Ha-Jo Gorny

Quallen, Bimm und Alemannia


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Über dem Handgerät schwebte ein von vier Lichtern erzeugter dreidimensionaler Hirschkäfer, der sich langsam drehte.

      „Ui, genau die.“

      „Das ist ein Hirschkäfer, mein Lieblingskäfer“ erklärte er ihr.

      Sollte er ihr auch noch sagen, dass die fetten Maden die sie gerade verspeiste, die Kinder des Hirschkäfers waren? Lieber nicht.

      „Wir bringen euch jeden Tag so leckere Sachen und du futterst das unmöglichste Zeug“ sagte er kopfschüttelnd. „Weshalb machst du das?“

      Sie bewunderte immer noch den dreidimensionalen überdimensionierten Hirschkäfer. Diese Geräte kannten alle Sklaven, aber dass da auch Käfer herauskamen war neu. Halmschor sagte „Aus“ und weg war der Käfer. Bimm erwachte und überlegte was sie gehört hatte.

      „Von euren Sachen wird mir schlecht und schwindlig“ antwortete sie dann. „Und ich glaube, dass das Zeug das wir auf den Feldern ernten, das richtige Essen ist. Nur wollt ihr es für euch.“

      „Das stimmt nicht“ log er nun mit voller Absicht, „wir essen zuhause das gleiche, die Sachen vom Feld werden zu einem Brei vermischt.“

      „Und wie es bei euch zuhause zugeht, erzählt ihr auch nicht. Mahlzeit“.

      Es wurde Herbst und kühler und es wurde kühler als die Jahre zuvor und es regnete tagelang. Die Sklaven zogen freiwillig ihre dicken Mäntel und gefütterten Regenschuhe an. Ganz besonders fror Bimm, die im Verhältnis zu den Anderen nur Haut und Knochen war, weil sie durch ihre Rennerei jegliche Fettbildung verhinderte. Dolora schenkte ihr einen ihrer alten Overalls und schärfte Bimm ein, ihn nur als Unterwäsche zu tragen, damit ihn niemand zu Gesicht bekam. Sonst würden die Anderen auch einen haben wollen und fremde Arbeiter würden sie für Personal halten. Dr. Albritz schenkte ihr noch eine uralte farblose Wintermütze mit Ohrenklappen, die Bimm nicht mehr absetzte. Diese Wintermütze, die es in dieser Art bestimmt schon in der Steinzeit gegeben hatte, entlockte den Sklaven im hinteren Dorf noch nie gezeigte Neugier. Jeder wollte das Teil berühren und Albritz, Halmschor und Dolora wurde es unwohl. Es war aber nicht zu erkennen ob die Sklaven sich für Bimm freuten, oder ob sie neidisch waren, habgierig oder ganz einfach von dieser ungewohnten Neuerung irritiert. Mit diesem Geschenkt war der Chef eindeutig einen Schritt zu weit gegangen.

      Nach dem sich Bimm einige Tage nicht hatte blicken lassen, kam einer ihrer Brüder auf den Bus zugerollt. Hal sah es zufällig von der Lebensmittelhalle aus. Schon nach einer Minute schnaufte der hundert Kilo schwere Junge mit dem Chef im Schlepptau davon. Schon nach weiteren fünf Minuten kam Dr. Albritz zurück, kramte in seinem Sprechzimmer herum und verließ den Bus wieder schnellen Schrittes mit seinem Arztkoffer. Hausbesuche machen musste er täglich, unter tausenden Übergewichtigen gab es immer welche die krank auf ihrer Matratze lagen. Doch auch an den folgenden Tagen war von Bimm nichts zu sehen. Hal erkundigte sich beiläufig ob die dürre, Schwarzhaarige eine Erkältung habe. „Pilzvergiftung“ war Albritz‘ Antwort. Bimm hätte begonnen die Essbarkeit sämtlicher Pilzarten zu testen derer sie habhaft werden konnte. Da konnte durchaus schon mal ein weniger genießbarer darunter sein, meinte der Chef lakonisch. Aber sie hätte sich erholt und streife schon wieder durch die Wälder.

      Das Lagerfeuer brannte nun die ganze Zeit, aber den drei tausend Einwohnern zum Trotz immer nur das Eine. Um das Feuer drängten sich oft dutzende Sklaven oder sie schoben sich, wie um etwas abzuholen, daran vorbei. Halmschor war auch endlich dahinter gekommen, wie sie das Feuer immer wieder entfachten. Des Rätsels Lösung war: Das Feuer ging nie aus. Unter der Feuerstelle befand sich ein Loch, in dem es tagelang sachte und rauchlos vor sich hin glühte. Die Sklaven mussten nur dürre Stängel und Zweige auf das Loch werfen und schon kurz darauf prasselte wieder ein lustiges Feuerchen. Vielleicht wurde das Loch auch heimlich mit altem Buchenholz gefüttert. Blieb die Frage wer ihnen die erste Flamme gestiftet hat, doch die konnte von den Quallen keiner beantworten. Und man musste es ihnen sogar glauben, denn sie waren arglos und ohne Misstrauen, gelogen wurde bei ihnen nur unbewusst, mangels Besitz kannten sie auch keinen Sozialneid. Deshalb hielt Hal Bimms Mütze für gefährlich.

      Halmschor hatte einen Spezialauftrag bekommen, der ihn für Tage vom Dorf fernhielt. Jeden Winter wurden, sobald der Wald kahl war, die Äste die der Mauer zu nahe oder sogar auf ihr zu liegen kamen, abgeschnitten. Die Mannschaften der Dörfer waren jeweils für ein Drittel der Umfassungsmauer zuständig. Die Arbeit war nicht schwer, doch musste man gut zu Fuß sein. Mit einem kleinen, stämmigen Arbeiter der das schon oft gemacht hatte und der den Rucksack mit Essen und Trinken trug, marschierte Halmschor mit dem Schneidegerät auf der Schulter erstmals auf die Mauer zu. Er nicht damit gerechnet, dass es an der Mauer entlang dermaßen unwegsam und unübersichtlich sein würde. Oft war es felsig, die Erde rutschig, das Unterholz dicht und überall lagen die abgeschnittenen Äste der letzten Jahre herum.

      Im Anblick des ersten Astes der störte, erklärte der erfahrene Arbeiter der Bulster hieß, Halmschor das moderne Gerät. Die größte Schwierigkeit bestand darin einen einigermaßen planen Untergrund zu finden, für das Gebirge schien der Baumabschneider nicht ersonnen zu sein. Das kugelige Gerät war auf drei Beine geschweißt. Um es aufstellen zu können waren die Zwei gezwungen Steine und Äste wegzuräumen. Stand es einigermaßen gerade, nivellierten die Beine das Gerät selbständig in die erforderliche Balance. Buster zog danach ein Röhrchen aus der Kugel, drehte es an und mit dem Lichtstrahl markierte er durch hin-und herfahren die Stelle am Ast die durchtrennt werden sollte. Das hatte sich das Gerät gemerkt und es wurde ernst. Bulster sah sich um, klopfte drei Mal sachte auf die Kugel und aus dem Röhrchen kam ein scharfer Strahl der den Ast abtrennte. Krachende knallte er auf die Mauer und dann auf den Boden.

      Wenn in diesen Sekunden ein Vogel durch den Strahl geflogen wäre, hätte er Gliedmaßen oder sein Leben lassen müssen. Auch einen Mensch der in den Strahl kam, würde er schwer verletzen oder etwas Abtrennen. So effektiv das Gerät war, durfte es nur von ausgesuchten Leuten bedient werden, denn immerhin war es auch als Waffe zu missbrauchen. So wanderten Hal und Bulster Kilometer um Kilometer an der Mauer entlang. Das Unterholz in Nähe zur Mauer legte Bulster mit einem Horizontalschnitt ebenerdig um, was verboten war. Nicht immer sah man was sich im Hintergrund befand, aber so kamen sie schneller vorwärts. Manchmal war hunderte Meter weit nichts zu tun, dann ging es wieder Schlag auf Schlag und jedes Mal musste wegen jedem Ast das Dreibein in Stellung gebracht werden. Eine Stunde vor Feierabend marschierten sie die zwei bis drei Kilometer zum Dorf zurück.

      Am zweiten Tag passierten sie uralte verwilderte Gärten. Die Obstbäume waren überaltert und am Zusammenbrechen. Bulster und Halmschor blieben wie versteinert stehen, auf einem Baumstamm saß Bimm vor einem Eimer und schien irgendwas Braunes zu putzen. Ohne aufzuschauen fragte sie: „Wollt ihr was Saftiges?“ Die Beiden Arbeiter gingen zu ihr hinüber und späten in den Eimer, der aber keine Maden enthielt sondern braune Früchte. Hinter Bimm rankten sich Kiwis durch einen ausladenden, umgestürzten Obstbaum. Sie war gerade am Schälen. Bulster kannte die Früchte gar nicht und Hal nur vom Hörensagen, beide waren aber angenehm überrascht, was es so alles in einem Wald zu essen gab. Der Satz „Die bring ich jetzt zum Chef und zu Dolora“ war ihre Verabschiedung.

      Eine halbe Stunde später ging es steil abwärts und die Arbeiter erreichten das Obere Tor, das nur in Notfällen benutzt wurde. Dort erwartete sie Sturmbruch, was sie zum Schwitzen brachte und für den Rest des Tages aufhielt. So eine Sklavenarbeit, fluchten die beiden. Erst nach einer Woche, bei der sie mehrmals Bimm im Wald herumstreifen sahen, war die Arbeit endlich erledigt. Hal und Bulster, die sich in der gemeinsam verbrachten Zeit viel erzählt hatten, verabschiedeten sich wie zwei Kriegsveteranen mit Umarmung. Hal wusste nun von Bulster, der höchstens 1,40 Meter groß war, dass er in führender Position im „Verband der kleinen Leute“ agierte. Dieser Verband der sich überall einmischte und mitmischen wollte, war der unerschrockene Widerpart des Syndikats. Vor allem beschuldigte der Verband das Syndikat, für die schlechte Ernährung der Bevölkerung verantwortlich zu sein, denn aufgrund der einseitigen Ernährung wurden die Menschen seit Generationen immer kleiner.

      Daran musste Halmschor denken, als er in das Dorf hineinmarschiert und Bimm erblickte, die eifrig an roten Rüben und etwas Grünem herumknabberte. Sie schien immer noch zu wachsen, eigentlich ernährte sie sich am abwechslungsreichsten