Ha-Jo Gorny

Quallen, Bimm und Alemannia


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aufgetan hatte, ließ sie außer Dolora auch Hal, der ihrer Mutter so ähnlich sah und den Chef probieren. Auch mitten im Winter, was man im 25. Jahrhundert so als Winter bezeichnete, fand sie in der Erde Essbares.

      Albritz, Dolora und Halmschor, die immer zusammen arbeiteten, hatten Sonntagsdienst und sich Kuchen mitgebracht. Als sie ihn gerade heimlich im Bus verzehrten, ertönte von draußen eine klare und vergnügte Stimme. „Ich habe euch das Leckerste was der Wald zu bieten hat mitgebracht“. Bimm stand mit einer Schale vor dem Bus und schaute erwartungsvoll zu den Fenstern hoch.

      „Ihr deutsch wird immer besser“ bemerkte Dolora, „kein einziger hier weiß sich so gut auszudrücken.“

      „Kein Wunder wenn sie dauernd mit dir quatscht“ entgegnete Hal. Seine Liebe zu Dolora war Witterungsbedingt etwas abgekühlt, weil sie sich in der Abstellkammer den Unterlaib verkühlt hatte.

      „Ich gehe mal raus und begutachte was sie uns anzubieten hat“ sagte der Chef und verließ den Bus. Gleich darauf rief er: „Kommt raus ihr zwei Zuckermäulchen und schaut was es hier gibt.“ Unwillig ließen Dolora und Hal ihren Kuchen stehen und begaben sich zur Tür.

      „Seht mal“ empfing sie der Chef und hielt ihnen die Schale entgegen, in dem sich irgendein weißes Zeug mit braunen Flecken befand.

      „Engerlinge, absolut gesundes und natürliches Eiweiß. Deshalb wächst unser Mädchen so gut“, strahlte Dr. Albritz.

      Der Chef sollte mal besser aufpassen was er so vor Bimm alles erzählt, dachte sich Hal. Er fand ihn absolut unvorsichtig, wo sie sich doch jedes Wort merkte und auch noch ihre Schlüsse daraus zog. Wieder im Bus meinte der Alte:

      „Das Mädchen ist wie aus einer anderen Zeit“. Er schmunzelte. „Sie ist eigentlich der einzige Mensch den ich kenne der sich gesund ernährt. Sie ist wie die Jäger und Sammler aus der Steinzeit. Wissen sie was ich meine?“ fragte er in Richtung Dolora und Hal. Dolora blickte verständnislos drein, doch Halmschor sagte:

      „Ich weiß was sie meinen und ich leide auch schon lange darunter.“

      „In wie weit leiden sie?“ flüsterte Albritz.

      „Ich habe Minderwertigkeitskomplexe“ flüsterte Halmschor zurück.

      Der Arzt räusperte sich. „Dann würde ich mich an ihrer Stelle dem Programm anvertrauen, bevor es zum Trauma wird.“

      Die Menschen in Europa und vermutlich auf der ganzen Welt, litten unter dem was aus ihnen geworden war. Es war allgemein bekannt, dass sich die Menschen zurückentwickelten. Es war ihnen nicht nur bewusst, dass der Homo sapiens vom Wuchs her immer kleiner wurde, auch was sein Hirn betraf baute er immer mehr ab. Laut Wissenschaft hatten die wahren Menschen in der Steinzeit gelebt, niemals danach war der Mensch gesünder und sein Hirn größer und mehr gefordert gewesen, als bei seinem Überlebenskampf in der Wildnis. Der moderne Mensch dagegen besorgt sich alles was er benötigt im Supermarkt und seine Tätigkeiten werden von denkenden Maschinen bestimmt.

      Die Jäger und Sammler früherer Zeiten, so die Überzeugung der Wissenschaftler, waren noch richtige und natürliche Menschen, die mit körperlichem Geschick und geistiger Raffinesse sich und ihre Kinder selbst versorgen konnten. Ihre Nahrungspalette bestand aus vielerlei Beeren, Wurzeln, Früchten, Pilzen, Sämereien, Kräutern und Blättern. Diverse Vogeleier, Würmer, Insekten, Maden, Schnecken, Muscheln und Fische, konnten genauso satt machen wie ein saftiger Braten, wenn das Jagdglück hold war. Wobei auch kleine Tiere nicht verschmäht wurden und besonders die vitaminreichen Innereien beliebt waren.

      Und diese Leute waren handwerklich sehr Fit, sie konnten ihre Kleidung, Werkzeuge und Geräte selber herstellen. Sie konnten planen, das Wild überlisten und wussten, wie sie ohne Hungersnot über den Winter kamen. So abwechslungsreich wie damals hat sich die Menschheit seither nicht mehr ernährt und so geistig gefordert um überleben zu können, wurden die Menschen seither auch nicht mehr. Deshalb waren die Menschen der Steinzeit viel größer, gesünder und vermutlich auch seelisch intakter gewesen.

      Und die meisten modernen Menschen wussten das, weil es oft genug in den Medien erwähnt wurde, und sie kamen sich minderwertig vor. Dass sie immer kleiner wurden und ihr Gehirn immer mickriger, sprach eine deutliche Sprache. Von Menschen die das taten wofür sie geschaffen wurden, waren sie Epochen entfernt. Sehr gravierend war zudem die nachlassende Gebär-und Zeugungsfähigkeit. Während frühere Menschen wie die Karnickel Nachwuchs produzierten, ging im 25. Jahrhundert ohne künstliche Hilfe fast gar nichts.

      Halmschor Drohsdal und seine Zeitgenossen hatten immer genug zu essen, von allem gab es reichlich. In den Geschäften wartete eine unübersichtlich große Zahl an Fertiggerichten, die jeder zuhause in seinem Lichtschrank in Sekundenschnelle zu einer schmackhaften Mahlzeit erwärmen konnte. Aber es waren alles industriell hergestellte Mahlzeiten, die aus den immer gleichen Rohstoffen bestanden und mit Hilfe von Geschmacksstoffen zu ständig neuen Gerichten komponiert wurden. Dazu gemischt wurden die gesetzlich vorgeschriebenen Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, damit es der Bevölkerung an nichts mangelte.

      An frischem Obst und Gemüse war die Auswahl wesentlich reduzierter, denn es fehlte die Nachfrage. Die meisten Bürger waren nicht nur zu bequem zum Kochen, die modernen Küchen verzichteten sogar auf eine Kochstelle und verfügten nur noch über einen Lichtschrank, in dem auch das Teewasser erhitzt wurde. Deshalb lag in den Geschäften nur sehr wenig Gemüse, und auch wenig Obst. Ein Apfel war ein Apfel, eine Birne eine Birne, eine Kartoffel eine Kartoffel und an Nüssen gab es Walnüsse, weil die in Alemannia wild wuchsen. Dass es einmal von allem hunderte von Sorten gegeben hatte, konnte sich niemand mehr vorstellen. Nur wenige Menschen machten sich die Mühe mit einem eigenen Garten. Bimm war im Herbst mit ihrem Krug voller Walnüsse, Haselnüsse, Eicheln und Bucheckern zu Dolora spaziert und hatte sie gefragt, weshalb die von niemandem gegessen werden. Das mache zu viel Arbeit, war ihre Antwort. Und da lag der Hund begraben. Mit dem womit die Industrie die Regale füllte, waren aus Bequemlichkeit die meisten zufrieden. Trotz üppiger, sattmachender Versorgung fehlte es an gesunder Vielfalt und das machte sich zunehmend durch mangelnde Körpergröße bemerkbar.

      Gegen frühere Zeiten wurden die Menschen im Alltag weder körperlich noch geistig stark beansprucht. Jeder hatte seinen Datenverarbeiter der die Steuererklärung machte, fehlende Vorräte meldete, an Termine erinnerte und die Vorlieben seines Besitzers bediente. Es war ein Gerät das jede Frage beantwortete und für alle Bewohner im Haushalt dachte. Zudem ließen sich die Leute von ihrem DV zu allen materiellen und menschlichen Belangen des Alltags beraten, was sogar so weit ging, dass man ihn konsultierte, wie man mit seinen Nachbarn und Kollegen umgehen sollte.

      Niemand brauchte seine Böden zu wischen, das machte ein billiges Gerät viel besser, so wie es für alles billige Putzgeräte gab. Niemand brauchte sich um sein Auto zu kümmern, das machte das selber und fuhr selbständig in die Werkstatt und Waschanlage und niemand brauchte sich mehr Programme ausdenken, das machten die Programme selber viel fehlerfreier. Selbst das Beziehen der Betten konnte vom Bett selber bewerkstelligt werden und wer es wollte, konnte jeden Tag auf einem frischen Laken schlafen, während unter der Matratze die andere Hälfte gereinigt wurde.

      An jedem Arbeitsplatz stand ein DV der den Arbeitnehmern sagte was sie zu tun hatten, wer unterwegs war machte es nicht ohne Handgerät, denn sonst war er aufgeschmissen und selbst Politiker befragten ihre Geräte wie sie regieren sollten. Die einzigen die vermutlich kreativ nachdachten, waren die sieben vom Syndikat, denn wenn es um die Manipulation der Bevölkerung und um Habgier ging, waren die Datenverarbeiter der Fantasie der Menschen noch unterlegen. Auf jeden Fall wurde den Menschen Tag ein Tag aus von Geräten und Maschinen gesagt was sie wie, wann und wo zu tun hatten und Halmschor verzweifelte darüber.

      Und seit er Bimm beobachtete, fühlte er sich erst recht als degenerierter Homo sapiens. Fast täglich zeigte sie ihm, dass er nicht einmal mehr der Schatten eines Menschen war, wie ihn die Natur einmal hervorgebracht hatte. Körperlich geschrumpft, geistig geschrumpft und nur noch Befehlsempfänger der Datenverarbeiter. Hal konnte nicht verleugnen, dass er deshalb psychische Probleme bekam und immer trübsinniger wurde. Weil es mit dem zweiten Kind nicht geklappte und sich seine Frau stattdessen für eine zweite Haut entschieden hatte, übermannte ihn die Trostlosigkeit des Daseins, da