Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten


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dem Bedürfnis, in Ruhe die zahllosen Fragen festzuhalten, die mir im Kopf umherschwirren, und dem Wunsch, Frau Aschauer nicht wie unbeachtet rumsitzen zu lassen. Solange die Todesursache nicht feststeht, ist jede weitergehende Suche nach Antworten ohnehin verfrüht.

      *

      Unerwartet schnell hupt es draußen. Ich laufe hinaus zur Gartentür. Veras roter Mini-Cooper Clubman mit silbernem Dach rollt im Schritttempo an meinem Wagen vorbei und stoppt. Sie winkt mir im Aussteigen flüchtig zu, öffnet eine der rückseitigen Türen des schnuckeligen Kombiwagens und zieht einen Pilotenkoffer mit den wichtigsten Arbeitsgeräten hervor. Den Inhalt, Handschuhe, Maßband, Kamera, Diktiergerät, eine taschenbuchähnliche Mappe zum Abnehmen von Fingerabdrücken und andere nützliche Hilfsmittel, hat sie mir vor einigen Wochen vorgeführt.

      Heute trägt Vera halb hohe, weiße Sandaletten und ein leichtes, buntes Sommerkleid. Typisch für sie mit einem V-Ausschnitt, der gerade so viel Busen zeigt, wie dem unbefangenen Umgang miteinander gut tut. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als sie mich mit einem flüchtigen Küsschen begrüßt. Weniger, weil ich Vera mag, sondern weil ich mich von jetzt an amtlich entlastet fühle. Mit ihrer Anwesenheit ist die Gefahr gebannt, dass andere Beamte oder ein Staatsanwalt mir später Verhalten vorwerfen, das als hinderlich oder gar schädlich für die weitere Ermittlung gelten könnte.

      „Danke, Vera. Ich bin froh, dass Du so schnell kommst. Sollen wir Sie zueinander sagen ...?“

      Sie unterbricht mich mit ihrem stets unbeschwert klingenden Lachen.

      „Quatsch. Wir kennen und wir lieben uns. Sind so gut wie Kollegen. Also, komm, rein ins Vergnügen!“

      Damit übergibt sie mir den Pilotenkoffer.

      „Halt, Vera, bitte, angemessen! Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist. Lass uns respektvoll mit der Toten umgehen, auch wenn das Drum und Dran anstößig erscheint.“

      „Schon gut, Robert. Ich lache nun mal gern. Wenn ich alles Elend unserer Arbeit an mich ließe ... Los, geh vor.“

      Frau Aschauer erwartet uns im Windfang hinter der Eingangstür.

      Vera schenkt ihr ein flüchtiges Lächeln, gibt ihr kurz die Hand.

      „Ich bin Oberkommissarin Conrad, K 11 im Präsidium Frankfurt. Mein Ausweis liegt draußen im Auto, falls Sie mir nicht glauben. Wo geht ’s lang?,“ und folgt mir sogleich die Treppe hinab.

      Ich fasse sie am Arm, flüstere ihr „sie heißt Sandra Aschauer“ zu.

      „Bitte bleiben Sie dort oben, Frau Aschauer. Für Fragen ist anschließend Zeit.“

      Das Licht im Zimmer brennt noch. Doch der Raum riecht anders, zumindest kommt es mir so vor.

      „Mindestens ein paar Stunden,“ befindet Vera. „Stell den Koffer da an die Tür und verzieh dich.“

      In der kurzen Zeit.

      Was bleibt von einem Menschen? Vor Stunden noch voller Leben, Wünsche und Träume. Geliebt, vielleicht auch gehasst, jedenfalls ein Mensch und als solcher unendlich wertvoll. Ich hocke mich auf den Treppenteppich und spüre das Seelenelend in mir aufsteigen.

      Durch die angelehnte Zimmertür sehe ich etliche Lichtblitze zucken, höre wenig von dem, was Vera tut. Nach einer Weile klingt leises Sprechen heraus; sie diktiert ihre Wahrnehmungen in einen Digital-Recorder. Die Stoffauskleidung der Wände sorgt für eine wirksame Geräuschdämpfung.

      Gut fünfzehn Minuten später verlässt Vera den Raum, schiebt ihren halboffenen Arbeitskoffer mit dem Fuß vor sich her, zieht die Tür ins Schloss und klebt ein Stück oberhalb des Türgriffs ein Dienstsiegel in den Winkel zum Türrahmen.

      Sie setzt sich zu mir auf die Treppenstufe.

      „Nimm mich mal in den Arm, Robert. Nur kurz.“

      „Na, komm her, Du Schatz.“

      Ich lege meinen rechten Arm um ihre Schultern und ziehe sie sanft gegen meine zähe Lederjacke.

      „Gott, was für ein Unglück. Ein hübsche Frau,“ stöhnt Vera langgezogen in sich hinein.

      Als ich sie wieder loslasse, rücke ich etwas weg von ihr, um mich seitlich zu ihr zu drehen.

      „Bis auf die Augenlider habe ich nichts berührt, Vera.“

      „Gut gemacht. Danke. Das finde ich immer am härtesten, die Augen. Wenigstens gibt es keine Fliegen hier unten. Diese Entwürdigung bleibt ihr erspart.“

      Sie dreht sich ebenfalls zu mir. Ihr freundliches Gesicht ist weit weg von dem gewohnten Strahlen.

      „Also, was haben wir? Ein Sex-Spielzimmer wie im Lehrbuch. Und eine hübsche Frau. Bei der Aufmachung wird man sie wohl als Domina bezeichnen, Fachrichtung Sado-Maso, einverstanden?“

      Ich entscheide mich für Zurückhaltung mit voreiligen Schlüssen. Meine Gehirnzellen befinden sich noch im Zustand der Datenverarbeitung.

      „Dein Fachgebiet, Vera. Ich kann da nur mit dummen Fragen aufwarten. So wie es aussieht, denke ich, hast Du recht.“

      „Eine vorläufige Annahme. Kennst Du die Tote, Robert?“

      „Nein, ich habe ihren Namen vorhin zum ersten Mal gehört. Ich war noch nie hier, bin der Dame vorher noch nicht begegnet.“

      „Wieso bist Du überhaupt hier?“

      Ich berichte von dem Telefonanruf und meiner Rücksprache mit Tochter Claudia.

      Vera springt auf, zieht aus dem Arbeitskoffer ihr schlankes, silbergraues Aufzeichnungsgerät heraus, setzt sich wieder zu mir, beginnt mit „Ergänzende Feststellung“ und spricht ein paar Sätze zu meiner Person und die Erklärung für meine Anwesenheit in das Gerät.

      „Schön,“ nickt sie mir zu. „Ich habe die Fesseln gelöst und sie zusammengelegt, die Frau. Dann kann sie wenigstens unbeschadet transportiert werden. Die Leichenstarre dürfte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Breite, kräftige Schlaufen mit starken Metall-Ösen und Klettenband; keine Chance, sich selbst daraus zu befreien.“

      Ich warte, ob sie mehr sagen will.

      Vera starrt in Gedanken vor sich hin.

      „Aber sie wollte sich befreien?“

      „Keine Frage.“

      Sie schaut mich forschend an, bis ich rot werde; worauf ihr Blick sich aufhellt.

      „Sag mal laut, Robert! Was hast Du eben gedacht?“

      „Wirres Zeug.“

      „Höre ich gern. Sag schon.“

      „Sie ist allein gestorben, ohne eine anwesende Person. Ist nur so ein Gefühl in mir. Und ... ich wüsste gern, wie das geht. Wie sich das anfühlt, so dazuliegen, völlig wehrlos.“

      Vera neigt den Kopf ein wenig, zieht den Mundwinkel wie bei einem Augenzwinkern zur Seite.

      „Hä! Macht dich das womöglich an?! Sollen wir es mal ausprobieren?“

      Als ich begreife, wie sie mich verstanden hat, lache ich verlegen.

      „Mensch, Vera, Du spinnst. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Obwohl, falls Du gerade eine Einladung ausgesprochen haben solltest, bin ich nicht abgeneigt, wenn auch nicht an diesem Ort. Im Ernst! Was ich meine? Ich stelle mir vor, wie man da liegt.“

      „Na und, siehst Du doch.“

      „Nein! Überleg doch mal. Du bist gefesselt. Für die Frau ist das wahrscheinlich eine alltägliche Sache. Ihre Lage erscheint aufreizend, ist aber nicht zwangsläufig unbequem. Halbwegs erträglich. Wieso fügt sie sich nicht einfach ...“

      „Sich fügen, wie? Wem? Verstehe ich nicht,“ unterbricht