J.P. Conrad

Aufgefressen


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wieder entgegen.

      »Sie sind mich umgehend wieder los. Das verspreche ich Ihnen. Ich möchte lediglich ihre Version der Geschichte hören!«

      Wie er es erwartet hatte, sah Liberman ihn nun stirnrunzelnd an.

      »Meine Version? Was soll das heißen? Ich habe der Polizei meine Aussage zu Protokoll gegeben. Punkt.«

      »Natürlich. Aber wenn die ganze Sache in Kürze in der Presse breitgetreten wird, was denken Sie, was Sie davon haben?«

      Er schnaubte. »Nichts, natürlich.«

      »Eben. Aber wenn Sie sich dazu entschließen könnten, über Ihren Schatten zu springen und mir ein paar Fragen beantworten, dann…« Er machte eine Pause, die ihre Wirkung nicht verfehlte.

      Der Mann konnte Geld gut gebrauchen, das sah man ihm an. Außerdem war er ein einfacher Hausmeister; was konnte so ein Mensch schon verdienen?

      »Was dann?«

      »Dann sorge ich dafür, dass Sie von meiner Zeitung ein angemessenes Honorar erhalten«, bluffte Jack. Mehr als fünfzig Pfund unterm Tisch würden es wohl nicht werden. Und mit denen wollte er ihn locken. Er holte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und zog einen roten Schein hervor. Wedelnd hielt er ihn Liberman vor die Nase.

      Der Mann schnaubte abfällig und sah zur Seite. Aber Jack merkte, dass es in seinem Hirn begonnen hatte, zu rattern. Das gute Engelchen lieferte sich gerade einen Kampf mit seinem bösen Pendant.

      »Was wollen Sie wissen?«, fragte er dann widerstrebend.

      Jack machte innerlich einen Freudensprung. »Wollen wir das nicht vielleicht in Ruhe besprechen? Kommen Sie, ich lade Sie auf einen Kaffee ein.«

      Liberman schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Ich habe zu arbeiten, wie Sie sehen.«

      »Dann gegen acht im Café Olé um die Ecke?« Jack hatte den Laden zufällig gesehen, als er zur St. Marys gefahren war.

      Nach kurzem Zögern willigte Liberman ein. »Na schön. Aber ich verspreche nichts.«

      »Gut, ok. Dann bis um acht.«

      Jack wollte ihm die Hand geben, doch der Mann ging einfach davon, um den Stecker wieder in die Dose zu stecken. Mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Vorfreude verließ Jack den Schulhof und ging wieder zu seinem Auto.

      III.

      Joseph Heir war kein wirklich guter Schüler. Seine Talente lagen eher in der ›Unterhaltung‹, so zumindest hatte es seine Klassenlehrerin einmal vorsichtig gegenüber seinen Eltern während eines Gesprächs ausgedrückt. In der Tat war Joey, wie er von allen genannt wurde, der Klassenclown. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gab er seine teils dummen, teils ironischen Kommentare ab; sehr zum Leidwesen seiner Lehrer und auch seiner Eltern, die deshalb regelmäßig in der Schule vorstellig werden durften.

      Doch der Klassenclown Joey hatte auch eine dunkle Seite. Und diese war es, durch die er sich dem Respekt und der Loyalität seiner Mitschüler gewiss sein konnte. In jedem Schuljahr suchte sich Joey ein ›Opfer‹; jemanden, an dem er seine ganzen Aggressionen und wechselhaften Launen auslassen konnte. Sein Opfer war der Garant dafür, dass er den anderen gegenüber als stets spitzzüngiger und gut gelaunter Klassenkasper auftreten konnte. Er war die Müllhalde und der Punchingball für Joeys schlechte Laune.

      Meist war es der physisch schwächste in der Klasse oder der größte Streber, der sich täglich den verbalen und körperlichen Drangsalierungen von Joey ausgesetzt sah. Und wehe, ein Mitschüler Joeys hätte Mitleid mit dem Opfer gehabt; er wäre Gefahr gelaufen, selbst das nächste Opfer zu werden. Außerdem machte es natürlich viel mehr Spaß, in der Stärke und Sicherheit einer Gemeinschaft das Opfer Joeys in seiner Qual, einer Verhaltensstudie gleichkommend, zu beobachten. Heute würde man so etwas Mobbing nennen, doch zu Joeys Schulzeit war das Wort noch eher unbekannt.

      Sein Opfer in diesem Jahr traf es besonders schlimm: Joey hatte sich ausgedacht, dass er ihm jede Woche nicht nur sein Taschengeld überlassen, sondern auch etwas im Supermarkt stehlen und ihm bringen musste.

      Der arme Junge, eingeschüchtert durch die Androhung und hin und wieder auch die Ausübung von Gewalt durch Joey, tat, wie ihm geheißen. Jede Woche gab er brav sein Taschengeld an Joey ab, der es wiederum für Zigaretten und Fußballbildchen ausgab, und brachte ihm auch die geforderten Dinge, meist Süßigkeiten, die er im nahe gelegenen Supermarkt gestohlen hatte.

      Ab und zu beobachtete Joey ihn natürlich beim Klauen, denn immerhin hätte der Junge auch die Waren brav bezahlen und ihm dann nur vorlügen können, er hätte sie gestohlen. Aber der Junge war ein Musterbeispiel von einem Opfer; Joey war sehr zufrieden mit ihm. Bis zu diesem einen Tag.

      Der Junge hatte im Supermarkt zwei Tafeln Schokolade und ein Päckchen Brausestäbchen in seiner Jackentasche verschwinden lassen; als ›Opfergabe‹ für Joey. Doch diesmal war er von einem Ladendetektiv erwischt worden. Und es kam, wie es kommen musste: Unter dem Druck, dem der Junge während seines Verhörs ausgesetzt wurde, brach er zusammen und damit auch seine auf Angst und Einschüchterung gebaute Mauer des Schweigens. Dahinter zum Vorschein kam Joey, der Klassenclown. Die dunkle Seite des schlecht erzogenen Kindes, die es recht gut vor den Erwachsenen versteckt hatte, war ins Rampenlicht gezerrt worden; von seinem Opfer.

      »Mister und Mrs Heir, es tut mir sehr leid«, sagte Direktor Groeber ernst. »Aber so etwas können wir nicht tolerieren. Darüber hinweg zu sehen, würde unsere Autorität gegenüber den anderen Schülern untergraben.«

      Francess Heir und ihr Mann David wechselten einen stummen Blick.

      »Das verstehen wir«, sagte David mit trockener Kehle. Ihm hing das Verhalten seines Sohnes schon lange zum Halse heraus, auch wenn er sehr gut wusste, dass es die mangelnde Zeit war, die er und seine Frau dem Kind widmeten, die ihn so hatten werden lassen.

      »Ich tue das wirklich nicht gerne«, versicherte der Schuldirektor. »Aber der Schulverweis ist notwendig, um ein Exempel zu statuieren. Ihr Sohn hat sich unglaubliches geleistet. Das darf kein Freifahrtschein für andere werden.«

      »Wie geht es dem Jungen?«, wollte Mrs Heir wissen. Sie stand kurz davor, zu weinen.

      Direktor Groeber atmete tief durch und schüttelte dann den Kopf. »Er hat einiges mitgemacht in den letzten Monaten. Aber er hat es tapfer ertragen. Ich denke nicht, dass er Spätfolgen davon tragen wird.«

      Francess Heir bekam große Augen. Spätfolgen. Das klang alles sehr schlimm. Was hatte Joey da nur angerichtet? Warum hatte sie nicht mehr auf ihn Acht gegeben? Mindestens ein Elterngespräch pro Halbjahr hätten ihr und ihrem Mann eine Warnung sein müssen.

      »Wir möchten uns auf jeden Fall auch bei seinen Eltern entschuldigen«, warf Mister Heir nun ein.

      Der Direktor verzog unzufrieden das Gesicht. »Das können Sie gerne versuchen, aber wir hatten seinen Vater kaum dazu bewegen können, hierher zu kommen. Er ist wohl ein viel beschäftigter Mann.«

      »Und seine Mutter?«, fragte Mrs Heir.

      »Sie ist gestorben. Er hat nur seinen Vater, soweit wir wissen.«

      »Armer Junge.« Francess Heir schüttelte den Kopf und sah betroffen zu Boden.

      Joey, der stumm auf dem Sofa in der Ecke des Direktorenzimmers saß, sah auf. ›Armer Junge‹; das war ein starkes Stück. Wer wurde denn gerade der Schule verwiesen? Wer würde sich denn Zuhause den Vorwürfen seiner Eltern und mit Sicherheit auch einer Tracht Prügel ausgesetzt sehen? »Armer Junge. Ich breche ihm das Genick! Das tue ich, jawohl!«

      Joey ballte seine Fäuste in seinem Schoss. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, sein Opfer zu drangsalieren. Vielleicht mit einem Tritt vors Schienbein oder einer Kopfwäsche in der Toilettenschüssel. Aber das ging nun nicht mehr. Der Klassenclown spürte, wie ihm die Fans den Rücken zukehrten. Es war ein äußerst mieses Gefühl. Als er aus seinen Gedanken auftauchte, gaben sich seine Eltern und der Direktor die Hand.

      »Ich