Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten


Скачать книгу

sehen zu können. Sieben oder acht dünne Narbenlinien, etwa so lang wie ein halber Zeigefinger, längst verheilt.

      Weder um den Hals noch an Ohren und Fingern entdecke ich Schmuck.

      Ich bin sicher, ich habe mich in Gedanken nochmals bei ihr entschuldigt. Bevor ich die Frau in allen grausigen Einzelheiten zu fotografieren beginne. Zwischendurch überprüfe ich wiederholt die Genauigkeit der Aufnahmen. Lichte anschließend das Bett ab. Fragen Sie mich nicht, wie ich mich dabei gefühlt habe. Vor allem, als ich ihr Gesicht mit den von panischem Entsetzen aufgerissenen Augen aus verschiedenen Winkeln aufnehme. Sie danach so liegen zu lassen, bringe ich nicht übers Herz. Mit einem stillen „Friede deiner Seele“ schließe ich ihre Augenlider, fotografiere das Gesicht sogleich noch einmal.

      Danach muss ich mich abwenden. Sammele Willenskraft, um das ungewöhnliche Zimmer ins Bild zu nehmen, mehr als zehnmal.

      Die Bezeichnung Zimmer passt nur schwer auf diese ... Sex-Werkstatt. Die Wände des mittelgroßen Raums, der Fußboden und die Decke sowie die innen gepolsterte Tür sind mit rotem Stoff ausgekleidet. Links vom Bett steht auf breiten Rollen ein schwerer, roter Plüschsessel mit einer erhöhten, oben gerundeten Rücklehne und geschwungenen, seitlichen Armauflagen.

      Sieht aus wie ein Thron, kommt mir in den Sinn.

      Gegenüber, rechts neben dem Bett, sind mitten an die Wand zwei breite, vierkantige Balken in der Form eines übergroßen, schwarzen X geschraubt. Aha, das Zeichen, das mir vorhin als Eingebung kam. Nahe den Balkenenden hängen breite schwarze Lederschlaufen, um eine Person in gespreizter Arm- und Beinhaltung an die mit schwarzem Leder gepolsterten Balken zu fesseln. Die beiden oberen Schlaufen können in vier Stufen an die Armlänge des Gefesselten angepasst werden. Den Sinn dieser Vorrichtung erklären mehrere schwarze Lederpeitschen und unterschiedlich dicke Gerten, die rechts daneben, gut sichtbar an Haken in gleichmäßigen Abständen, hängen. Am letzten Haken hängt ein schwarzer Umhang auf leichtem Seidenstoff.

      Ein Stück links des X-Kreuzes in der Ecke steht ein etwa zwei Meter hohes, schmales Regal, ebenfalls in Schwarz. Auf seinem obersten Zwischenbrett steht ein Plastikkopf, ganz von einer schwarzen Ledermaske bedeckt, auf drei offenen Fächern darunter liegen Augenbinden aus schwarzem Gummi und Leder, stoffbezogene, schwarze Handschellen, Fesselgurte mit Karabinerhaken, zwei Mundknebel sowie eine offene Kiste mit Kondomen und eine angebrochene Pappschachtel mit Kleenex-Tüchern. Was die Schubfächer darunter enthalten, finde ich nicht wissenswert. Der Raum und die dargebotenen Sex-Werkzeuge erklären ihren Verwendungszweck deutlich genug.

      Dann wird mir bewusst, was mich die ganze Zeit wie eine unbeantwortete Frage beschäftigt. Ich gehe erneut um das Bett herum; finde nichts. Der schwarze, wildlederähnliche Bettbezug reicht seitlich bis etwa zwei Handbreit über den Fußboden. Als ich in die Knie gehe, entdecke ich einen schwarzen Slip, glattseidig mit Spitzenbesatz wie der BH, halb zusammengeknüllt unter dem Bett unweit des rechten Fußes der Toten. Auch davon mache ich zwei Fotos, lasse den Slip unberührt liegen. Weitere Kleidungsstücke sehe ich nicht; scheinbar trug die Frau beim Betreten des Raums nur die zweiteilige Sex-Wäsche.

      Ich glaube, ich vergesse das Licht auszuschalten, als ich die Zimmertür hinter mir zuziehe. Sogleich erfasst mich wieder dieses Gefühl eines stummen Schreis. Ich halte inne, schließe erneut die Augen, bitte meine inneren Sinne um Aufmerksamkeit, drehe mich um, öffne die Tür erneut. Da ist sie wieder, jetzt leiser, eine helle Frauenstimme in blanker Verzweiflung. Ich höre sie nicht wirklich, doch sie klingt in mir.

      Ich hoffe, am Schluss ist jedes Sterben gnädig.

      Doch der Weg dorthin ... nur zu oft ein nicht enden wollendes Entsetzen. Ich nehme einen zweiten Anlauf, bevor ich mich traue, den Schrei bewusst zu erinnern. Lass mich nicht allein! So klingt es. Etwas in mir begreift die Worte, als höre, sehe und fühle ich sie gleichzeitig. Wie wenn die Seele der Frau noch nah ist, sich wehrt und fleht, obwohl das körperliche Leben bereits erloschen ist.

      „Ja, ich höre dich, habe dich verstanden,“ schießt mir wie eine traurige Antwort durch den Kopf. Petra, fällt mir wieder ein und drückt mir die Kehle zu. So heißt sie.

      Ich habe dich verstanden, Petra. Geh in Frieden, mach ’s gut.

      Was auch immer hier geschehen ist – zum Greifen sicher fühle ich, die Frau ist einsam gestorben. Klar, jeder stirbt allein. Doch hier ... wer sie in diese Lage gebracht hat, war nicht mehr im Zimmer anwesend, als ihr Leben endete. Das spüre ich mit einer Gewissheit, als wäre ich dabei gewesen. Die Frau starb allein und einsam.

      *

      Ob schrullig, scharfsinnig oder draufgängerisch – am Ende überführt der Fernseh-Kommissar jeden Täter mit Hilfe der drei M; Motiv, Möglichkeit und Mittel. Ein gelöster Kriminalfall offenbart vorhersehbar diese drei Hauptbestandteile. Das haben die Zuschauer gelernt, seit es Fernsehen gibt.

      Die Wirklichkeit denkt nicht daran, diesem Lösungsmuster zu folgen.

      Glücklicherweise habe ich daheim – wenn auch nicht jeden Tag – meine eigene, echte Hauptkommissarin.

      „Bleib mir weg mit dieser Volksverdummung. Kochrezepte gehören in die Küche, aber nicht in einen Kriminalistenkopf.“

      Mit ihrer Warnung vor der Falle des Gewohnheitsdenkens rennt Corinna bei mir offene Türen ein. Mindestens so folgsam wie auf ihre Ermahnung höre ich auf die Stimme meiner Intuition. Die bietet mir allerdings nur zu gern Dinge an, die man normalen Menschen nicht zumuten kann.

      Petra starb allein und einsam.

      Der Gedanke verschafft mir einen Stoß unerwartet tief empfundener Trauer. Trauer für eine Frau, der ich nie als lebender Mensch begegnet bin. Ich spüre meine Augen feucht werden, lehne mich gegen die Tür, möchte nicht, dass Frau Aschauer mich so sieht.

      Wieso eigentlich nicht?

      Sie sitzt auf der vierten oder fünften unteren Stufe des dunkelblauen Teppichs auf der Marmortreppe. Ich gehe langsam zu ihr, setze mich wortlos neben sie, schließe die Augen, zwinge mich zum langsamen Atmen. Frau Aschauer bleibt still, und ich bin froh darüber.

      In meiner Arbeit als Verhaltenscoach begegne ich jedem neuen Kunden mit dem inneren Vorsatz: Ich bin dumm, ich weiß nichts über dich. Du magst klein, groß, dick oder dünn sein; ich weiß nicht, ob das etwas bedeutet. Meine erste Frage lautet mit sturer Regelmäßigkeit: Was wollen Sie für sich verändern? Die Frage lenkt das Denken unbewusst in Richtung Zukunft. Die Antwort, die ich darauf erhalte, erweist sich häufig als hilfreicher Einstieg in das anschließende Coachen.

      Warum ein Kunde zu mir kommt, frühere Gründe für seine Kümmernisse und Beschwerden, sind mir gleichgültig. Weil es nie nur ein einziges Motiv für eine Handlung gibt. Und weil kaum ein Mensch mit Bestimmtheit sagen kann, was ihn zu einzelnen Handlungen oder ihrer zwanghaften Wiederholung veranlasst hat. Die meisten Gründe sind nachträglich zurechtgelegte Erklärungen, die zufällig Bemerkenswertes aus einem vielfältigen Erleben herausgreifen. Erlebtes, das andere Menschen für nebensächlich oder gar dumm halten können.

      *

      Was erwartet Petra von mir?

      Coachen für eine tote Kundin?

      Dieser absonderliche Gedankenblitz lässt mich innerlich aufhorchen. Ungebeten gibt er mir die Antwort auf die Eingangsfrage:

      Was will ich hier eigentlich?

      Und weist mir den Weg für die nächsten Schritte. Ich hole alle bildlichen Erinnerungen aus dem „roten Zimmer“ nebenan kurz zurück ins Gedächtnis, färbe sie blitzschnell von oben nach unten schwarz, dann weiß. Sage mehrmals still: Was ich brauche, ist in der Kamera und raus aus dem Kopf. Im Herzen behalte ich die Achtung für Petra.

      Dieser seit ein paar Jahren eingeübte Löschungstrick für unerwünschte Kopfbilder dauert nur wenige Sekunden. Mitten in meine gedankliche Entsorgung hinein melden sich neue Fragen:

      Wer tut so etwas? Und Wieso?