Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten


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      Der äußere Anschein legt eine tödlich geendete, sexuelle Begegnung nahe. Bevor ich weiterspringe zur Frage nach dem „Wer?“, stolpert mein Kopf bereits. Der Anschein einer sexuellen Begegnung?, erwidert – sozusagen in vorauseilender Ratlosigkeit – mein Misstrauen. Nichts auf der Welt ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Was also hat dort hinter der Tür stattgefunden? Findet sich dazu ein Hinweis? Wer kann etwas zu dieser Frage sagen?

      Die Antwort ist so einfach wie naheliegend.

      Könnte sie leidenschaftslos sprechen, was würde Petra berichten?

      Wie von einem inneren Schub gedrängt, stehe ich auf und gehe, erst unsicher, dann beinahe erleichtert, wieder zur Tür des „roten Zimmers“.

      Okay, Robert, atme, sammle dich, öffne deine intuitiven Sinne, lenke deine Aufmerksamkeit nach „oben“.

      Ich drücke die Tür auf, schließe die Augen, trete sehr langsam ein. Genaugenommen, ich sehe mich in den Raum eintreten – zugleich in mir und von oben über mir. Ich halte die Augen geschlossen, vermeide jeden Blick auf das Bett und die Tote, drücke die Tür mit dem Absatz zu, lehne mich gegen die Wand daneben, sage lautlos – wie gewohnt in englischer Sprache: „Cassandra, ich brauche deine Hilfe.“

      Augenblicklich erstrahlen ihre dunkelblauen Augen vor meiner Stirn.

      „I’m here, what do you want?

      „Cassandra, bitte öffne meine Sinne für die Energie dieser Petra.“

      „You got it.“

      Beim nächsten Wimpernschlag erscheint in einer fahlen Lichtwolke neben meiner rechten Schläfe Petras Gesicht, wenn auch nur als schwacher Widerschein. Der Bereich ihres Mundes sieht anders aus, unschärfer, offen, erschrocken oder schreiend, ohne die schwarze Knebelkugel. In meiner geistigen Zwischenwelt sage ich leise, nur in Gedanken:

      „Ich sehe dich, Petra. Bitte erkläre mir, wie es dazu kommen konnte.“

      Schlagartig kommen mir – wie tonlose Aufschreie einer weiblichen Stimme – die Wörter „Alles war falsch“, „Lügen“ und „heillose Verwirrung“ in den Sinn. Zugleich scheint meine Brust von einem Gefühl heißer Wut zu bersten. Ich stehe erschrocken da, will meine Aufmerksamkeit bei dem Gesicht in der Lichtwolke halten, hoffe auf weitere Hinweise. Spüre statt dessen schwarze Trauer und Hoffnungslosigkeit über mich herabsinken, die mir die Luft abzuschnüren drohen.

      Als ich fürchte, dass mir die Knie weich werden, halte ich es nicht mehr aus. Ich breche meine beinahe sträflich schlecht vorbereitete Schamanische Reise schroff ab, zwinge meinen Geist aus der Zwischenwelt zurück in meine Person.

      „Danke, Petra. Danke, Cassandra.“

      Mit immer noch geschlossenen Augen ertaste ich die Türklinke. Die Hinweise nehme ich ernst, nicht als endgültige Antworten, sondern als beachtenswerte Mitteilung. Was zum Tode geführt hat – alles war falsch. Die Fesselung war echt. Darüber gründlicher nachzudenken hebe ich mir für später auf. Und noch etwas steckt in der Botschaft. Lügen? Falls das bedeutsam ist, werden bestimmte Abläufe unmittelbar vor Petras Tod unwahrscheinlich, können so gut wie ausgeschlossen werden. Etwa der überraschende Gewaltrangriff einer fremden Person.

      Wenn ich meinem dummen Kopf trauen darf.

      Mir läuft eine heiße Gänsehaut den Rücken hinab.

      Gefangen in ihrer Lage, überwältigt von Unwahrheit und heilloser Verwirrung, versunken in Traurigkeit – bei aller Vorsicht; für mich sind das mehr als Denkanstöße, so etwas wie letzte Sinnesäußerung der Toten.

      Hoffnungslos, Corinna davon zu überzeugen. Mein „Herzblatt“ dürfte einmal mehr mitleidig den Kopf über meinen Geisteszustand schütteln. Folglich beschließe ich, meine Eingebung für mich zu behalten. Mich ein Stück klüger zu fühlen reicht. Ob es mir – und Petra – weiterhilft, wird sich später zeigen.

      Petra hat noch gelebt. Vermutlich vor weniger als zwei Stunden.

      Wenn die Aschauer früher gekommen wäre? Nur eine Stunde früher? Und wenn sie doch selbst ...? Nicht gefunden, nur behauptet? Jeder unvoreingenommene Ermittler zieht das in Betracht. Ich fühle in mich hinein. Frau Aschauer die Täterin? Ausgeschlossen! Die Antwort tönt spontan und laut in mir. Auch später kommt mir kein Zweifel daran. Zu keinem Zeitpunkt.

      Frau Aschauer sitzt bleich und stumm auf der Treppe.

      Ich hocke mich wieder neben sie, komme gleich zur Sache.

      „Als Sie Petra gefunden haben, erinnern Sie sich an den Augenblick, als Sie das Zimmer betraten?“

      Sie antwortet unverzüglich, spricht halblaut vor sich hin.

      „Na, Sie ?! Mit allem hätte ich gerechnet, nur nicht mit dem Anblick ...“

      „Halt, bitte genau. Unmittelbar davor, als Sie die Tür öffnen. Haben Sie etwas Bemerkenswertes gesehen, gefühlt, gehört oder gedacht?“

      Sie atmet hörbar verächtlich aus.

      „Ist das eine der typischen Fangfragen aus der Polizei-Trickkiste?“

      „Wenn, dann aus der Coach-Kiste. Nein, ich folge meiner eigenen Nase. Na los, gehen Sie einfach in Gedanken noch einmal zurück in das Geschehen. Sie gehen die Treppe hinab, öffnen die Tür ... und dann? Irgendwelche bemerkenswerte Wahrnehmungen?“

      „Sie meinen, der Täter könnte noch in der Nähe gewesen sein? Unsinn, da war kein Mensch.“

      Dazu ein unnötig heller, zurückweisender Ton in der Stimme. Wie der Anfang eines ertappten Lachens.

      Selbst wenn sie es niemals zugibt, ziemlich sicher ist Frau Aschauer beim ersten Anblick der Toten eine Vermutung durch den Kopf geschossen, der Schatten eines Verdachts, wie grundlos auch immer. Jetzt mag er ihr zu abwegig erscheinen, um ihn auszusprechen. Doch sie überrascht mich und flüstert:

      „Was hast du gemacht, Mädchen?! Das habe ich gedacht. Keine Ahnung, warum.“

      Den Satz ,Was hast du gemacht, Mädchen?!’ präge ich mir ins Gedächtnis ein, mit Frau Aschauers Stimme. Höre ihn gleich noch mal in der Erinnerung. Dabei formt sich wie von selbst ein Entschluss. Der begleitet mich von da an, schwach aber beständig wie ein kaum noch wahrgenommenes Rauschen im Hintergrund: Ich will herausfinden, was die Tote selbst mir nicht mehr erklären kann.

      Unwillkürlich richte ich mich auf, greife nach Frau Aschauers rechter Hand, ziehe sie im Aufstehen mit. Okay, drängen wir das Entsetzen zurück, tun wir, was nötig ist.

      „Führen Sie mich bitte kurz durch die Zimmer des Hauses. Und ein Schluck Wasser wäre gut.“

      Meine Kehle ist trocken wie feiner Sand.

      Wir beginnen nebenan. Ein schmaler Raum, darin links ein langer hellgrauer Metallschrank mit drei Schiebetüren, ihm gegenüber eine von durchschimmernden Plastikflächen begrenzte Duschzelle, davor ein kleines Waschbecken, ein Stuhl und eine Toilette. Es folgen ein kleiner Raum mit Sportgeräten und zwei breiten Trainingsmatten, ein aufgeräumter Abstellraum, der Heizungskeller. Schließlich eine verschlossene Stahltür an der Hausrückseite hinaus zu einer kurzen Treppe in den Garten.

      Hinauf ins kleinere Obergeschoss unter dem Schrägdach zu steigen erspare ich mir. Das Erdgeschoss bietet rechts vom Hauseingang ein Wohnzimmer mit gemauertem, offenem Kamin und einem Essbereich, zum hinteren Garten ein mäßig großes Schlafzimmer, davor ein stattliches Badezimmer sowie hinter dem Kellerabgang die Küche, vorn links vor der Treppe ein sparsam ausgestattetes Arbeitszimmer. Die Zimmer sind geschmackvoll eingerichtet, sauber und aufgeräumt, lassen aber das Gefühl andauernder gewöhnlicher Benutzung vermissen. Kein Raum zeigt Spuren, die auf eine Durchsuchung der Schränke oder Veränderung der Polstermöbel hindeuten. Das Haus ist geräumiger, als von der Straßenansicht