J.P. Conrad

Aufgefressen


Скачать книгу

Sohn!« Sein Vater sah Joseph fordernd an. »Wir haben noch einiges zu besprechen.«

      Die Heimfahrt wurde eine Abfolge von Vorwürfen, Beschimpfungen und Demütigungen für Joey. Noch nie war er derart bloßgestellt worden. Noch nie war er das Opfer gewesen. Was wohl seine Mitschüler jetzt über ihn dachten? Lachten sie sich ins Fäustchen? Es hätte ihm zwar egal sein können, da er sie nach dem Schulwechsel ohnehin kaum noch sehen würde. Aber das war es nicht. Wenn sie ihn nun verspotteten, was schon in seiner Vorstellung dem Schmerz tausender von Nadelstichen gleich kam, war das die Schuld des Jungen, war es die alleinige Schuld seines Opfers, das so jämmerlich versagt hatte.

      Die kommenden Tage waren für Joey geprägt von Hausarrest und recht kurzen Sätzen seiner Eltern, begleitet von vorwurfsvollen Blicken. Dass ihn mit seiner Vergangenheit keine andere Grundschule mit offenen Armen empfing, verbesserte ihre Laune auch nicht unbedingt.

      Nach knapp einer Woche endlich durfte Joey das erste Mal wieder auf die Straße. Nach dem Frühstück zog er hastig seine Schuhe und die Jacke an, nahm den Hund an die Leine und lief mit ihm aus der Wohnung. Es kam für ihn der Entlassung aus einem Gefängnis gleich, als er auf den Gehweg trat. Joey schloss die Augen und sog die frische Luft, die ihn empfing, tief ein. Die Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht.

      »Du bist pünktlich um fünf wieder da, verstanden?«, sagte seine Mutter durch das geöffnete Küchenfenster ihrer Wohnung, die im Hochparterre lag.

      »Ja, versprochen.« Er ging los, den Bürgersteig entlang, weg aus dem Blickfeld seines Elternhauses. Sein zotteliger Havaneser Rover zerrte an der Leine; er wollte zu der Grünfläche nach der nächsten Ecke.

      »Hey, nicht so schnell. Köter«, brüllte er den Hund an. Er hatte ihn bisher nie Köter genannt, denn eigentlich liebte er das Tier. Doch trotz der wieder gewonnenen Freiheit, des schönen Sommertags und der festen Zusage einer neuen Schule, war Joey nach wie vor wütend. Er hatte in den letzten zehn Tagen viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Vernünftige Kinder hätten vielleicht über ihre Taten gegrübelt und sich selbst Besserung gelobt. Nicht jedoch Joey. Er hatte nur eines im Sinn gehabt und auch nach wie vor im Sinn: Sich an seinem Opfer zu rächen. Die Aussicht darauf, es dem kleinen Bastard heimzuzahlen, hatte ihm die Zeit in seinem Zimmer, ohne Süßigkeiten und ohne die heimliche, tägliche Zigarette im Nachbarshof, erträglich gemacht.

      Joey wusste, wo der Hurensohn wohnte. Er hatte ihn einmal bis nach Hause verfolgt, einfach nur so. Es hatte ihm Spaß gemacht, zuzusehen, wie sich der Junge immer wieder angstvoll umgedreht hatte, wie seine Schritte immer schneller geworden waren.

      Er wohnte gar nicht so sehr weit weg von Joeys Elternhaus, gerade einmal zwanzig Minuten zu Fuß. Rover hatte inzwischen sein großes Geschäft erledigt und auch einige Hausecken und Straßenlaternen markiert und so konnte sich Joey nun auf sein Vorhaben konzentrieren.

      Vor dem Haus des Jungen angekommen, legte er sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, geduckt hinter einem Auto, auf die Lauer. Er würde gar nicht lange warten müssen, denn es war kurz nach Schulschluss. Nach knapp zehn Minuten kam dann auch der Junge die Straße entlang geschlurft. Sein lederner Schulranzen schleifte auf dem Boden.

      Joey grinste wie ein Honigkuchenpferd. Da war es, sein Opfer. Ahnungslos und schutzlos. Joey band schnell die Leine seines Hundes um ein Abflussrohr.

      »Du wartest hier, verstanden?«, flüsterte er ihm zu, wuschelte ihm über den lockigen Kopf und rannte dann los.

      »Hey!«, rief er, als der Junge bereits in der Hofeinfahrt war. Dieser fuhr herum und bekam sofort vor Entsetzen geweitete Augen.

      »Was willst du?«, fragte er angsterfüllt und ließ seine Schultasche gänzlich zu Boden sinken.

      Joey trat vom Gehweg in den Hof und schloss die alte Holztür des großen Tores hinter sich. Sein Blick erschreckte den kleinen Jungen mehr, als alles andere jemals zuvor in seinem Leben.

      IV.

      Das Café Olé war nicht sonderlich groß. Jack zählte gerade einmal sechs Tische, von denen zwei besetzt waren. An dem einen saßen drei Frauen, die sich ohne Punkt und Komma unterhielten; ganz sicher über Männer. An dem anderen hockte ein Yuppie und schlürfte einen Espresso, während er auf sein Smartphone starrte. Jack nahm direkt vor dem Panoramafenster, neben der Tür, Platz. Draußen dämmerte es bereits und er beobachtete einen Moment gedankenversunken die Menschen und Autos, die lautlos am Fenster vorbei flossen. Im Hintergrund lief das Radio und spielte gerade ›A hard days night‹ von den Beatles. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Liberman unpünktlich war.

       »Er wird mich doch nicht versetzen?«

      Jack bestellte sich einen Earl Grey mit Milch und checkte seine Mails auf dem Handy. Nach einer Weile wurde die Tür zum Café geöffnet. Es war Liberman, der in einen altmodischen Trenchcoat gekleidet eintrat. Er entdeckte Jack sofort und setzte sich stumm auf die Bank ihm gegenüber.

      »Schön, dass Sie es einrichten konnten«, begrüßte Jack den Mann. Er hatte sich vorab noch ein wenig im Netz über Liberman informiert: Demnach interessierte er sich für historische Gebäude, war Mitglied in einem Förderverein zur Erhaltung eines alten Jugendstil-Schwimmbades in Hounslow und er engagierte sich in der Kirchengemeinde. Jack schätzte ihn mit dem schütteren Haar auf Anfang vierzig; er konnte aber auch einfach älter wirken, als er tatsächlich war. Zumindest fand Jack, dass Liberman älter aussah, als er selbst. Nicht reifer, eher verlebter. Jack bemerkte den starken Nikotingeruch, den sein Gegenüber ausdünstete.

      Liberman verzog keine Miene. »Eigentlich weiß ich gar nicht, welcher Teufel mich geritten hat, hierher zu kommen«, brummte er und verschränkte die Finger seiner schwieligen Hände auf der Tischplatte.

      Jack grinste. »Der Teufel heißt Geld«, antwortete er knapp und schob ihm den Fünfziger flach unter seiner Hand über den Tisch zu. Liberman nahm ihn und ließ ihn schnell in seinem Mantel verschwinden, nicht ohne sich dabei hastig umzublicken. Aber in dem Lokal interessierte sich niemand für ihn; die Frauen quatschten und lachten und der Kerl mit dem Smartphone war auch völlig in seiner eigenen Welt.

      Jack hoffte, nicht zu voreilig gewesen zu sein; immerhin waren die fünfzig Pfund ein Vorschuss von einhundert Prozent auf etwas, von dem er noch gar nicht wusste, ob es ihm überhaupt was bringen würde.

      Die junge und freundliche Bedienung kam und Liberman bestellte bei ihr einen Irish Coffee.

      »Sie sind natürlich mein Gast«, sagte Jack.

      »Kommen Sie zum Punkt, okay? Ich bleibe nicht länger als für den einen Kaffee.«

      Jack nickte stumm, holte sein Diktiergerät aus der Innentasche seiner Jacke und legte es in die Mitte des Tisches. Liberman sah zuerst das Gerät und dann ihn nervös an.

      »Muss das sein?«

      »Ich kann meine eigene Schrift so schlecht lesen«, entschuldigte sich Jack schulterzuckend. Ihm war klar, dass das Ding eine größere Hemmschwelle für den Mann darstellte, als ein Notizblock. Aber Jack wollte sicher gehen, dass niemand später behaupten konnte, er hätte Liberman irgendwas in den Mund gelegt. Da dieser nicht weiter insistierte, drückte Jack den Aufnahmeknopf.

      »Wann haben Sie die Leichen entdeckt?«

      Liberman sah gedankenversunken aus dem Fenster. »Gestern früh. So gegen halb acht.«

      »Wann beginnen Sie normalerweise Ihren Dienst?«

      »Um sieben.«

      »Was war das erste, das Ihnen durch den Kopf ging, als Sie sie fanden?« Es war, was das Thema anging, eine eher ungewöhnliche Frage, aber Jack wollte ein wenig Psychologie ins Spiel bringen und Interesse und Anteilnahme am Seelenheil von Mister Liberman zeigen. Dieser fuhr sich langsam mit der Hand über Nase und Wange.

      »Ich war vor Entsetzen wie erstarrt. Ich dachte mir, das könne nicht sein.«

      »Das war sicher ein großer Schock für Sie. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte.«