Burkhard Simon

Der Kruse


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dachte, dass hätten Sie eben angeboten.«

      Die Mitglieder seines Fanclubs schauten jetzt angestrengt schweigend in ihre Gläser, während Kalle in aller Eile ein Bier zapfte und es vor mich hin stellte. Er beugte sich leicht nach vorn und senkte seine Stimme zu einem Flüstern.

      »Jetz sind et sechs Richtige, Freund. Trink watte häss, un dann aber ab die Post.«

      Ich hielt das Bierglas hoch und gegen das Licht. »Aus diesem Glas?«

      Er äffte mich nach. »Ja, aus diesem Glas, der feine Herr.«

      Ich stand auf und hoffte, dass niemand meine schlotternden Knie bemerken würde. Dann beugte ich mich vor und schüttete den Inhalt des Glases in den Ausguss hinter der Theke. Aus der Ecke mit dem leise vor sich hin dudelnden Geldspielautomaten meinte ich zu hören, wie jemand »Pass opp! Jetz hätt der Arsch gleich Kirmes«, sagte. Noch während Kalle sein Geschirrtuch weglegte und Luft holte, um mich anzublaffen, ergriff ich das Wort.

      »Das Glas ist eine verdammte Zumutung! Dieser Laden ist eine verdammte Zumutung! SIE sind eine verdammte Zumutung! Ich sollte das Glas mitnehmen, denke ich! Das Glas, die Krümel, den ganzen verdammten Siff!«

      »Watt willste? Gläser klauen, oder watt?« Kalle wurde merklich sauer. »Hol ich besser die Polente, oder watt?«

      »Nein, aber das Glas hier geht zur Polente! Oder besser zum Gesundheitsamt! Ich denke, die Jungs bringen es dann wieder mit, wenn sie Kalle's Kakerlakendorado besuchen und die Toiletten, die Kühltheken, die Zapfanlagen, die Oberflächen, Silikonfugen, die Haltbarkeitsdaten der Lebensmittel, die Aufenthaltsräume und die Füllstände der Seifenspender kontrollieren! Wie wäre es damit, Kalle?«

      »Äh... kontrollieren... Sind se jetzt so'n Typ vom Gesundheitsamt oder wie?«

      Immerhin siezte er mich jetzt. Auch ein Anfang. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sich nach den Worten Polente und Gesundheitsamt weite Teile der Stammkundschaft auf die Suche nach ihren Jacken machten und Dinge, wie „Mensch, ist das schon spät“ murmelten.

      »Hören Sie«, raunte Kalle, »Ich wusst ja nitt, datt et sooo dreckich war. Jetz müssen wir ja auch nitt gleisch so übertreiben. Kommense, isch mach Ihnen noch en Bier, jeht auf Haus. Wegen dem dreckigen Glas von eben. Einverstanden? Simmer dann quitt?«

      »Nein.«

      Er schluckte.

      »Ich habe die Schnauze gestrichen voll von Großmäulern wie Ihnen! Ich bin Gast in Ihrem Haus und ich erwarte für mein Geld eine vernünftige Behandlung und saubere Gläser! Ist das zu viel verlangt? Ich habe in meinem Leben zu viel erlebt, zu viel geleistet und mir vor allem viel zu oft auf die Zunge gebissen, als das ich es nötig hätte, mir von einem Kneipenwirt mit rudimentären Deutschkenntnissen Unverschämtheiten und platte Witzchen auf meine Kosten anzuhören! Das Schauspiel hat ein Nachspiel! Und jetzt mache ich, dass ich wegkomme, bevor ich mir in Ihrem Laden noch was hole!«

      Kalle war sichtlich überrascht, schwieg aber noch immer mit offenem Mund und verdutztem Blick.

      Ich war schon auf dem Weg zur Tür. Er rief mir hinterher: »Jetz kommense doch zurück! Mer könne doch über alles...«

      »Man sieht sich, Kalle!«

      Ich knallte die Tür hinter mir zu und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Das Schlottern in meinen Knien ließ langsam nach.

      Wundervoll! Das hatte wirklich gutgetan! Warum hatte ich so etwas eigentlich nicht längst schon mal gemacht? Warum war ich immer so nett? Die Frage ging mir erneut durch den Kopf. Typisch Kruse! Immer darauf bedacht, bloß nirgendwo anzuecken, immer schön auf Kuschelkurs, immer das gute Bild wahrend, immer hübsch angepasst und abwaschbar.

      Warum eigentlich? Was brachte diese ganze angepasste Weichspülertour eigentlich mir? Mir selbst? Was hatte ich davon, immer der nette Kerl zu sein? Oder anders gefragt: Wohin hatte mich dieser Kurs bitteschön auf lange Sicht gebracht?

      Ich war zu einem Kerl mutiert, der sich von ein paar Vollpfeifen in einer versifften Kneipe zum Gespött machen ließ, der all seinen Mut zusammennehmen musste, um dem Schwachkopf hinter der Theke zu sagen, dass sein Laden ein Schweinestall war, obwohl das ja wohl für ihn selbst kaum eine Neuigkeit darstellte.

      Ich war sauer auf mich selbst. Und auch auf Karin. Stinksauer. Sauer auf Karin, auf Kalle und seinen Pestgrill „Zum Schmierigen Löffel“, sauer auf mich selbst und auf die gesamte Situation.

      Aber da war noch mehr. Langsam begann ich, Gefallen an dem Gedanken zu finden, vielleicht einmal für eine Weile allein zu sein, und den guten alten Robert (also den Robert vor der Mutation zum Waschlappen) noch einmal auszuprobieren.

      Auf dem Weg zurück zu meinem Wagen fiel mir auf, dass ich einen anderen Gang hatte, als zuvor. Ich ging nicht, ich schritt regelrecht. Ich war erhobenen Hauptes auf dem Weg zum Parkplatz, ein Ticket in die Sonne in meiner Tasche, und irgendwie hatte ich den Eindruck, eine ganz andere Persönlichkeit auszustrahlen. Eine gefestigte, überzeugte und irgendwie stärkere Persönlichkeit, als noch am Morgen. Klar, es ist schon möglich, dass ich übertreibe, aber genau so fühlte es sich an. Ich war irgendwie... nun... ein richtiger Kerl.

      Und wenn Sie da Zweifel haben: Fragen Sie Kalle.

      Viertes Kapitel

      - - - -

      „Wenn du die Absicht hast, dich zu erneuern,

      tu es jeden Tag.“

       (Konfuzius)

      Zugegeben, ich habe während der nächsten Tage nur noch selten versucht, Karin bei ihrer Mutter zu erreichen.

      Erstens, weil ich keine Lust hatte, bei meinem Schwiegerdrachen zu Kreuze zu kriechen, nur um mit meiner eigenen Frau ein paar Worte wechseln zu dürfen und zweitens, weil ich immer stärker unter der Eindruck stand, dass Karin selbst auch mal hätte aus den Hufen kommen können. Immerhin war mittlerweile eine Menge Wasser den Rhein hinunter geflossen, und Funkstille ist nicht eben das probate Mittel, um Probleme zu lösen. Ich fand, ich hatte oft genug versucht, sie zu erreichen. Der Ball lag jetzt, wie man so schön sagt, in ihrem Feld. Spielen musste sie ihn schon selbst. Immerhin hatte ich einige Versuche gemacht, doch es war nicht Margots Anrufbeantworter, mit dem ich Dinge aufzuarbeiten hatte, sondern Margots Tochter.

      Ich bin nicht stolz darauf, aber ich verbrachte während der nächsten Tage viel Zeit damit, einfach nur vorhanden zu sein. Ich schlief bis in den späten Vormittag hinein, hing vor der Glotze wie ein nasser Sack und schaute mir Bundesliga-Spiele an (Fußball interessiert mich nicht die Bohne, aber zumindest war Bewegung im Spiel, und die Werbeunterbrechungen wurden in die Halbzeitpause verbannt). Ich verfolgte die verwirrend dämlichen Handlungsstränge amerikanischer Sitcoms und trank Bier.

      Viel Bier.

      Jetzt, da ich mir die ganze Geschichte zwecks ihrer Aufzeichnung noch einmal durch den Kopf gehen lasse, war das eigentlich eine verdammt gute Zeit.

      Als ich im Zuge meines Sportschau-Vorbereitungs-Rituals zum ersten mal die Füße auf die Armlehne der Couch legte, ohne mir vorher die Schuhe auszuziehen, erlebte ich ein mir völlig neues Phänomen. Plötzlich war mir, als würde sich ein Loch in der Realität auftun. Die Stille, die sich ausbreitete, war fast schon mit Händen zu spüren. Farben intensivierten sich, Geräusche wurden klarer und differenzierter. Es war, als hätte ich einen Raum innerhalb des Raumes betreten, in dem die allgegenwärtigen Gesetze der Physik keinerlei Geltung mehr hatten. Eine Parallelwelt. Eine alternative Realität, in der der Raum nicht nur gekrümmt, sondern regelrecht von innen nach außen gekehrt schien. Ein Parallaxenfehler im vierdimensionalen Raumzeit-Gefüge? Ich fragte mich, was wohl vorgefallen sein mochte. Ich nahm die Füße von der Couchlehne, und die Luft machte ein schnappendes Geräusch, als sie das Vakuum, das der fremde Raum zurückgelassen hatte, wieder schloss.

      Was war geschehen?

      Irgend etwas, dessen Eintreten ich zwingend vorausgesetzt hatte, war ausgeblieben. Dann fiel es mir ein: Karin war nicht da, um mir für meine unerhörte Missbilligung ihrer ehernen Regeln im Bezug auf