Burkhard Simon

Der Kruse


Скачать книгу

zum zweiten Mal an diesem Tag die Tür des Reisebüros öffnete, eine andere – wahrscheinlich viel wichtigere – Tür für immer hinter mir schloss. Es war eine Entscheidung gefallen, eine Entscheidung, die Karin sicher nicht sonderlich gut in den Kram gepasst hätte. Aber auch Karin hatte in letzter Zeit ein paar Entscheidungen gefällt, ohne sich vorher mit mir abzusprechen.

      So findet irgendwie immer alles seinen Ausgleich.

      Die Klingel über der Tür schellte erneut, und ich ging schnurstracks auf die Nasenkräuseltraumfrau zu.

      »Hallo. Ich bin es wieder.«

      »Ach, hallo! Na, das ging aber schnell. Haben Sie sich entschieden?«

      »Äh... ja. Ich werde ein Ticket zurückgeben. Das Ticket auf den Namen meiner Frau.« Ich zog den Umschlag mit den Vouchers heraus. »Karin Kruse. Hier, bitte.«

      Sie kümmerte sich um ihre Computertastatur, und während ihre Finger über die Buchstaben flogen schaute sie ab und zu zu mir hoch.

      »Wenn ich das Ticket Ihrer Frau jetzt storniere, und Sie überlegen es sich doch noch anders, muss ich die Sache so behandeln, als hätte nie ein zweites Ticket vorgelegen. Das ist Ihnen klar?«

      »Ja. Natürlich.«

      »Ich meine, es könnte dann sein, dass kein Platz mehr verfügbar sein wird.«

      »Ja. Das ist mir klar. Danke. Tun Sie es einfach trotzdem, bitte.«

      »Okay. Gern.«

      Ein Klick mit der Maus, und ein obszöner Geldbetrag zerstob zusammen mit dem Karibikurlaub meiner Frau in den virtuellen Weiten einer virtuellen Buchungszentrale ohne auch nur leise „Puff“ zu machen.

      »So. Das ist dann erledigt.«

      Ja.

      Das war dann erledigt.

      Ich würde nun zum ersten Mal seit überhaupt jemals immer alleine in den Urlaub fahren, denn als die Zeiten, zu denen ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr, endlich vorbei waren, begannen nahtlos die Zeiten, in denen ich mit Karin verreiste. Und jetzt würde ich zum ersten Mal alleine fahren. Ich trat wieder hinaus auf die Straße, kam mir unfassbar entscheidungsfreudig und männlich vor, und schob das übrig gebliebene Ticket in die Innentasche meiner Jacke.

      Offenbar hatte der Regen in den letzten Minuten nachgelassen. Der „eklige“ Wind war ebenfalls fort. Am Horizont meinte ich, einen blauen Streifen zu sehen, der sich langsam aber sicher gegen die Wolken durchzusetzen schien. Zufall? Natürlich. Aber ein Guter.

      Ich hatte als erwachsener Mann eine eigenständige Entscheidung gefällt, und schon besserte sich das Wetter! Das hätte ich schon viel früher tun sollen! Was war eigentlich die letzte Entscheidung gewesen, die ich nur für mich selbst getroffen hatte? Für mich allein? Ganz und gar für mich persönlich und ohne Rücksprache mit Karin, meiner vorgesetzten Kontrollinstanz?

      Guter Gott, ich konnte mich nicht erinnern! Der gute alte Robert war scheinbar im Laufe der Jahre durch Trott und Gewohnheit vollends in einer Art Chimäre aufgegangen. Wie in einem alten Film von Jack Arnold waren Karin und ich durch einen grausigen Zeitlupenunfall, der sich über einen dreißigjährigen Zeitraum erstreckt hatte, zu einem Monster verschmolzen, einem Mischwesen namens Die Kruses. Nach Karins Weggang war Robert nun verwässert und abgeschwächt, bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht, ohne Biss, ohne Kanten und Ecken und ohne eigene Persönlichkeit zurückgeblieben! Ich war eigentlich gar nicht mehr Robert! Ich war zu „Robbie“, zu einer der beiden Hälften von Die Kruses geworden, ohne es auch nur gemerkt zu haben! Zuerst war ich durch den täglichen Trott zu „Robbie“ umformatiert worden, und dann wurde ich schließlich in einer ätzenden Substanz namens Partnerschaft aufgelöst, umgerührt und in eine Form gegossen, aus der ich schließlich als ein halber Die Kruses hervorgegangen war.

      Und wann genau war das passiert?

      Scheinbar war es ein schleichender Prozess, der mich zu diesem rückgratlosen Etwas gemacht hatte. Und genau das war das Hinterhältige an der Geschichte. Es war kein Ereignis, es war ein Prozess. Langsam, unter meinem Radar und vollkommen unbemerkt, war ich von Robert, dem Mann mit Plänen und Träumen, zu „Robbie“ von Die Kruses geworden. Der Vergleich mit einem Unfall, der sich über dreißig Jahre hingezogen hatte, erschien mir treffender denn je. Genau so war es! Ich war zum nichtsahnenden Opfer einer Zeitlupen-Katastrophe geworden. Vom jungen und enthusiastischen Draufgänger früherer Zeiten zum farblosen, schlaffen Sonntagsbraten-Bausparvertrags-Einbauküchen-Doppelgaragendeppen von heute.

      Karin war immerhin noch genügend Karin, um für sich persönlich die Entscheidung zu treffen, mich zu verlassen. Nur ich schien irgendwie noch immer mehr Die Kruses zu sein, als ich Robert war.

      Genug war genug!

      Auch ich konnte Entscheidungen treffen, und die erste Entscheidung, die ich traf, war, alleine in die Karibik zu fahren. Gut so! Ich würde sozusagen als freier Geist, als Unabhängiger, als Strohwitwer auf Tour gehen. Warum auch nicht? Schließlich war es ja nicht ich, der das Haus verlassen hatte. Ich hatte nicht Zuflucht unter den Fittichen des Drachen gesucht, mich in eine andere Stadt abgesetzt, jeden Kontakt abgebrochen und meinen Partner allein zurückgelassen. Wenn ich tatsächlich ein Strohwitwer war, dann nur, weil sie mich dazu gemacht hatte!Konnte sie mir jetzt allen Ernstes einen Vorwurf daraus machen, wenn ich mich für ein paar Tage in die Karibik absetzte?

      Na, ja. Sie könnte es ja mal versuchen.

      Ja, vielleicht war es an der Zeit, mal an sich selbst zu denken! Ich war ja schließlich noch immer ein erwachsener Mann, verdammt noch mal! Schluss mit der ständigen Duckmäuserei! Schluss mit Karin hier, Karin da, Karin dort! Wenn Karin es geschafft hatte, sich aus der Die Kruses-Suppe herauszudestillieren, dann konnte ich das schließlich auch!

      Gleiches Recht für alle! Aus und vorbei mit dem Weg des geringsten Widerstands! Schnauze voll von Kompromiss und wachsartiger Nachgiebigkeit!

      „Robbie“ mein Arsch!

      Entschuldigen Sie bitte mein Vokabular: Ich beschloss in diesem Moment spontan, mir wieder Eier wachsen zu lassen.

      Drittes Kapitel

      - - - -

      „Selbstvertrauen gewinnt man dadurch, dass man genau das tut, wovor man Angst hat, und auf diese Weise eine Reihe von erfolgreichen Erfahrungen sammelt.“

      (Dale Carnegie)

      »Ich bin´s wieder. Kann ich noch ein Bier haben?«

      Das menschliche Inventar von Kalle's Zapfhahn musterte mich mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen. Kalle, der gerade dabei war, frisch gespülte Gläser mit einem ranzig-keimigen Küchenhandtuch erneut zu verschmieren, wunderte sich ebenfalls nicht schlecht über meine Rückkehr.

      »Ach! Der Meister Proper! Immer noch Durst, wa?«

      »Ja. Ich bin durstig. Kann ich diesmal bitte ein sauberes Glas haben? Eines, durch das man hindurchschauen kann? Danke.«

      Das Thekenmännchen schaute kurz zu seinem Fanclub, vergewisserte sich, dass ihn alle hören konnten und richtete sich dann wieder an mich.

      »Ich könnt ja noch flott nen neuen Krug aus Kristallglas blasen, wenn der Herr vielleicht so viel Zeit hätte...«

      Während sich die Stammbesetzung der Kneipe pflichtbewusst beömmelte, atmete ich tief durch, nahm all meinen Mut zusammen und wischte dann demonstrativ langsam über die Theke. Das Furnier der Platte gab ein schmieriges Quietschen von sich. Ich begutachtete die Krümel auf meiner Handfläche und schüttelte angewidert den Kopf. Dann lehnte ich mich vor.

      »Wissen Sie, das wäre ganz reizend. Danke.«

      Kalle schulterte sein Tuch und schaute mich fragend an. »Watt wäre reizend?«

      »Blasen Sie mir einen...«

      Seine Augen weiteten sich. Er beugte sich über den Tresen, bis seine Nasenspitze nur noch Zentimeter von meiner entfernt war. Dann zischte er: »Watt soll ich?«