, mit einem dumpfen Geräusch landet er auf dem weichen Waldboden. Der Aufprall presst ihm jegliche Atemluft aus den Lungen. Kaum schlägt Parker auf, schon ist Sam über ihm, drückt ihn mit seinem Gewicht noch tiefer in den Boden, nagelt ihn fest.

      Er presst seinen Unterarm gegen Parkers Kehle. »Hör auf, Sam. Du hast ja gewonnen.«

      »Gewonnen?«, stößt Sam verächtlich hervor. »Ich habe erst gesiegt, wenn du blutend vor mir liegst.«

      Aus seinen Fingerspitzen schießen lange Krallen hervor, der Kopf wird breiter und zugleich länger, eine Schnauze bildet sich, mit messerscharfen Reißzähnen. Sams gesamter Körper verändert sich, lange, schwarze Haare sprießen aus den Poren, die Schultern wandern höher, Arme und Beine werden noch kräftiger. Unter lautem Knacken und Krachen verwandelt er sich in einem Werwolf. Die Umformung dauert nur Sekunden. Als Parker bemerkt, was vor seinen Augen geschieht, ist es beinahe zu spät. Der riesige Kerl schließ die Augen, konzentriert sich und nur einen Wimpernschlag später beginnt auch er sich in einen Werwolf zu verwandeln. Sie lassen sich gegenseitig los und springen einen mächtigen Satz zurück.

      Die beiden Tiere umrunden sich knurrend und drohend.

      Fetzen ihrer Kleidung hängt noch von ihren Körpern herab, dazwischen lugt braunes, struppiges Fell hervor. Parkers Augen sind leuchtend gelb, Sams dagegen blutrot. Im Rhythmus seines keuchenden Atmens, erklingt ein bösartiges Knurren. Sie können in ihrer Verwandlung nicht mehr sprechen, jedoch sagen ihre Körpersprache und die gefährlichen Geräusche mehr aus, als sie mit Worten hätten formulieren können.

      Immer wieder wagt Sam einen kleinen Vorstoß, einen Scheinangriff, der augenblicklich von dem riesigen Werwolf pariert wird. Aus Erfahrung wissen sie, dass sie in etwa gleich stark sind, immerhin ist dies nicht ihr erstes Gefecht. Parker ist um einiges größer, dafür ist Sam geschmeidiger und brutaler. Ein Kampf der zwei Wölfe würde sich über Stunden, wenn nicht sogar, Tage hinziehen, niemand von ihnen würde je aufgeben.

      Plötzlich stolpert Parker über die Fetzen seiner Jeans. Die Vorderpfote knickt ein und er muss den Blick von Sam abwenden, um nicht der Länge nach hinzuknallen. Sein Gegner wittert seine Chance und greift sofort an. Unter lautem Knurren, Brüllen und Kreischen, rollen die Werwölfe über den Waldboden. Ihre Kiefer schnappen ins Leere, mit den Pranken schlagen sie auf den Gegner ein. Die nächtliche Luft ist erfüllt mit unmenschlichen Geräuschen.

      In einiger Entfernung fährt ein Mercedes auf den Parkplatz und hält an, die Seitenscheibe wird mit einem leisen Surren heruntergelassen. Eine junge Frau streckt den Kopf raus und lauscht in die Nacht hinein.

      »Dachte ich es mir doch«, flüstert die Schönheit mit dem haselnussbraunen Haar und steigt aus. Sie bahnt sich einen Weg, quer durch den dichten Wald, genau auf die heulenden und kämpfenden Wölfe zu.

      Als sie den Platz erreicht, der inzwischen aufgewühlt und voller Blut ist, lehnt sie sich lässig gegen einen der Bäume, verschränkt die Arme vor dem üppigen Busen und sieht den kämpfenden