J.P. Conrad

Aufgefressen


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nie über die Türschwelle ihres kleinen Reihenhauses getragen. Sie hatte sie Zuhause gelassen, wenn sie zur Arbeit, in den Kindergarten gegangen war. Der Kindergarten war ihre Zuflucht, ihre Burg gewesen. Mit den Kindern als die Ritter, die sie verteidigten. Loise liebte Kinder über alles und ihr Job als Betreuerin machte ihr viel Freude. Die Arbeit bot ihr einen friedlichen Gegenpol zu der häuslichen Gewalt durch ihren Mann. Die dunklen Gedanken, die sie so oft hatte, wurden durch sie zu einer honigsüß duftenden Wolke aus Zuckerwatte.

      Aber seit einigen Tagen bemerkte Loise mit Sorge, dass ihr das nicht mehr reichte. Ein Kinderlachen hatte plötzlich nicht mehr den Wert, die dunklen Gedanken aufzuwiegen. Es fiel ihr immer schwerer, einfach nur den Schalter umzulegen, ihr freundliches Gesicht aufzusetzen und mit den Kindern zu spielen, wie sie es so lange getan hatte. Aggressionen hatten sich in ihr aufgestaut; Aggressionen, die wesentlich mehr waren, als nur dunkle Gedanken, die sie hätte ignorieren können. Es gab keine Ablenkung mehr von ihnen. Loise wusste, dass der Druck, der sich in ihr schleichend langsam aufbaute, irgendwann entweichen musste; das Ventil musste geöffnet werden. Aber wie?

      Natürlich wäre Herman, in dem sie auch die Ursache all ihrer Aggressionen vermutete, das naheliegende Ziel gewesen. Aber das ging nicht. Dafür hatte sie, auch wenn sie es sich nur ungern selbst eingestand, zu viel Angst vor ihm und den Konsequenzen, die ihr gedroht hätten; allen voran, ihn zu verlieren.

      »Sieh es ein, du bist eine schwache, armselige Kuh«, dachte sie bei sich, während sie ins Leere starrte.

      Jemand legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sie fuhr erschrocken hoch.

      »Loise, alles klar?«, fragte Lucinda und lächelte sie an.

      Mit einem Mal war Loise wieder im hier und jetzt, hörte das Lachen der Kinder und das Klirren des Geschirrs. Sie saßen im Kindergarten mit ihrer Gruppe um den niedrigen Tisch herum beim Frühstück.

      »Ja, alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde heute«, spielte sie ihren Gemütszustand herunter.

      »Schlecht geschlafen?«

      Loise nickte nur stumm und sah dann in die Runde. Die Kleinen hatten ihr Obst aufgegessen und ihren Tee getrunken.

      »So, Kinder«, sagte sie und zeitgleich mit einem Händeklatschen setzte sie wieder ihr fröhliches Gesicht auf. »Räumt bitte alle eure Tassen und Teller auf die Tabletts.«

      Loise und Lucinda gaben den Kleinen Hilfestellung. Es waren fünf Tabletts mit dreckigem Geschirr; Lucinda nahm zwei davon und ging in die Küche. Loise folgte ihr mit zwei weiteren.

      »Ich räume sie schon ein«, sagte Lucinda und begann, die Teller und Tassen in den Geschirrspüler zu laden.

      Loise ging wieder zurück in den Gruppenraum, um das letzte Tablett zu holen. Als sie dort ankam, sah sie, wie ein kleiner Junge eben dieses Tablett, das noch mit aufgetürmten kleinen Tassen und Tellern zum Abräumen bereit auf dem niedrigen Tisch stand, zu sich heran zog. Er zog daran, bis es nach einer halben Drehung mit einem lauten Klirren vor ihm auf den Boden krachte. Mehrere Tassen zerbrachen, andere rollten davon und Reste des Tees flossen über die Holzdielen.

      Es war genau dieser eine Moment, der Loise dazu brachte, ihr Ventil zu öffnen. Ohne darüber nachzudenken, stürzte sie zu dem Jungen, packte ihn fest am Arm, riss ihn nach oben und zog ihn dann von den anderen Kindern weg in Richtung der Schlafstube. Es ging so schnell, dass der Kleine nicht einmal Gelegenheit hatte, zu schreien. Dann hatte sie auch schon die Tür hinter sich geschlossen.

      Lucinda hockte vor der geöffneten Spülmaschine und wartete. Sie rieb sich den Tee an ihren Fingern mit einem Spültuch trocken und verzog dann ungeduldig das Gesicht. Loise kam nicht. Sie seufzte und erhob sich aus ihrer Hocke.

      »Loise, Schätzchen. Wo bleibst Du denn?« Sie ging in den Gruppenraum, um das letzte Tablett selbst zu holen. Sie fand es auf dem Kopf liegend, mit den Tassen, Tellern und Scherben auf dem Boden verteilt und einigen Kindern, die wie aufgescheuchte Hühner wild umher liefen. Aber das taten sie oft, wenn sie keine konkrete Aufgabe hatten. Von ihrer Kollegin war allerdings nichts zu sehen.

      »Loise?«, rief Lucinda und ging sofort zurück in die Küche, um Schaufel und Besen zu holen. Sie dachte sich nichts dabei. Entweder war Loise mit einem Kind auf die Toilette gegangen oder eines der Kleinen hatte sich tatsächlich verletzt, als das Tablett runtergefallen war und sie holte gerade den Erste-Hilfe-Kasten. Als Lucinda mit Besen und Kehrblech bewaffnet wieder zurückkam, war alles unverändert.

      »Passt auf Kinder, tretet etwas zurück!«, sagte sie und ging auf die Knie, um die Scherben aufzusammeln. Plötzlich hörte sie einen spitzen Schrei. Den eines Kindes. Sie fuhr erschrocken hoch. Er war aus dem Schlafraum gekommen. Lucinda wusste sofort, dass dieser Schrei nicht von einer kleinen Schnittwunde herrühren konnte. Es war ein durchdringender, von Angst erfüllter Schrei gewesen.

      »Loise?« Sie stand auf und lief schnell, mit pochendem Herzen, zur Tür des Schlafraums. Als sie sie öffnete und sah, was sich dahinter abspielte, umklammerte sie unwillkürlich fest das kleine Kruzifix, das an ihrem Hals hing.

      I.

      Im Allgemeinen empfinden die Menschen den Montag als den schlimmsten Tag der Woche. Und auch für Mitchell Liberman konnte er kein Glückstag sein, denn es war ein Montag, als er die drei Leichen fand. Sie lagen nebeneinander aufgereiht auf dem Boden eines Lagerraums im Keller der St. Marys Primary School. Man hatte ihnen die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit mit Säure verätzt.

      Das war Jack Calheys Wissensstand, als er den Hörer in die Hand nahm und seinen Kontakt beim Yard, Detective Inspector Hubert Macintosh, anrief.

      »Das ging ja schnell«, war die Begrüßung des Beamten, die Jack sofort ein Grinsen ins Gesicht brachte. »Wie haben Sie davon erfahren?«

      »Ich habe so meine Quellen«, tat Jack geheimnisvoll. In Wirklichkeit war es Steven Highsmith gewesen, Macintoshs Kollege und Jacks guter Freund, der ihm die wenigen Infos per E-Mail hatte zukommen lassen. Sie hatten wie rohe Fleischfetzen gewirkt, die man einem hungrigen Hund vorgeworfen hatte.

      »Können Sie schon näheres sagen?«

      Macintosh schnaubte in den Hörer. »Es sind zwei Frauen und ein Mann. Ihre Gesichter wurden mit Dihydrogensulfat, also Schwefelsäure, sehr stark verätzt. Die Identifizierung von zwei der drei Leichen dauert noch an.«

      »Und die dritte?«

      »Der Schuldirektor hatte sich die ganze Bescherung angesehen. Er sagte, es könnte sich möglicherweise um eine Lehrkraft handeln.«

      Jack machte sich flink Notizen auf seinem Block. »Und?« Er war aufgeregt wie ein kleines Kind, das seine Weihnachtsgeschenke unter dem Christbaum entdeckt hatte und es nun nicht erwarten konnte, sie auszupacken.

      Der Inspektor zögerte einen Moment, dann sagte er: »Sie wissen schon, dass ich das hier nur tue, weil Sie noch was gut haben bei mir?«

      »Ja, weiß ich«, entgegnete Jack. »Und ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür.«

      Es war diese unglaubliche Geschichte vor knapp zwei Jahren, als sich ihre Wege das erste Mal gekreuzt hatten. Damals hatte sich Jack, aus persönlichem Interesse und beruflichem Ehrgeiz, als Lockvogel für eine im Nachhinein äußerst fragwürdige Polizeiaktion zur Verfügung gestellt. Unterm Strich war er nur knapp mit dem Leben davon gekommen; aber auch mit der Story seines Lebens.

      »Also, haben Sie die Frau identifizieren können?«, bohrte er nach.

      »Ja. Es war tatsächlich eine Grundschullehrerin. Sie war erst vor einem Monat in Rente gegangen.«

      »Hm«, brummte Jack nachdenklich. »Dann hatte sie wohl ihren Ruhestand nicht wirklich auskosten können.«

      Macintosh räusperte sich. »Allerdings.«

      »Haben Sie einen Namen für mich?«, fragte Jack weiter, obwohl er wusste, dass er Gefahr lief, seinen Bonus beim Inspektor auszureizen.

      »Dazu kann ich nichts sagen«, kam auch prompt die knappe