Gloria Fröhlich

SINN FLUT


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sie eine Pfirsich-Muskatsuppe, Lachsfilet auf Fenchelgemüse mit Feta und Zitronengras gegessen hatten. Zum Dessert gab es Lassi. „Statt der Nelken hättest du auch Chili nehmen können“, wusste Iris, dass das schmeckt. Die Weinflasche war inzwischen leer, und sie hatten sich nach dem Essen ein Verveine gegönnt und genossen ihn vor dem riesigen Vorratsglas, in dem sich Unmengen Pinienfinger platzsparend aneinander drängten, die Lilli gestern nach einem neuen Rezept gebacken hatte. Lillis entschlossene Schritte ließen den Holzfußboden knarren, als sie wenig später die abgegessenen Teller in die Küche balancierte. Danach stand sie gedankenverloren da, bevor sie sich setzte. Sollte sie wirklich das Liebesgedicht umschreiben? Ihr nachdenklicher Blick durchbrach die Fensterscheibe und glitt über die regennassen Dächer. Die beiden Elstern waren nicht mehr da. Aber was sollte sie anstelle von Liebe, Sehnsucht, Romantik und tiefen Gefühlen schreiben? Vögeln, pimpern, poppen und bumsen? Aber was reimte sich denn darauf? Und sollte sie wirklich das Wort Scheiße benutzen, wollte sie das? Und „Der Scheiß?“ Was war das überhaupt? Und wer richtig doll Angst hatte, der hatte „Schiss“ in der Hose! Total berechtigt, wenn man ein Flugzeug besteigt. Da gibt es Tabletten, und dann ist der „Schiss“ wie weggeblasen! Verblasste die Erinnerung von Generation zu Generation mehr, dass es sich bei diesen, inzwischen zur normalen Sprache zählenden Begriffen, um Exkremente unangenehmen Geruches handelte? Und dachte niemand mal darüber nach, wieso das verbal zu einem „festen“ Begriff geworden war und keiner weichen Masse mehr glich, sondern der Ausdruck für schlechte, aber oftmals nicht einmal mieser Empfindungen war, die man locker oben rausdrückte? Schade, dass da nicht alle verstopft sind! Und wenn es hin und wieder doch jemanden trifft, dann ist der Zeitgeist das beste Abführmittel, der schafft das schon! Auf Scheiße reimte sich gerade noch Oder-Neiße oder Berliner Weiße! Und wie konnte jemand mit Glaubwürdigkeit rechnen, bei der Behauptung, dass er sich „beschissen“ fühlt, wenn er diese Demütigung noch nicht erlitten hat. Es gibt doch nur eine vage Vorstellung davon, was das eigentlich bedeutet! Da brauchen einem nur mal die landwirtschaftlichen Nutzflächen einzufallen, für die jedes Frühjahr so beginnt! Und das immer durch einen auf dem Trecker mit einer dicken Tonne im Schlepp, randvoll mit dunkelbrauner Gemeinheit. Immer großzügig rauf auf Mutter Erde! Oder ein junger Löwenzahn, dem es endlich gelungen war, die dicke Asphaltdecke zu durchstoßen und der sich begierig der Sonne entgegenstreckt, und dann kommt ein Hund! Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Und wer den Mund mit Fresse umschrieb, der war garantiert nicht verklemmt, sondern gebildet! Der kannte sich gut „in schlechte Sitten“ aus. Eine Fresserei war für ihn eine lästige Tischeinladung, da ging man nicht hin! Aber wo bleibt bei alledem die Romantik? Lilli fühlte sich gezwungen, darüber nachzudenken, was so dahergesagt wurde und hatte plötzlich eine Idee. Da gab es doch noch das Wort mit „f!“ Ihr war beigebracht worden, dass man das nicht sagte! Denn dieses “Tu“ Wort, man kann auch Zeitwort oder Verb sagen, war ein „ ganz schlechtes Wort!“ Und heute? Im Fernsehen der Renner an Ausdruckskraft nicht nur für die Ohren, auch für die Augen schon lange keine unanständige Darstellung mehr! Warum war das so? Sie ging zum Bücherregal und griff nach dem Neuen Wörterbuch der Deutschen Sprache von Lutz Mackensen, herausgegeben vom Südwest-Verlag, München. Sie blätterte und suchte nach einer ganz bestimmten Stelle. Dann las sie auf Seite 276 folgendes: Ficke w Kleidertasche, f/en ZW (-ckte, gefickt) hin- und herrutschen, beschlafen, prügeln, peitschen, einstecken. F/er m Taschenmacher, F/fack m Ausflucht, Winkelzug. f/facken ZW (-ckte, gefickfackt) Winkelzüge machen, Böses planen, planlos herumlaufen. F/facker m Ränkeschmied. F/fackerei w Betrügerei, Unsinn. F/mühle w Brettspiel, Zwickmühle. Lilli dachte an ihre wahnsinnig teure Handtasche und lächelte. Die einzelnen Begriffe wurden da ganz sachlich erörtert. Für Lilli ein Aha-Erlebnis! Von „schlecht“ war da nicht die Rede! Warum umschrieb man dann diese hin und herrutschende Tätigkeit, der doch in erster Linie der fortpflanzende Effekt und das natürliche Bedürfnis nach sexueller Befriedigung zugrunde lagen und ab und zu auch ohne gezielte Absichten ein Vergnügen sein konnte, mit solch einem Wortreichtum? Warum war die Bezeichnung des Hin- und Herrutschens in alter, deutscher Sprache nicht tauglich? War die Tat an sich das Übel und nicht wert, mit richtigem, sondern einem Pseudonym benannt zu werden? – Oder was war da los? Lilli überlegte. Sie konnte zum Beispiel schreiben, dass manche Männer prügelnde und peitschende Taschenmacher wären, die in jeder Tasche herumrutschten und das als Winkelzug betrachteten, bevor sie wieder Böses vorhatten, planlos herumliefen und die nächste Betrügerei begingen, um dann wieder in der Zwickmühle zu sitzen! Aber dann müsste sie das Wörterbuch mitliefern, denn ohne fundiertes Wissen in dieser Hinsicht, käme man der Tragikkomödie gar nicht auf die Spur! Sexuelle Befriedigung ist ein natürliches Bedürfnis, wie essen und trinken, sind fast alle einig. Beim Essen wird auch etwas hineingeschoben, gelutscht, und man lässt sich mit vollem Mund etwas auf der Zunge zergehen und hat dann auch den unverkennbaren Ausdruck des Genusses im Gesicht, wenn es gut schmeckt! Und man sagt, ich gehe essen oder ich möchte mit dir essen gehen. Und das finden dann alle nett! Bei der sexuellen Bedürfnisbefriedigung heißt das unter besonderen Umständen, Mann geht ins Bordell, wenn Mann nicht absolut fest liiert ist oder seine Beziehung vermurksen will. Nur das dazu kaum eingeladen wird. Da bezahlt jeder selbst. Da geht Mann auch schon lange nicht mehr heimlich hin und empfiehlt das auch weiter, wenn das Preis- Leistungsverhältnis gestimmt hat. Das soll den Prostituierten helfen, die Anerkennung ihrer Tätigkeit! Klar, ist ja Arbeit! Im Bordell kann Mann auch mal was Neues ausprobieren, ohne ein Schwein zu sein! Und bei der

      Nahrungsaufnahme? Da ist jeder eine arme Sau, der das nicht tut! Wer nicht probiert, der kann überhaupt nicht mitreden, der weiß nicht Bescheid! Wenn man sich da verbal genau so verhalten würde, wie beim Hin- und Herrutschen, dann hieße es: „Ich lade dich zum Gäumeln ein, es gibt Spaghettis, die kannst du in dich hineinflutschen lassen. Oder zum Mundeln mit viel Spucke und zum Bohren, Lecken mit der Zunge und in allen Winkeln nach Essenresten stöbern. Oder man würde fragen, kommst du mit zum Beißen, Kauen, Nagen, Schlecken und zum Lutschen, Nuckeln, Zermalmen und zum Nippen und das alles mit Sekret vermischen und runterschlucken und aus den Zahnlücken züngeln und zum Lutschfingersaugen als Dessert, hast du Lust?“ Klingt pervers, oder? Sollte man mal drüber nachdenken, warum das so ist! Lilli setzte sich jetzt an ihren Computer. Mit diesen neuen Informationen und Überlegungen im Kopf, wollte sie sich nun von sich überraschen lassen! Liebesleid! Unter einer Silberpappel, gab es neulich viel Gezappel. Er hat wie verrückt gebalzt und das Gras ganz flach gewalzt. Als sie lüstern Blicke tauschten und sich Unterröcke bauschten, grabschte er nach ihren Brüsten. Keuchend lag er über ihr, beide spürten ihre Gier! Als wenn ihre Schenkel wüssten, blieben sie nicht beieinander. Nein, nein, das will ich nicht, dachte Lilli, denn jetzt ging ihre sexuelle Fantasie mit ihr durch. In ihrem Kopf reimten sich in Sekundenschnelle unglaubliche Worte aneinander, die sie mit flinken Fingern tippte und sofort und entsetzt wieder löschte. Sie lehnte sich zurück! Fasziniert schaute sie auf den Bildschirm, nickte und fühlte zu ihrer Überraschung angenehm kribbelnd, tausend Unebenheiten in sich, die sie keinesfalls glätten, aber auch nicht für andere preisgeben wollte! Was da noch schwarz auf weiß stand und auch bleiben konnte, war ohne jede Anstrengung aus ihrem Kopf gesprudelt. Und sie hatte nicht einmal das gängige Wort fürs Hin- und Herrutschen, nicht einmal die diversen Decknamen dafür und auch nicht das Wort mit „Sch“ benutzt. Das, was sie gereimt hatte, das war von der anderen in ihr, der Naturbelassenen! Der Kamillentee war dottergelb. Er stand schon seit heute morgen da! Lilli goss warmes Wasser aus der Leitung dazu und trank in kleinen Schlucken. Sie lehnte sich zurück, war so angenehm mit sich selbst und überlegte. Die Zitterpappel! Ihre Blätter sind graugrün und zittern auch, wenn sich kein Lüftchen regt. Zu sehen sind dabei immer die Unterseiten, die mattsilbern leuchten! Welche Seite ist die bessere?„Gut erzogen und ein Rest Naturbelassen, es in ihr, das sind „meine“ beiden Seiten. Und dann dachte sie noch für Sekunden mit etwas Wehmut an die Reinheit ihrer Empfindungen, die sie wert gefunden hatte, aufzuschreiben und sie dachte daran, dass sie Schlüpfrigkeiten niemals zugelassen hatte. In dieser Nacht schlief Lilli unruhig aber nicht schlecht. Und am nächsten Tag fühlte sie sich gedankenehrlich und viel besser als sonst. In ihrer Gefühlswelt hatten wohltuende Veränderungen stattgefunden, die sie mehr und mehr freudig überraschten und etwas sehr Befreiendes hatten. Und wer übernahm dafür die Verantwortung? Natürlich – der Zeitgeist, der Zeitgeist war es! Er würde ihr in Zukunft ein gehöriges Maß an Empörung ersparen! In ihrem Kopf wisperte jetzt ein außergewöhnliches Geschehen, dass nach Niederschrift drängte, und sie schrieb: