Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten


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klar, mein liebster Schwarm. Ich bitte darum. Gewiss wird es ein netter Abend. Vera, bitte, es ist unschön. Corinna ist nicht erreichbar ...“

      Ihr stets heiteres Lachen bekommt einen wissenden Unterton.

      „Herzchen, ich nur als zweite Wahl? Oh, oh.“

      Sie unterbricht sich mit erneutem Schuss Heiterkeit.

      „Deiner Herzensdame so zu kommen, was halte ich denn davon!? Was muss ich mitbringen? Drogenhunde? Ein Sondereinsatz-Kommando? Wasserwerfer? Ist der Tatort gesichert?“

      „Ja, ein Einfamilienhaus. Niemand sonst kommt rein.“

      „Hat der Hausarzt den Tod bestätigt?“

      Ich frage halblaut nach dem Hausarzt in Richtung Zimmertür, wo Frau Aschauer unschlüssig steht.

      „Hausärztin ist verreist, höre ich gerade.“

      „Besser, wenn der Amtsarzt verständigt wird.“

      „Amtsarzt? Wie erreicht man den?“

      „Kommt drauf an, Robert. Hör zu, das Opfer läuft nicht davon, nehme ich an. Obwohl wir keine Zeit verlieren sollten. Wo bist Du?“

      Auf meine Ortsangabe folgt ein herzhaftes:

      „Oh Scheiße.“

      „Wieso?“

      „Das ist Hofheim, Präsidium Westhessen; nicht unsere Zuständigkeit. Kripo Regionalinspektion Hofheim.“

      Huh! In der Dienststelle Hofheim kenne ich niemanden. Vorrangig zählt für mich Veras Sachverstand auf dem Gebiet. Ihre Fähigkeiten und ihr Durchsetzungsvermögen habe ich zu schätzen gelernt, seit wir uns im Zuge des blutigen Treibens der „Rache-Hexe“ erstmals begegnet sind. Vera jetzt dabei zu haben wäre ein Gewinn für alle Beteiligten.

      „Verstehe. Ist das schlimm? Kommt ihr nicht klar miteinander?“

      „Wie man es nimmt. Diese Vorstadt-Sheriffs meinen immer, wir wüssten alles besser, betrachten sie und ihr Schrebergärtchen von oben herab. Trotzdem, die sind zuständig, eindeutig geregelt. Weil dort das Delikt verübt wurde.“

      So wie sie dies betont, schwankt Vera heftig.

      „Eine Frau Kommissarin wäre schon besser. Was meinst Du, wenn Du sowieso zufällig in der Nähe bist, und da wir uns von Herzen lieb haben? Es bleibt doch in der Familie; geht das nicht?“

      „Völlig klar, Schatz, dass Du dich als Erstes an dein Liebchen wendest. Das Oper, männlich oder weiblich?“

      Bei aller Lust, in Gespräche mit mir vergnügliche Zwischentöne einzustreuen, besticht Vera durch Umsicht und Genauigkeit in der Arbeit.

      „Eine Frau.“

      „Gibt es eindeutige Hinweise auf die Todesursache?“

      „Auf den ersten Blick keine Spur von Gewaltanwendung. Allerdings unter ziemlich befremdlichen Umständen.“

      „Oh, was heißt das?“

      „Nach dem, was ich gesehen habe, würde ich sagen: Edelprostitution in vornehmer Stadtrandlage.“

      „Sag das doch gleich, Robert. Wunderbar. Ich bin in zehn Minuten bei euch.“

      Kurzes Nachdenken über polizeiliche Ermittlungen. Eine weitverbreitete Vorgehensweise beginnt mit den Fragen: Wer kam dem Opfer im entscheidenden Augenblick nahe. Und wem nutzt sein Tod? Dies folgt unbewusst einem Denkmuster, das in der Welt der Physik unbestreitbare Gültigkeit hat: Ursache und Wirkung. Klare Muster und gerade Verbindungslinien erfasst unser Gehirn blitzschnell und einprägsam. Der Kopf liebt einfache Antworten, selbst wenn sie das wirkliche Geschehen falsch beschreiben. Ein Mann beugt sich über den Toten, er hält die Mordwaffe in der Hand – klarer Fall! Das soll nicht der Täter sein? Schwer vorstellbar.

      Zugegeben, bei vielen Straftaten treten alle entscheidenden Tatsachen offen zutage, und eindeutige Schlussfolgerungen zwingen sich auf: Der hibbelige Drogensüchtige springt hinter einer Hecke hervor, fordert mit vorgehaltenem Messer einen zufälligen Fußgänger zur Herausgabe seines Geldes auf, sticht im einsetzenden Gerangel zu; das Ganze beobachtet von einer verängstigen, älteren Dame, die zehn Meter weiter in einem Auto auf ihre Tochter wartet.

      Häufig genug liegen die Dinge nicht so einfach. Wenn die Todesursache Fragen aufwirft. Wenn eine Vielzahl unbekannter Täter mit ganz unterschiedlichen Verhaltensgründen in Frage kommt. Wenn keine verlässlichen Spuren dem Tatort eine Richtung geben, Zeugen fehlen oder widersprüchliche, aufgeblasene oder absichtlich irreführende Hinweise liefern. Jedem Kriminalbeamten, der mit Sinn und Verstand arbeitet, können solche Fälle den Nachtschlaf rauben.

      Davon hat Corinna mehr als einmal berichtet.

      Bei ihrer Arbeit bevorzugt sie diese geradlinige Ermittlungsrichtung.

      „Bleib mir weg mit Hirngespinsten; für mich zählen nur beweisbare Tatsachen,“ diente uns mehrfach als Anstoß zu ausufernden Meinungsverschiedenheiten. Ihr Bekenntnis, stets vom Sachverhalt auszugehen, hindert Corinna freilich nicht daran, bei Vernehmungen Dinge zu behaupten, die mit den Tatsachen wenig zu tun haben. Der Verdächtige empfindet sie jedoch häufig genug als Bestätigung, längst überführt zu sein und sein Heil in einem Geständnis zu suchen.

      Vera Conrad ist in der Hinsicht zurückhaltender und zugleich offener, wagt unbekümmert auch gedankliche Umwege, selbst wenn sie am Ende nicht weiterführen. Sie vertraut darauf, dass ihr Kopf im Verborgenen und ohne angestrengte Denkbemühung auch aus ungewöhnlichen Überlegungen etwas Sinnvolles herausholt.

      Natürlich tanze ich in der Hinsicht aus der Reihe.

      Nicht allein wegen meiner Cassandra-Intuition.

      Ich folge einer anderen kriminologischen Denkrichtung.

      Die verdanke ich meinem Einschreiten in die versuchte Kindesentführung in San Francisco. Daraufhin bin ich Belinda Carey begegnet, Detektivin und Computerfachfrau in der Einheit für „Besondere Opfer“ im Polizeihauptquartier der Stadt.

      Belinda ist Hopi-Indianerin aus Nord-Arizona und erfahren im Kampf innerhalb und zwischen polizeilichen Abteilungen und Diensten. Beim Aufspüren der mutmaßlichen Kindesentführer habe ich einige ihrer Fähigkeiten anschaulich erleben dürfen. Dabei hat sich zwischen uns ein Verhältnis entwickelt, das ich ohne Hintersinn als Freundschaft bezeichne. Seit dem denkwürdigen Oktober im vorigen Jahr ab zu mit Belinda zu telefonieren ist mir stets eine Freude.

      Sie hat mir viel von ihre Art kriminalpolizeilicher Arbeit beigebracht, zugegeben gemäß den rechtlichen und kulturellen Gegebenheit in Kalifornien. Bei Kollegen „an der Front“ verschafft Belinda sich damit allerdings nur wenige Freunde und allenfalls unausgesprochene Hochachtung.

      Sie betrachtet das Geschehen psychologisch, denkt den Fall möglichst unvoreingenommen vom Opfer und einem denkbaren Täter her. Was hat beide Seiten an den Tatort geführt, und wie haben sie sich dort verhalten? Den Fragen spürt sie nach, mit Achtsamkeit für Kleinigkeiten, Erfahrung und praktischem Menschenverstand.

      Die Tatortbeschreibungen der vor ihr eingetroffenen Streifenbeamten hält sich Belinda zunächst vom Leib. Auch Zeugen und das Umfeld befragt sie erst später.

      Als Erstes erkundet sie selbst in Ruhe den Tatort. Ihn lässt sie die Ereignisse erzählen, so lange, bis sie gefühlsmäßig einen stimmigen Sinn ergeben ... oder ihre Widersprüche verkünden.

      Einfach gesagt beginnt Belinda nicht mit der Frage „Wer?“ und deren mutmaßlichen Motiven. Statt dessen versetzt sie sich in die Tatbeteiligten, befragt sie anhand der vorgefundenen Umstände gedanklich nach dem „Wie?“ und dem „Wieso?“.

      Von Belinda Careys Erfahrungsschatz bin ich weit entfernt. Doch die Grundzüge ihrer Herangehensweise habe ich verstanden und an