Agnes M. Holdborg

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4


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einen Gast in mei­nem Hau­se zu be­her­ber­gen, der die­ses ein­zig­ar­ti­ge Pan­ora­ma nicht wirk­lich zu schät­zen weiß, sich statt­des­sen nach Sand, Sa­lz und Wel­len sehnt.« Estra war laut­los zu ihr ge­tre­ten und mus­ter­te sie nun freund­lich von der Sei­te.

      Wie sein äl­te­rer Bru­der war auch er ein be­ein­dru­cken­der Mann. Et­was grö­ßer als Vi­tus, sah er ihm in vie­ler­lei Hin­sicht ähn­lich. Nur sein Mund war ei­ne Spur vol­ler als der des Bru­ders und sei­ne Au­gen hat­ten die Fa­r­be sah­ni­ger Milch­scho­ko­la­de. An­sons­ten konn­te je­der­mann auf­grund Haa­r­fa­r­be, Kör­per­bau und nicht zu­letzt we­gen der Grüb­chen auf den Wan­gen so­fort er­ken­nen, dass es sich bei den bei­den El­fen­män­nern um Brü­der han­del­te. Estra al­ler­dings strahl­te ei­ne un­ge­heu­re Ru­he und Kraft aus, wäh­rend Vi­tus eher ei­ne Au­ra von Macht, Au­to­ri­tät und Tem­pe­ra­ment um­gab.

      An­na wuss­te, wie sehr sich die bei­den lieb­ten, hat­ten sie doch ih­re El­tern früh ver­lo­ren und da­nach nur noch sich ge­habt. Da­mals muss­te der ein Jahr äl­te­re Vi­tus schon als Neun­zehn­jäh­ri­ger den Thron über­neh­men, um sei­ne Pflicht als Kö­nig zu er­fül­len.

      Wie kam es ei­gent­lich, dass sie so vie­le El­fen kann­te, de­ren El­tern schon früh ge­stor­ben oder aber nicht gut zu ih­ren Kin­dern ge­we­sen wa­ren?, frag­te sich An­na. In solch ei­nem Au­gen­blick war sie stets dank­bar, ei­ne der­art wun­der­ba­re Fa­mi­lie zu ha­ben.

      Im letz­ten Jahr war ih­re Mut­ter schwer krank ge­we­sen, was An­na in Angst und Schre­cken ver­setzt hat­te. Gott sei Dank ging es The­resa nun wie­der gut.

      Estras Wor­te ris­sen sie aus ih­ren Ge­dan­ken. – Den Ge­dan­ken an die See, ih­re El­tern, an schlech­te Men­schen und El­fen und dar­an, dass die Zwil­lin­ge von Estra und Isi­nis groß­ge­zo­gen wor­den wa­ren, weil Vi­tus da­mals ge­gen ei­ne bö­se Be­dro­hung hat­te kämp­fen müs­sen. Sie er­rö­te­te, da Estra all die­se Ge­dan­ken pro­blem­los hat­te in ihr le­sen kön­nen.

      »Nein«, er­wi­der­te sie has­tig, »nein, die Ber­ge sind wun­der­schön, Estra. Wun­der­schön. Aber …«

      »Aber du hast den Groß­teil dei­ner Som­mer zu­sam­men mit dei­nen El­tern und Ge­schwis­tern ver­bracht, und das am Meer«, voll­en­de­te Estra ih­ren Satz. »Das hat ei­ne en­ge Bin­dung zu die­ser Ge­gend ge­schaf­fen. Du liebst dei­ne Fa­mi­lie und hast die Zeit, die du mit ihr dort ver­brin­gen durf­test, si­cher­lich ge­nos­sen. Dei­ne El­tern sind wun­der­vol­le Men­schen, An­na. Dich wird es im­mer dort­hin zie­hen, wo du solch un­be­schwer­te Som­mer­ta­ge mit ih­nen er­lebt hast. Das ver­ste­he ich.«

      Er grins­te ver­schmitzt. »Wä­ren The­resa und Jo­han­nes je­doch von An­fang an nicht ans schnö­de Meer mit euch ge­reist, son­dern in die wirk­lich und ein­zig schö­ne Berg­welt, dann, ja dann wür­dest du jetzt kei­nen Deut auf die läp­pi­sche Nord­see ge­ben.«

      An­na lach­te. Estra war ein be­mer­kens­wert warm­her­zi­ger Mann. Sie konn­te sich gut vor­stel­len, wie sich Isi­nis und er dar­um be­müht hat­ten, Vik­tor und Vik­to­ria ei­ne eben­so un­be­schwer­te Kind­heit zu be­rei­ten wie den drei leib­li­chen Kin­dern.

      »Wie das wohl ge­we­sen sein mag, plötz­lich zwei Kin­der zu ha­ben? Von jetzt auf gleich. Sie wa­ren noch so jung und hat­ten zu der Zeit ih­re ei­ge­nen Kin­der noch nicht.«

      »Es war schwer, An­na. Furcht­bar schwer«, seufz­te Estra. Un­ter­des­sen bot er ihr einen der be­que­men Ses­sel an.

      Kaum hat­te sie Platz ge­nom­men, brach­te ei­ner der Be­diens­te­ten Ap­fel­saft zur Er­fri­schung. An­na hob den Kopf, um dem jun­gen El­fen zu dan­ken. Doch der wirk­te schüch­tern und senk­te de­mü­tig den Blick. Mit dem kur­z­en üb­li­chen Kopf­ni­cken Estra ge­gen­über und den Wor­ten »Mein Herr« ver­ließ er lei­se den Raum.

      An­na wür­de sich wohl nie­mals dar­an ge­wöh­nen, je­den Hand­griff von Frem­den er­le­digt zu be­kom­men. Das war ihr un­an­ge­nehm. Sie schob den Ge­dan­ken bei­sei­te und wand­te sich wie­der Estra zu, der sei­nen Die­ner mit ei­nem knap­pen »Dan­ke, Ha­mo« be­dacht, ihm an­sons­ten kei­ne wei­te­re Be­ach­tung ge­schenkt hat­te.

      »Ver­steh mich bit­te nicht falsch«, setz­te er un­be­irrt fort. »Wir hat­ten na­tür­lich kein Pro­blem da­mit, die bei­den zu uns zu neh­men. Nein, wir ha­ben Vik­tor und Vik­to­ria von der ers­ten Se­kun­de an ge­liebt.« Mit trau­ri­gem Ge­sichts­aus­druck rieb er sich das Kinn. »Es wa­ren nur so furcht­ba­re Um­stän­de. Du hast Ka­na ja im letz­ten Jahr er­lebt, sie und ih­ren Hass, ih­re Hab­gier und Rach­lust. Da­durch hat sie Vi­tus‘ Le­ben zer­stört und das un­se­rer El­tern be­en­det. Da­nach sta­rb zu­dem Ve­ro­ni­ka di­rekt nach der Ge­burt der Zwil­lin­ge.«

      Nun wirk­te er nach­denk­lich. »Heu­te glau­be ich, dass Ka­na auch mit Ve­ro­ni­kas Tod et­was zu tun hat­te. Sie hät­te die Macht da­zu be­ses­sen. Schließ­lich hat sie ja auch dir und dei­ner Mut­ter mit ih­ren üb­len Ge­dan­ken und Träu­men zu scha­den ver­sucht. Na ja, das wer­den wir wohl nie mehr er­fah­ren, nicht wahr?«

      Er­neut strich Estra mit der Hand über sein Kinn. »Es war je­den­falls ei­ne schreck­li­che Zeit. Zu al­le­dem woll­te Ka­na so­gar Vik­to­ria und Vik­tor tö­ten. Aus sei­ner Sicht hat­te Vi­tus da­mals kei­ne an­de­re Wahl. Er muss­te die Ba­bys uns über­las­sen. Bei uns wa­ren sie ge­schützt. Da­für hat­te er ge­sorgt.« Den Kopf schüt­telnd fuhr er fort: »Es läuft mir im­mer noch eis­kalt den Rü­cken run­ter, wenn ich dar­über nach­den­ke, dass mein Bru­der über acht­zehn Jah­re lang mit die­ser Be­dro­hung ge­lebt und sei­ne Sor­gen nicht mit mir ge­teilt hat. Er war der­art tief mit der Trau­er um Ve­ro­ni­ka er­füllt, noch da­zu um die Si­cher­heit sei­ner Kin­der und un­se­re be­sorgt, dass er sich die­se Last ganz al­lein auf­ge­bür­det hat. Die Zwil­lin­ge hat er nur sel­ten be­sucht, aus Furcht, er könn­te Ka­na da­mit einen Weg zu ih­nen of­fen­ba­ren.« Estra seufz­te noch ein­mal schwer. »Mei­ne Gü­te, was war das für ei­ne trau­ri­ge Zeit.«

      An­na hat­te ihm still zu­ge­hört. Si­cher, sie kann­te die Ge­schich­te über die Kö­ni­gin des süd­li­chen El­fen­lan­des. Vi­tus hat­te sie ihr er­zählt.

      … Die Ge­schich­te von der da­mals drei­zehn Jah­re al­ten Prin­zes­sin Ka­na, wel­cher der sei­ner­zeit erst vier­zehn­jäh­ri­ge El­fen­prinz Vi­tus, ge­blen­det von ih­rer Schön­heit, die Ehe ver­spro­chen hat­te. Die­ses Ver­spre­chen lös­te er spä­ter al­ler­dings, weil er sich mit ei­nem Mal Ka­nas un­glaub­li­cher In­tri­gen be­wusst wur­de. Trotz­dem be­stand sie be­harr­lich auf das Ehe­ver­spre­chen. Des­we­gen war sie au­ßer sich, als Vi­tus sich in Ve­ro­ni­ka ver­lieb­te und die­se so­gar von ihm schwan­ger wur­de.

      An­na wuss­te, dass Ka­na, von Ra­che ge­trie­ben, die grau­sa­men Mäch­te, die Nu­urt­ma, auf Vi­tus hetz­te und dass da­bei Vi­tus‘ und Estras El­tern im töd­li­chen Kampf ih­re Le­ben ver­lo­ren. Dann sta­rb oben­drein Ve­ro­ni­ka. Den­noch gab Ka­na sich mit die­sem ver­meint­li­chen Sieg noch lan­ge nicht zu­frie­den. Ih­re Rach­gier war mit­nich­ten ge­stillt.

      Erst im ver­gan­ge­nen Jahr wur­de sie ge­mein­sam mit ih­rem Ge­lieb­ten, dem El­fen­zau­be­rer Kaoul, zur Stre­cke ge­bracht. Erst nach so lan­ger Zeit fand der Schre­cken end­lich ein En­de. …

      An­na