Dieter Landgraf

Die Tote unter dem Schlehendorn


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Wohnung hier Platz finden könnten. Vollends begeistert ist sie von der Größe der Küche. Unabhängig von einander kommen Andreas und Anke zum gleichen Ergebnis ihrer Gedankenspiele: Das wäre auch etwas für uns! Nach den zahlreichen neuen Eindrücken erwacht in Anke der natürliche Mutterinstinkt. Was werden wohl ihre zwei kleinen Goldhäschen machen?

      „Ich muss mal schnell anrufen … unsere Kinder sind allein zu Hause“, ruft sie den beiden Männern zu und begibt sich auf die Terrasse. Schnell verfliegen ihre sorgenvollen Gedanken, als sie von Yvonne gesagt bekommt, dass alles in bester Ordnung sei. Dabei erfährt sie, dass Tobias die ganze Zeit nur mit Computerspielen beschäftigt ist und Yvonne Mühe hat, ihn wenigstens zum Abendbrot an den Esstisch zu bewegen. Aber das ist auch schon das einzige Problem. „Alles super, ich liebe dich und viel Spaß noch heute Abend“, sind die letzten Worte, dann hat Yvonne aufgelegt. Nachdenklich begibt sich Anke zurück ins Wohnzimmer. Das wird für die Kinder sicherlich eine ganz schöne Herausforderung - wenn überhaupt etwas daraus werden sollte. Frank steht am Couchtisch und schwenkt übermütig eine Flasche mit hellroter Flüssigkeit - ohne Etikett - wie Anke beiläufig wahrnimmt.

      „Ist das etwa ein Selbstgebrannter … zutrauen würde ich euch das nach deinen bisherigen Erzählungen“, macht sich Anke bemerkbar.

      „Nein, nein … soweit sind wir auf dem Lande nicht, dass jeder eine Brennerei im Keller eingerichtet hat … das hier ist etwas ganz Besonderes … so etwas habt ihr so noch niemals bekommen … das gibt es nur in Akazienaue … es ist ein ganz spezieller Likör … den habe ich von Frau Nicolai erhalten … einer Patientin von mir … er ist noch nicht einmal auf dem Markt … sie nennt ihn „Schlehenzauber““ und soll der Partyknüller des Jahrzehntes werden.“

      Vorsichtig nippt Anke an ihrem Glas - schmeckt wirklich lecker - die Männer dagegen leeren das Glas in einem Zuge. Nach dem dritten Mal Nachschenken verfallen die beiden Freunde in medizinische Fachsimpeleien und Erinnerungen an ihre gemeinsame Studienzeit. Solche Themen findet Anke nicht unbedingt spannend. Außerdem hat sie gesehen, dass in ihrem Übernachtungszimmer ein Fernsehapparat aufgestellt ist. Sie nimmt ihr leeres Glas und stellt es in die Küche.

      „Schönen Abend noch, ich bin müde“, ohne auf die erstaunte Frage ihres Mannes: „Was denn, jetzt schon?“, einzugehen, begibt sie sich zur Nachtruhe.

      „Wie geht es dir denn beruflich … ich meine … füllt dich die Stelle eines Hausarztes so richtig aus?“ will Andreas von seinem Freund wissen.

      „Es ist im Grund genommen nicht so, wie wir es damals beim Studium fälschlicherweise angenommen haben …selbstverständlich hätte ich damals liebend gern eine Assistentenstelle in einem großen Klinikum angetreten … ich habe mich aber für die Landarztpraxis entschieden … nicht ganz freiwillig, muss ich eingestehen … meine Frau ist in ihrer Heimat auf dem Land aufgewachsen … sie mag die Großstadt überhaupt nicht … hier dagegen fühlt sie sich wohl.“

      „Und die vielen Hausbesuche … und die Patienten, die wegen jedem kleinen Wehwehchen zu dir kommen … stört dich das nicht?“, fragt Andreas.

      Frank Ringhof muss lachen und sagt: „Das sind doch alles Ammenmärchen … wo lebst du denn … die Leute hier auf dem Land sind viel gesünder, als die in der Stadt … und wenn sie mal ein Unwohlsein haben, dann greifen die eher zu Omas Hausmittel, als dass sie zum Arzt gehen.“

      „Und die Hausbesuche?“, bohrt Andreas nach.

      „Das muss schon sein, belastet mich aber nicht außergewöhnlich … die Menschen, die ich besuche, haben es wirklich nötig … und wenn du Schmerzen linderst … und denen überhaupt helfen kannst … dann weckt das in dir den Berufsstolz … auch deshalb haben wir uns doch gerade für den Arztberuf entschieden.“

      „Wirst wohl recht haben … wenn ich an meine Notarzteinsätze denke … ist auch nicht gerade das reine Zuckerschlecken … und die vielen Nachtdienste … und am Wochenende noch Bereitschaft … und tolle Aufstiegsmöglichkeiten kann ich auch nicht in absehbarer Zeit erkennen.“

      „Siehst du … wenn ich das so höre, dann bin ich froh, hier zu praktizieren.“

      „Für dich mag das ja zutreffen … aber ich bin ausgebildeter Herzspezialist … und in diesem Bereich möchte ich auch weiter arbeiten.“

      „Dann bewerbe dich doch in dem Klinikum in Ballenhainischen … ich glaube, die suchen einen neuen Stationsarzt für die Kardiologie.“

      „Ich will mal ganz offen zu dir sein … ich habe auch momentan beruflich die Nase voll … ich sehe kein wirkliches Weiterkommen … und als Assistenzarzt möchte ich nicht ein Leben lang arbeiten“, bemerkt Andreas etwas zerknirscht.

      „Ich werde mich gleich morgen genau erkundigen … schon aus alter Freundschaft zu dir … und solltest du dich dafür entscheiden … dann suche oder bau dir ein Haus in Akazienaue … so werden wir sogar noch Nachbarn“, bemerkt Frank Ringhof schmunzelnd.

      „Und wie sieht es denn mit der Freizeit aus … ist es hier nicht etwas eintönig?“

      “Besser, als es sich so mancher Städter vorstellt …die Entfernungen sind natürlich weiter als in der Stadt … dafür ist der Zeitfaktor fast der Gleiche … teilweise noch günstiger … ich nenne dir einmal ein Beispiel …wir besuchen sehr gerne die Veranstaltung des Musiksommers in der Klosterkirche von Malin … die Fahrt dorthin dauert nicht länger als dreißig Minuten.“

      „Die brauche ich auch … ich meine … wenn ich in die Oper oder ins Konzert gehe … aber das macht man doch nicht alle Tage“, wirft Andreas sofort ein.

      „Natürlich kannst du das Kulturangebot einer Großstadt nicht mit der Gegend von hier vergleichen … das wäre auch nicht ganz fair … dafür hast du eben den großen Vorteil, direkt in der Natur zu leben … auch die Auswahl an Gaststätten hält keinen Vergleichen stand … dafür haben wir hier im Ort ein ganz tolles Restaurant … es nennt sich „Haus am Akaziensee“ … erstklassige Küche und hervorragende Eisbecher … wie beim Italiener“, führt Frank Ringhof begeistert aus.

      „Wenn du so weitermachst, empfehle ich dich als Reiseführer für den Ortsverein.“

      „Keineswegs, ich übertreibe nicht … du wolltest doch wissen, wie es sich hier leben lässt … da brauche ich nichts zu beschönigen.“

      „Ist nicht als Kritik gemeint … deine Schilderungen klingen ziemlich verlockend … ich sollte wirklich ernsthaft darüber nachdenken“, sagt Andreas mit ernster Miene.

      „Und vergiss nicht den Akaziensee … wenn du Lust hast, kannst du Angler werden … aber Spaß beiseite … ich habe mir ein Segelboot zugelegt … was glaubst du, wie viel Freude und Entspannung wir beim Wassersport haben … das Beste daran ist, dass man alles gemeinsam machen kann.“

      „Ich weiß auch nicht … Segeln … das will doch gelernt sein … ob ich mich dazu eigne?“, bemerkt Andreas nachdenklich.

      „Das ist doch nur ein Beispiel gewesen … auf unserem See sind auch Motorboote erlaubt … wenn du die Schleusen nicht scheust, kannst du das ganze Land auf dem Wasser erkunden … ich kenne einige, die so ihren Urlaub verbringen.“

      „Das kostet doch bestimmt eine Menge Geld … ich meine so ein Motorboot.“

      „Es muss nicht unbedingt eine Yacht sein … da hast du recht … die sind teuer … aber ein kleines Kajütboot … auf dem du auch übernachten kannst, ist schon erschwinglich … und es muss ja nicht gleich das neueste Modell sein … ein Boot aus zweiter Hand tut es auch.“

      „Hört sich alles sehr verlockend an … wollen mal sehen … ruf bitte an … ich meine wegen der Stelle im Klinikum“, sagt Andreas Falk schon mit etwas schwerer Zunge und hebt zum Gute Nacht Gruß sein Glas, „der Schlehenzauber hat es ganz schön in sich … vielleicht stoßen wir demnächst als Nachbarn an.“

      „An mir soll es nicht liegen … jetzt bist du am Zug … ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung … jetzt sollten wir schlafen gehen …die Flasche ist sowieso