Agnes M. Holdborg

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4


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Vik­to­ria oft ge­be­ten, sich Vi­tus end­lich an­zu­ver­trau­en. Es ist nur zu ver­ständ­lich, dass die bei­den sich als Tee­n­a­ger in ei­ner sol­chen Si­tua­ti­on mit Zwei­feln, Ängs­ten und Sehn­süch­ten her­um­schla­gen muss­ten.«

      Schein­bar dach­te Ke­tu dar­über nach, wie er wei­ter­er­zäh­len soll­te. »Ich ken­ne Vi­tus seit über zehn Jah­ren und weiß da­her, wie sehr er un­ter der Tren­nung von sei­nen Kin­dern ge­lit­ten hat. Da­bei wuss­ten er und wir al­ler­dings über­haupt nicht …«, er schüt­tel­te leicht den Kopf, »… in keins­ter Wei­se, wie schlecht es auch den Zwil­lin­gen da­mit ging.«

      Sei­ne Au­gen än­der­ten den Aus­druck, wur­den weich und lie­be­voll. »Ein­zig Si­stra hat­te wohl so ei­ne lei­se Ah­nung. Er war da­mals der­je­ni­ge, der sei­nem Kö­nig am liebs­ten in den Hin­tern ge­tre­ten hät­te. Ja, Si­stra woll­te ihn bit­ten, Estras Hil­fe we­gen Ka­na in An­spruch zu neh­men, da­mit Vi­tus sich end­lich sei­nen Kin­dern zu­wen­den könn­te. Letzt­lich hat aber auch Si­stra kal­te Fü­ße ge­kriegt und sich – ge­nau wie wir al­le – nicht ge­traut. Ir­gend­wie konn­ten wir un­se­ren Kö­nig ja ver­ste­hen. Er sorg­te sich ein­fach zu sehr, um sich mehr um sei­ne Kin­der zu küm­mern. Das hört sich to­tal ver­rückt an, nicht wahr? Aber du weißt, dass es so war.«

      An­na hat­te Ke­tu auf­merk­sam zu­ge­hört und nick­te nun eif­rig. Ih­re Trä­nen wa­ren ab­rupt ver­siegt. »Du hast es ge­wusst? Du hast da­mals be­reits ge­wusst, dass Ka­na an al­lem schuld war?«

      »Ich bin ei­ner sei­ner sechs Wach­män­ner, An­na. Wir wis­sen – fast! – im­mer über al­le Din­ge Be­scheid, die Vi­tus tut und denkt. Aber da­mals kann­te ich Vik­to­ria noch nicht per­sön­lich. Ich bin ihr erst er­heb­lich spä­ter be­geg­net. Hät­te Vi­tus sei­ner­zeit je­doch ge­wusst, wie sehr die­se gan­zen wid­ri­gen Um­stän­de sei­nen Kin­dern zu schaf­fen mach­ten, dann hät­te er be­stimmt so man­ches Mal an­ders ge­han­delt, des­sen bin ich mir si­cher.«

      Er at­me­te kräf­tig durch. »Doch er hat es nicht ge­se­hen, ge­nau wie wir oder Estra und Isi­nis. Glaub mir, An­na, kei­ner von uns wuss­te da­von. Da­bei hat­te Vi­tus uns ge­be­ten, be­son­ders auf die Emo­ti­o­nen sei­ner Kin­der zu ach­ten. Die wa­ren al­ler­dings weit­aus bes­ser in ih­ren em­pa­thi­schen Fä­hig­kei­ten, als wir an­ge­nom­men hat­ten«, gab Ke­tu zer­knirscht zu.

      Nach wie vor hock­te er vor An­na und be­dach­te sie mit ei­nem war­men Blick. »Na ja, Vik­tor und Vik­to­ria ha­ben ja nicht ge­lit­ten wie die Hun­de. Ähm, sagt man das so: lei­den wie ein Hund? Ach, egal. Je­den­falls wä­re das reich­lich über­trie­ben, denn sie hat­ten es schließ­lich sehr gut bei Estra und Isi­nis. Aber die Tren­nung von Vi­tus hat ih­nen weh­ge­tan. Sie hat­ten das al­les völ­lig miss­ver­stan­den, was durch­aus nach­voll­zieh­bar ist. Sie fühl­ten sich halb, un­voll­stän­dig, ha­ben aus die­sem Grun­de ver­zwei­felt nach ih­ren feh­len­den Tei­len ge­sucht, was ja nun wirk­lich nichts Schlim­mes ist. Sie ha­ben al­so nur nach Lie­be ge­sucht. Even­tu­ell wa­ren man­che ent­täuscht, hat­ten sich wo­mög­lich mehr er­hofft, das mag sein. Aber bei­de, Vik­tor wie Vik­to­ria, wa­ren da­mals nicht zu fes­ten Bin­dun­gen fä­hig. Da­zu sind sie erst in der La­ge, seit sie uns ken­nen. – Schau mich bit­te an, An­na«, bat Ke­tu sie, da sie den Kopf hat­te sin­ken las­sen. »Sie brau­chen uns. Viel, viel mehr, als sie mei­nen. Ver­stehst du das?«

      An­na nick­te. Na­tür­lich ver­stand sie. Wenn es um Vik­tor und ih­re Lie­be zu ihm ging, wür­de sie im­mer ver­ste­hen.

      Sie sah in Ke­tus Au­gen. Zum ers­ten Mal ver­spür­te sie tie­fe Zu­nei­gung für ihn. Sie hat­te den Wach­mann von An­fang an ge­mocht, für sei­ne ru­hi­ge, be­son­ne­ne Art be­wun­dert. Jetzt emp­fand sie ur­plötz­lich Lie­be – wie für einen Bru­der und das war er ja auch in ge­wis­ser Hin­sicht für sie.

      »Dan­ke, dass du mir das al­les er­klärt hast, Ke­tu. Ich kann dir gar nicht sa­gen, wie viel mir das be­deu­tet.«

      »Das musst du nicht. Ich weiß es ja. Du liebst Vik­tor und ich lie­be sei­ne Zwil­lings­schwes­ter. Du und ich, wir sind des­halb mit­ein­an­der ver­bun­den.«

      Ke­tu er­hob sich. Trotz der un­zäh­li­gen ver­wor­re­nen Ge­dan­kenk­no­ten in ih­rem Kopf wun­der­te sich An­na dar­über, dass ihm die Knie von der lan­gen un­be­que­men Hocke­rei nicht weh­zu­tun schie­nen. Und trotz ih­res Zwie­spalts, Zwei­fels und Ke­tus vie­ler trös­ten­der Wor­te, die sich bei An­na erst noch den rich­ti­gen Platz in ih­ren Hirn­win­dun­gen su­chen muss­ten, ki­cher­te sie. Ihr war näm­lich et­was Be­stimm­tes ein­ge­fal­len, das Ke­tu zu­vor über Si­stra ge­sagt hat­te. In der ihm so ei­gen­tüm­li­chen Wei­se hob Ke­tu fra­gend sei­ne Brau­en.

      »Si­stra woll­te Vi­tus in den Hin­tern tre­ten?«, er­kun­dig­te sie sich un­gläu­big.

      Ke­tus Lä­cheln brei­te­te sich in sei­nem Ge­sicht aus wie ein war­mer Som­mer­wind. »Si­stra hat un­se­rem Kö­nig so ei­ni­ge Ma­le in den Hin­tern ge­tre­ten, An­na. Ge­ra­de die bei­den ha­ben sich sehr ge­liebt. Wir al­le sechs hal­ten ei­ne tie­fe, in­ni­ge Bin­dung zu un­se­rem Kö­nig, emp­fin­den gro­ße Zu­nei­gung für ihn und er für uns. Aber die­se bei­den hat­ten ei­ne ganz be­son­de­re Be­zie­hung zu­ein­an­der. Vi­tus leg­te größ­ten Wert auf Si­stras Mei­nung.«

      Trau­er um­flor­te sei­ne schö­nen Goldau­gen. »Du kannst dir gar nicht vor­stel­len, wie sehr wir ihn ver­mis­sen, je­den ver­damm­ten Tag.«

      »Nein, das kann ich wohl nicht, nicht so rich­tig je­den­falls. Ich kann dir nur sa­gen, dass ich dei­nen Bru­der klas­se fand und sehr ge­mocht ha­be. Si­stra war lus­tig, cle­ver und mu­tig. Er hat mich – ge­mein­sam mit dir, Vik­tor, Vi­tus und den an­de­ren – vor die­sem Mons­ter Zitt ge­ret­tet. Er hat Jens vor den Nu­urt­ma be­schützt. Au­ßer­dem konn­te er dich so herr­lich auf die Pal­me brin­gen. – Und er hat dich un­glaub­lich ge­liebt.« Schon wie­der kämpf­te sie mit den Trä­nen. »Er müss­te noch bei uns sein, Ke­tu. Er fehlt mir so sehr. Und das zeigt mir, um wie viel mehr er dir feh­len muss.«

      Nun war es doch ge­sche­hen. Aufs Neue kul­ler­ten ihr Trä­nen über die Wan­gen.

      »Komm her, klei­ne Fee.« Ke­tu hob sie be­hut­sam auf und setz­te sich mit ihr auf dem Schoß in den Ses­sel. »Jetzt wird nicht mehr ge­weint. Bis Vik­tor und Vik­to­ria sich mit Vi­tus aus­ge­spro­chen ha­ben, lehnst du dich ein­fach ein biss­chen an mich, machst die Au­gen zu und schläfst. Schließ­lich musst du mor­gen früh wie­der zur Schu­le.«

      Er zog sie ganz sanft zu sich her­an. An­na konn­te sich tat­säch­lich ein we­nig ent­span­nen. Wäh­rend sie lang­sam in dämm­ri­gen Schlaf sank, spür­te sie noch, wie er ih­ren Bru­der Jens men­tal kon­tak­tier­te. Sie emp­fand Ke­tus Für­sor­ge als so tröst­lich, dass sie sich en­ger bei ihm an­ku­schel­te, be­vor sie end­gül­tig ins Land der Träu­me glitt.

      ***

      »Wie­so wuss­te ich nichts da­von? Wie­so er­fah­re ich es erst heu­te und auf die­se Wei­se?« Wäh­rend Vi­tus sei­ne Toch­ter wei­ter­hin fest im Arm hielt, sah er Vik­tor an. Sei­ne Mie­ne war aber nicht miss­bil­li­gend, son­dern im­mer noch ge­prägt von Schmerz und Selbst­vor­wür­fen.

      »Pa­pa, das ist doch schon so lan­ge her. Bit­te, lass es gut sein.«

      »Gut sein? Ich soll es gut sein las­sen?« Vi­tus‘ Stim­me klang