Dieter Landgraf

Die Tote unter dem Schlehendorn


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geht mit einem Male schneller und in ihr steigt ein Gefühl auf, welches sie schon nicht mehr zu erleben glaubte. Es ist eine Mischung von jugendlicher Verliebtheit und fraulicher Erfahrung und Besonnenheit. In ihren jungen Jahren wäre sie spontan auf den Anlegesteg gelaufen und hätte ihn sicher - rein zufällig natürlich - angesprochen. Doch sie kann ihre Gefühle in Zaum halten. So schnell, wie ihr der Gedanke kommt, genau so schnell verwirft sie ihn wieder. Ich bin doch nicht verrückt geworden, denkt sie - obwohl sie genau weiß, dass ihr schon immer jüngere Männer gefallen haben. Ihre Gedanken sind leicht verwirrt. Die Begegnung ist so überraschend gekommen, dass sie plötzlich keine Lust mehr verspürt, ihr ursprüngliches Vorhaben umzusetzen. Der Appetit auf Pfefferminzeis ist ihr mit einem Male vergangen. Innerlich aufgewühlt entfernt sie sich schnellen Schrittes vom Hafen. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie töricht ihre Gedanken sind. Wie kann ich nur das Wort Wiedersehen in Betracht ziehen - überlegt sie. Er kennt mich doch überhaupt nicht. Wegen ihrer Unschlüssigkeit ist sie trotzdem unzufrieden mit sich selbst. Ihr fällt es schwer, das soeben Erlebte vernünftig einzuordnen. Aber die Gefühle kann sie nicht verleugnen: Cornelia Nicolai hat sich in einen Mann verliebt, den sie vor sieben Jahren zum ersten Mal gesehen hat. Richtig bewusst werden ihr ihre Empfindungen erst, als sie in den folgenden Tagen vorsichtig beginnt, sich nach ihm zu erkundigen. In der Brennerei Schlehenfeuer arbeitet eine ältere Sekretärin, die Land und Leute ausgiebig kennt. So ist sie in Kürze umfassend über Tim Sander informiert. Zu ihrem Leidwesen erfährt sie auch über seine wechselnden Frauenbekanntschaften. In der Marina ist er als Produktmanager eingestellt. Keiner weiß so recht, was damit gemeint ist und es wird wohl ewig ein Geheimnis des Geschäftsführers bleiben, der vor einigen Jahren diese Bezeichnung eingeführt hat. Die Arbeit von Tim Sander ist vielfältig. So weist er die Kunden in die Führung der von ihnen gemieteten Yachten ein und hilft so manches Mal auch in der Werkstatt aus. Wenn Not am Mann ist, übernimmt er die Kasse und steht als Bedienung für das Restaurant und das Cafe am Hafen zur Verfügung. Auch die Begleitung des Geschäftsführers und die Teilnahme an wichtigen Beratungen gehört zu seinen Aufgaben. Böse Zungen bezeichnen ihn als „Mädchen für alles“. Das freie Leben in seinem Job sagt Tim Sander zu. Deshalb nimmt er auch gern die Überstunden im Verlauf der Sommersaison in Kauf. Nichts ist ihm mehr zuwider, als eine Schreibtischarbeit mit geregelten Zeitabläufen. Die Kunden und vor allem die Kundinnen üben auf ihn so etwas wie einen magischen Reiz aus. Gerne würde er zu dieser Klientel dazu gehören. Aber mit einem abgebrochenen Studium und dem fehlenden Berufsabschluss sehen seine Aussichten dazu eher düster aus. Er selbst besitzt ein kleines Kajütboot. Sein attraktive Aussehen und die gepflegten Umgangsformen verfehlen nicht ihre Wirkung vor allem auf das andere Geschlecht. Öfter sind bei ihm junge Mädchen an Bord, die er niemals lange zu einer Bootsfahrt überreden muss. Viel wichtiger für Cornelia Nicolai ist die Information, dass er noch Junggeselle ist und allein lebt. Ihr ist zu gut bekannt, dass verheiratete Männer meist nur eine amüsante Affäre anstreben. Eine solche Geschichte möchte sie auf alle Fälle vermeiden. Wenn es schon eine Beziehung sein soll, dann muss es eine ernsthafte Verbindung sein. Ihre Gedanken an Tim Sander werden jäh unterbrochen. Ihr Nachbar klopft leise an die Scheibe des Autos. Schnell kurbelt sie das Fenster herunter und fragt: „Was gibt es denn?“

      „Ich wollte mich nur erkundigen, ob ihr Motor heute nicht anspringen will … sie sitzen schon einige Minuten in ihrem Wagen und fahren nicht los … kann ich ihnen behilflich sein?“, antwortet der freundliche ältere Herr.

      „Nein, nein … es ist alles in Ordnung … danke für die Nachfrage“, und betätigt den Zündschlüssel. Es folgt ein kurzer Blick in den Rückspiegel und ihr kleiner Peugeot setzt sich in Bewegung. Die Gedanken an Tim Sander lassen sie auch beim Fahren nicht los. Einerseits wünscht sie sich, dass er an der Besprechung teilnimmt. Dabei könnte sie ihn das erste Mal näher kennenlernen. Andererseits befürchtet sie, dass sie dann in den Verhandlungen nicht so frei wie gewohnt auftreten würde. Sie empfindet, dass ihre Gefühle mit ihr regelrecht Achterbahn fahren. Mit gerunzelter Stirn stellt sie fest, dass auf ihrem Stammparkplatz ein fremdes Auto steht. Die Aufschrift an der Fahrerseite ist wahrlich nicht zu übersehen. Die großen meerblauen Buchstaben verkünden die Werbebotschaft: „Marina Akaziensee - Yachten- und Bootsausleihstation - Die Nummer eins in der Region.“ Auf dem Heck befindet sich eine Fotomontage mit fröhlichen Leuten auf einem schnittigen Sportboot. Keine schlechte Werbung für das Unternehmen - stellt Cornelia Nicolai beim Betrachten des Landrovers fest. Sie nimmt sich vor, im Gespräch nach der Werbeagentur zu fragen. Jetzt nur keine unnötige Zeit verlieren - der Besuch soll nicht noch länger warten. Der Geschäftsführer der Marina und Tim Sander sind einige Minuten vor ihr eingetroffen und haben am Besuchertisch Platz genommen. Bei einer Tasse Kaffee unterhalten sich beide angeregt. Im Vorbeigehen raunt sie ihrer Sekretärin fast unhörbar zu: „Danke meine Liebe … hast du wieder ganz hervorragend hinbekommen.“

      Diese antwortet mit einem freundlichen Lächeln: „Schon gut … ist doch selbstverständlich … das mache ich doch gerne für sie.“

      Cornelia Nicolai begrüßt die zwei Herren mit einem freundlichen: „Hallo, herzlich willkommen … ich freue mich, dass sie meine Einladung angenommen haben.“

      Galant erhebt sich einer der Herren, überreicht ihr seine Visitenkarte mit den Worten: „Mein Name ist Tim Sander.“ Sie wirft einen kurzen Blick auf das Kärtchen. Darauf steht unter seinem Namen „Produktmanager“ - was das auch immer heißen mag -sind ihre Gedanken beim Lesen der Karte. Die im Vorfeld gehegten Befürchtungen einer gewissen Unsicherheit erfüllen sich glücklicherweise nicht. Jetzt ist sie wieder ganz die kühle Geschäftsfrau, die sich fest im Griff hat und keine Gedanken für private Dinge verschwendet. Mit einem freundlichen Lächeln bemerkt sie nicht gerade in einer zurückhaltenden Art: „Unser Direktor befindet sich noch im Urlaub … ich bin seine Assistentin und gewissermaßen die Schöpferin des heutigen Beratungsgegenstandes.“

      Das Gespräch wird mit dem üblichen Smalltalk über Befindlichkeiten und Wetter eingeleitet. Tim Sander sitzt ihr schräg gegenüber. Während des Gedankenaustausches bleiben ihr die sie wiederholt streifenden abschätzenden Blicke von ihm nicht verborgen. Sie hat das Gefühl, dass er mehr die Frau als die Geschäftspartnerin in ihr sieht. Aber das empfindet sie in diesem Falle sogar äußerst angenehm. Ihre Wahrnehmung trügt sie nicht. Tim Sander ist von Cornelia Nicolai tief beeindruckt. Er sieht in ihr eine äußerst attraktive Frau mit einer tollen Figur. Er schätzt sie auf Mitte Dreißig. Den Altersunterschied könnte er demnach vernachlässigen. Wenn sie ihn anschaut, glaubt er, eine kurze Aufgeregtheit bei ihr zu spüren. Aber das kann auch nur Einbildung sein und misst seinen flüchtigen Wahrnehmungen keine weitere Bedeutung bei. Nach einigen Minuten wendet sich Cornelia Nicolai dem eigentlichen Gegenstand ihrer Besprechung zu. Das Gespräch verläuft ganz in ihrem Sinne. Die beiden Herren sind nach einer Kostprobe sehr angetan von der neuen Kreation des Schlehenlikörs. Tim Sander bemerkt mit einem vielsagenden Lächeln: „Ich kenne den bisherigen Likör Schlehenfeuer recht gut … dieser hält keinen Vergleich mit ihrem Produkt stand … es scheint ihnen etwas ganz Besonderes gelungen zu sein … das könnte ein richtiger Verkaufsschlager werden.“

      „Dazu habe ich keine andere Meinung … nur das Etikett sieht ziemlich langweilig und mittelmäßig aus“, wirft der Geschäftsführer der Marina ein.

      „Das spielt doch für uns keine Rolle … wir wollen den „„Schlehenzauber““ doch nicht flaschenweise verkaufen“, entgegnet ihm Tim Sander.

      „Das nicht … aber denke doch bitte an die Präsentation im Rückbuffet an der Bar … die Leute bestellen nicht nur nach der Getränkekarte … und für den Absatz müssen wir schon gehörig die Werbetrommel rühren.“

      „Sie haben recht … auch mir gefällt das Etikett nicht besonders gut … ich habe mich nicht genügen darum gekümmert … hatte ganz einfach andere Sachen im Kopf … können sie mir vielleicht einen Ratschlag geben, welche Werbeagentur in der näheren Umgebung dafür geeignet wäre?“

      „Aber selbstverständlich“, wirft Tim Sander ein und ergreift sofort wieder das Wort. „ich kenne ein junges Team, welches auch für die Marina tätig ist … die machen richtig gute Arbeit … sind auch ganz preiswert … wenn sie es wünschen, dann spreche ich mit denen.“

      „Darauf komme ich sicher zurück … danke für ihr