Stephen Red

Nacht ohne Wiederkehr - Band 1


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Und so las sie weiter. Seite um Seite kam sie dem Ende näher. Als sie auf der letzten Seite und schon beim Umschlagen angelangt war, riskierte sie einen Blick auf den Deckel des Buches. Da stand auch etwas, wieder in schwarz auf Schwarz. Es war fast so, als wollte jemand nicht, dass man dies dort fand. Aber Erika war eine kluge Frau und so ertastete sie die Buchstaben, als wäre es eine Art Blindenschrift, und tatsächlich, da standen Worte. Da Stand Folgendes:

      „BUCH 17 ist zu Ende und dein Leben ist verwirkt“

      „Dabei konnte es sich nur um einen Scherz handeln“, dachte Erika. Es gibt keine Bücher, die töten. Sowas gibt es nur in Hollywood. Dennoch war ihr mulmig zumute. Mit der letzten Seite klappte sie das Buch zu und stellte es ins Regal, wo alle ihre gelesen Werke standen. Es reihte sich neben der Bibel zur Rechten und der Grabrede zum Tod von Hanks Vater zur Linken ein. „Ein komischer Platz für so ein Buch“, dachte Erika. „Warum steht denn genau da die Bibel? Ich lese die doch gar nicht. Da hat bestimmt Hank wieder an meiner Ordnung im Regal herumsortiert.“ Sie hakte es damit ab und ging in die Küche. Hier kümmerte sie sich um das Essen, deckte den Tisch und summte freudig ein Lied. Irgendetwas von den Beatles war es wohl. „You say goodbye and I say hello. … Hello hello …” und immer so weiter. Sie liebte die Beatles.

      Eine Stunde später wunderte sie sich sehr. Ihr Mann Hank war immer noch nicht da. Dabei war seine Arbeit schon längst beendet. Er musste da sein. Aber auch die Kinder waren nicht da. „Wo stecken die nur wieder? Irgendwann bringen die mich noch ins Grab. Können die nicht wenigstens mal anrufen und sagen, wo sie sind?“ Aber nein, das ging nicht. Jetzt machte sie sich Sorgen. „Vielleicht ist etwas geschehen, in der Zeit, in der ich das Buch gelesen habe“, dachte sie. „Aber was soll da schon groß gewesen sein. Sonderlich dick war das Buch ja nun nicht und ich hab es in einem Rutsch gelesen. Da fehlten höchstens fünf, vielleicht auch sechs Stunden.“

      Es waren acht Tage, vier Stunden, sieben Minuten und 23 Sekunden. In dieser Zeit änderte sich alles. Kaum, dass Erika in ihre Welt der Ritter, Drachen und Burgfräulein abtauchte, brach in der Straße das Chaos aus. Überall lasen die Menschen, sitzend, gehend, stehend sowie liegend dieses Buch. Es war wie eine Epidemie, die sich rasch ausbreitete. Zuerst fiel es gar nicht so auf. Man sah vereinzelt Menschen hier und da mit diesem Buch. Mal sitzend auf der Parkbank, mal stehend am Postschalter. Aber schon am nächsten Tag nahm das Phänomen stetig zu. Die Gruppe der Lesenden hatte sich über Nacht vervielfältigt. Mittlerweile fuhr der Schulbus nicht mehr, weil auch der Fahrer vom Lesefieber durch dieses Buch besessen war. Er vergaß schlichtweg seinen Job. Hinten am Ende der Straße brach ein Feuer aus. Aber die Feuerwehr kam nicht. Der Löschzug stand an der Ampel, und während sie dort so warteten, lasen sie das Buch und verharrten. Das Feuer entzog sich völlig ihrer Realität. Das Buch breitete sich aus. Einem Virus gleich steckte einer den anderen an. Kaum, dass einer lesend an einem nicht Lesenden vorbei kam, verdoppelte sich das Buch und schon hielt auch er eines in Händen.

      Am dritten Tag brannten am Ende der Straße bereits drei Häuser. Denn auch die Nachbarn lasen lieber das Buch, als sich um den Brand zu kümmern. Es gab die ersten Opfer zu beklagen. Im örtlichen Krankenhaus legte der Chirurg während der Operation am offenen Herzen das Skalpell beiseite und las dieses Buch. Keine fünf Minuten später saß das ganze OP-Team auf der Bank in der Ecke und vertiefte sich ins Buch. Der Patient verstarb innerhalb weniger Minuten. Der Arzt lachte, weil er etwas Lustiges las, die Oberschwester weinte, denn ihre Geschichte war traurig, und die anderen knufften sich ob der Tatsache, dass ihr Buch so toll war. Vor dem Haus von Hank und Erika lag ein Toter auf der Straße. Niemand kümmerte sich um ihn. Keiner würdigte ihn auch nur eines Blickes. Wie konnten sie auch, denn sie steckten bis über beide Ohren in ihren Büchern. Das Buch zog sie in seinen Bann. Da kam ein Polizeiwagen die Straße herauf. Er bremste hart und stoppte, weil sich eine Leiche um die Vorderachse des Wagens gewickelt hatte. Die Polizisten stiegen aus und sprachen Hank an. „Sie haben einen Einbrecher gemeldet?“ „Ja“, antwortete Hank. „Er hat versucht, uns das Buch zu stehlen.“ Hank musste gar nicht sagen, um welches Buch es sich handelte. Die Polizei wusste sofort Bescheid. Sie schnappten sich den Einbrecher und erschossen ihn auf der Stelle. Einer der beiden Polizisten las von Billy the Kid und fühlte sich wie eben dieser. Und so erschoss er alles, was ihm einen Grund lieferte.

      Am vierten Tag war die Straße bereits von zwei Dutzend Leichen gesäumt. Hunde liefen herrenlos durch die Gegend. Autos standen willkürlich geparkt auf den Bordsteinen oder blieben gleich gänzlich auf der Straße stehen. Es war das pure Chaos ausgebrochen. Plötzlich überflog die Siedlung ein Jumbo im Tiefflug. Kurz darauf sah man am Horizont einen Feuerball aufsteigen. Der Pilot hatte eine kurze Pause gemacht und sich das Buch von seinem Copiloten genommen. Darin stand, dass er auf einer Südseeinsel sei, in bis zum Boden durchscheinendem blauem Meereswasser schwamm und sich anschließend die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. Und so rührte er den Schaltknüppel im Flugzeug nicht mehr an. Aber auch hinten im Passagierbereich saßen alle Passagiere und lasen dieses Buch. Egal, ob Oma, Opa, Mutter, Vater, Kind, Frau, Mann, Jugendliche, Kleinkind: Jeder hatte dieses Buch in Händen und las.

      Am fünften Tag war die Zahl der Opfer auf weit über 50.000 geklettert. Morde standen auf der Tagesordnung. Jeder war bereit zu töten, nur um das Buch weiterzulesen. Auch Hanks Nachbar musste dran glauben. Sein Buch wurde von dem Einbrecher geklaut und von der Polizei als Beweisstück beschlagnahmt. Und so ging Hank kurzerhand zum Nachbarn, brach dort ins Haus ein, überraschte die Familie beim Essen, erschoss sie allesamt und klaute ihnen das Buch aus dem Schrank. Die ganze Familie hatte sich vehement dagegen gewehrt, dieses Buch zu lesen. Schließlich hat es sie dennoch getötet, wenn auch nur indirekt. Im ganzen Land war der Notstand ausgebrochen. Der Gouverneur hatte das Kriegsrecht verhängt, was allerdings nicht viel half, denn auch die Soldaten wurden von dem B-17 Virus, wie das Buch mittlerweile genannt wurde, befallen. Und so erschossen sie sich gegenseitig, nur um an das Buch zu kommen. Es gab Plünderungen, Jugendliche, die mordend durch die Straßen zogen, Polizisten, die einfach grundlos Leute niederschossen, weil sie gesehen hatten, wie einer dem anderen das Buch stehlen wollte. Weit und breit lagen zerfetzte Leichen herum, weil jeder über sie rüber lief oder sie gar noch nach Informationen auf das Buch durchsuchte. Dabei war keiner zimperlich. Schnell wurde mal ein Arm abgetrennt, weil sich etwas in der Armbeuge verdächtig anfühlte. Es wurde mehr und mehr geschlachtet. Jedes Gefühl von Reue wich einem entsetzlichen Durst nach dem B-17 Virus.

      Am sechsten Tag wurde die ganze Stadt hermetisch abgeriegelt und zum Seuchenherd erklärt. Hier soll laut Wissenschaftlern der B-17 Virus ausgebrochen sein. Wer allerdings das Buch zum ersten Mal in Händen hielt, war unklar. Militärpatrouillen fuhren alle halbe Stunde die Straßen ab und beobachteten, wo sich der fiese Mob sammelte. Fanden sie eine solche Anhäufung, wurde gnadenlos in die Menge geschossen. Es durfte nicht riskiert werden, dass der B-17 Virus sich neue Wirte suchen konnte. Zu Anfang erschossen sie nur Gruppen, die mehr als dreißig Mitglieder zählten. Mittlerweile waren sie bei Gruppen von unter zehn angelangt. Um die Seuche einzudämmen, reichte ihnen jedes Mittel. Mal wurden die Infizierten niedergebrannt, mal enthauptet, oder ihnen wurden die Arme abgeschlagen. Aber auch ohne Arme waren sie noch in der Lage zu lesen. Und so kam die Wissenschaft zu Hilfe. Es wurde ein Anti-Impfstoff entwickelt. Das sogenannte Anti Buch 17. Kurz gesagt, das

      „AB 17“, wurde geschrieben. Darin stand die durchlebte Geschichte der letzten Tage, rückwärts erzählt. Von der Hölle der Selbstjustiz, über das Töten mittels Panzergranaten, die auf Menschentrauben abgefeuert wurden, bis hin zu plündernden und mordenden Jugendgangs, die die Nachbarschaft dezimierten. Es wurde alles haarklein erzählt. Quasi wurde die Geschichte auf den Anfang zurückgeschrieben. Erste Versuche unter Beobachtung zeigten schon Erfolge. Die Menschen entwickelten wieder normale Gewohnheiten. Ja, es gab sogar welche, die dem B-17 Virus entsagten und wieder ein normales Leben aufnahmen. Aber die Masse war immer noch infiziert. Und der B-17 Virus ergriff nicht nur ganz Amerika. Durch Geschäftsreisende verbreitete sich die Seuche auch nach Europa, Asien, wie auch in der ganzen Welt. Sie erreichte jeden Zipfel. Sogar auf der ISS wurde das Buch gelesen. Weshalb die ersten zwei Astronauten der Endlosigkeit des Raumes entgegenschwebten. Sie entstiegen der Raumstation und entsicherten die Verbindung zur ihr.

      Am siebten Tag stellten sich endlich erste Erfolge ein. Es wurden öffentliche Bücherverbrennungen angeordnet. Mehr